Schwerpunkt

Nation wider Willen

Zur Geschichte der bosnischen Muslime

Ivan Glaser/Ernst Köhler

Bosnien-Herzegovina bleibt ein Staat, der durch drei Völker konstituiert wird, oder es ist als Staat nicht zu halten. Das Dayton-Abkommen hält die Entscheidung dieses Grundproblems von Bosnien-Herzegovinas mühsam - und womöglich nur scheinbar - in der Schwebe. Die Bosniacken (oder bosnischen Muslime) waren diesem Grundproblem gegenüber immer in der kniffligsten Situation. Gezwungen sich als Nationalität separat zu konstituieren, blieben sie zugleich immer auf den fragilen Zusammenhalt des Ganzen angewiesen: bis heute ein eminent widersprüchlicher Prozeß.

Während der letzten hundert Jahre sind in Bosnien fünf politische Regime aufeinandergefolgt: der österreichisch-ungarische Kolonialismus (1878-1918); das "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen", ab 1929 Königreich Jugoslawien genannt (1918-1941); die deutsche und italienische Besatzung inclusive dem "Unabhängigen Staat Kroatien", hierzulande als Ustascha-Staat bekannt (1941-1945); das sozialistische Jugoslawien (1945-1992), das sich übrigens bei seiner Formierung im Zweiten Weltkrieg vor allem auf den Partisanenkampf in Bosnien gestützt hatte; schließlich der neue unabhängige bosnische Staat (Aufnahme in die UNO Mai 1992), der freilich nie die Hoheit über sein Terrain erlangt hat. Wenn man die Spätphase des zerfallenden Osmanischen Reiches, die ja in die österreichisch-ungarische Okkupationszeit hineinragte, noch hinzunimmt, dann waren es sogar sechs Regime - eine geradezu traumatische Diskontinuität der Staatsbildung, welche die Entstehung und Festigung einer modernen, ihrer selbst bewußten "multikulturellen Gesellschaft" eigentlich ausschließt.

Spätestens seit 1878 (Okkupation Bosniens durch Österreich-Ungarn) geraten die bosnischen Muslime in eine prekäre Lage, und sie nimmt dann, im Zuge der politischen Umbrüche, immer wieder eine neue Form an.

Zunächst einmal sehen sich die bosnischen Muslime mit der Okkupation von 1878 in die (islamische) Diaspora versetzt.

Für die bosnischen Katholiken/Kroaten ist es gerade das Ende der Diaspora: sie haben nun die katholische Imperialmacht im Rücken - und in Kroatien und Dalmatien bildet sich in diesen Jahrzehnten der kroatische Nationalismus, an den sie sich anlehnen können. Überhaupt könnte man meinen, diese Bevölkerungsgruppe ziehe den größten Vorteil aus der neuen Situation. Denn die orthodoxen Christen/Serben andererseits erfahren die neuen Machtverhältnisse als einen schlimmen Rückschlag für ihre großserbischen Hoffnungen. Die Okkupation richtete sich ja auch tatsächlich weniger gegen das Osmanische Reich selbst als vielmehr gegen den jungen serbischen Nationalstaat und die von ihm beanspruchte Befreiungsmission.

Aber der Schein trügt. So kraß sind die Vorteile der einen und die Verluste der anderen gar nicht. Österreich-Ungarn handelt als eine Kolonialmacht, die auf Ausgleich und politische Stabilisierung hinarbeitet. Es gibt keine systematische Benachteiligung einer einzelnen Bevölkerungsgruppe - und was die Muslime betrifft, so finden sie sogar einen Rückhalt an der neuen Macht: zwar nicht politisch - denn das Regime versucht ganz allgemein Politisierungsprozesse zu unterdrücken und zu blockieren -, aber sozial und kulturell. Einmal verhindert Österreich-Ungarn für Jahrzehnte jeden Ansatz einer Landreform und sichert damit die Privilegien der muslimischen Großgrundbesitzerschicht. Und dann erfinden oder konstruieren die Kolonialherren in nahezu reibungsloser Zusammenarbeit mit der einheimischen muslimischen Intelligentsia ein neues Profil oder Selbstverständnis: das "Bosniakentum". Für die Machthaber war das eine Strategie der territorialen Absicherung - für die Muslime war es der Nucleus einer säkularisierten, gewissermaßen semi-ethnischen Identitätsbildung, ein erster Schritt also in die Moderne und in die Nation.

1918 kommt dann die Befreiung - in Gestalt des ersten jugoslawischen Staates. Es ist eine Befreiung, die vor allem den serbischen Emanzipationswillen, man kann auch sagen, den serbischen Hegemonieanspruch, durchsetzt. Als Österreich-Ungarn Bosnien okkupierte, hatte es seine Reconquista-Mentalität schon lange abgelegt. Wenn hingegen Serbien schon 1878 an Bosnien herangekommen wäre, hätte es dort wahrscheinlich eine große Vertreibung oder zumindest Verdrängung der Muslime gegeben. Konkrete Anhaltspunkte dafür sind: die erzwungenen Migrationsbewegungen in den 1878 von Serbien gewonnenen Gebieten im Süden Serbiens; dann die Massaker und Vertreibungsaktionen der serbischen Armee während des ersten Balkan-Krieges, ganz besonders im Kosovo.

Berücksichtigt man diese Vorgeschichte, dann fiel die Politik des neuen Staates gegenüber den bosnischen Muslimen noch zivil aus. Bei aller Nähe zur serbisch-orthodoxen Kirche war der Staat laizistisch und religiös-tolerant orientiert. Im Mittelpunkt des Staatsmythos stand zwar der Widerstands- und Befreiungskampf der Serben gegen die osmanischen Eroberer, aber die direkte Feindschaft gegenüber den Muslimen blieb bis zum Ausbruch des Krieges im Jahre 1941 doch weitgehend latent. Ein anderes Element der Staatsideologie kam den Muslimen sogar ausgesprochen entgegen: Anders als der zweite verstand sich der erste jugoslawische Staat nicht als Zusammenschluß mehrerer verwandter Völker, sondern als die politische Selbstfindung einer einigen Nation. Damit entfiel für die Muslime der Zwang, den Weg von der religiösen zur modern-politischen Identität weiterzugehen. Sie konnten bleiben, was sie waren oder was sie schon in der österreichisch-ungarischen Zeit geworden waren.

Sie sahen sich sogar wieder umworben. Belgrad wollte den neuen Staat nach seinem Bilde formen - gegen den wachsenden Widerstand vor allem in Kroatien, dessen Bauernpartei für ein föderatives System kämpfte. In diesem Machtkampf waren die bosnischen Muslime ein nützlicher Bündnispartner für die serbische Politik und ihr Projekt einer zentralistisch angelegten Staatsverfassung. Nur mit Zustimmung der Abgeordneten der muslimischen Partei JMO (Jugoslawische Muslimische Organisation), die in ihren Anfängen auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückgeht, war diese Verfassung in der Konstituante überhaupt durchzubringen. Es war ein Deal - die Gegenleistung bestand in der Schonung des Großgrundbesitzes in der anstehenden Agrarreform.

Avancen bekommen die bosnischen Muslime dann auch im Zweiten Weltkrieg: vom Ustascha-Regime und von den Deutschen. Das Pavelic-Regime erklärt die Muslime feierlich zur "Blüte des Kroatentums" - und sie wehren sich nicht dagegen. Mitten in Zagreb funktioniert man eine Kunsthalle in eine Moschee um - ein geradezu schrilles Spektakel. Einige muslimische Politiker erhalten sogar Ministerposten - die Partizipation an der realen Macht blieb den Muslimen dennoch verwehrt. Schützen konnten sie sich über diese taktische Annäherung an das kroatische Regime nicht. Sie zogen damit nur die serbische Gewalt auf sich. Zumindest in Ostbosnien war der kroatische Staat gar nicht stark genug, die Muslime gegen die mörderischen Angriffe der Tschetniks zu verteidigen.

Auch die Hinwendung zu den Deutschen erwies sich letztendlich als Falle. Als die Muslime sich aus Enttäuschung über die Ustascha schließlich zu den Deutschen zu retten suchen, ging der Krieg schon zu Ende. Schutz erlangen konnten sich auch hier nicht mehr - dafür aber zogen sie das Odium einer ebenso bedenkenlosen wie kurzsichtigen Kollaborationsbereitschaft auf sich.

Das neue Jugoslawien, wie es bereits 1943 in der mittelbosnischen Stadt Jajce ausgerufen worden war, hat in seinem Wappen zunächst fünf Fackeln für die fünf Völker der Serben, Kroaten, Slowenen (diese drei schon konstitutiv für das ältere Jugoslawien - damals freilich noch als die drei "Stämme" eines einzigen Volkes), Montenegriner und Mazedonier. Das war ein heraldisches Bekenntnis zum ethnischen Föderalismus sowjetischen Musters. Nur waren die bosnischen Muslime nicht dabei. Sollte das nicht eine Herausforderung dazu gewesen sein, endlich mit den anerkannten Völkern des Staates gleichzuziehen und die chronische Verspätung der nationalen Formierung zu überwinden? Jedenfalls bot das neue Jugoslawien weniger Raum für national Undefiniertes und Diffuses als das alte - oder, wenn man aus naheliegenden Gründen jenen pejorativen Beigeschmack vermeiden möchte: für weniger homogenisierte und vielleicht offenere und zivilere Lebensformen.

Ende der achtziger Jahre ändert die Partei ihre Haltung, und die bosnischen Muslime rücken in den Kreis der staatstragenden Nationen auf. Große öffentliche Auseinandersetzungen hatte es darüber im Vorfeld nicht gegeben - sie blieben ja überhaupt bis Ende der achtziger Jahre undenkbar. Die Partei weicht hier nicht etwa vor einem gesellschaftlichen Druck zurück. Es scheint eher eine Präventivmaßnahme zum Zwecke des Machterhaltes gewesen zu sein. Damals war gerade Aleksandar Rankovic - nach einem Jahrzehnt des rücksichtslosen Zentralismus - als Innenminister abgelöst und auch seiner Parteiämter entbunden worden. Es war dies ganz allgemein eine Zeit liberaler Reformen: in Kroatien, in Serbien, aber auch in den meisten anderen Republiken, das schwächere und blassere Gegenstück des Prager Frühlings in Jugoslawien. In diesem Kontext einer schon nicht mehr ganz kontrollierbaren politischen Dynamik scheint den bosnischen Muslimen - und übrigens auch den zur gleichen Zeit aufgewerteten Kosovo-Albanern - die Rolle einer neuen Machtressource zugemessen worden zu sein. Man gibt ihnen die Gleichberechtigung, und - so könnte man das Kalkül rekonstruieren - man bekommt dafür von ihnen Loyalität. Und so hat es auch tatsächlich funktioniert - im Kosovo bis 1981, in diesem Jahr kommt es dort zu einem Bruch zwischen Partei und Volksmassen; in Bosnien bis ganz zum Schluß, bis 1991, als die Führung der bosnischen Muslime dem Rumpfjugoslawien von Milosevic eine Absage erteilt.

Also immer wieder von einer fremden Macht benutzt und instrumentalisiert - ist das nicht der Grundzug in der politischen Geschichte der bosnischen Muslime seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts? Und gelegentlich nimmt diese Abhängigkeit und Fremdbestimmtheit dann verzweifelte oder tragische Formen an. Wie sie sich am Ende des Zweiten Weltkrieges zu den Deutschen flüchten, die den Krieg schon verloren haben, so klammern sich die Muslime in den achtziger Jahren an ein spätkommunistisches Regime, das politisch schon am Zerfallen ist. Und es geht noch weiter. In dem Film Bosna von Bernard-Henri Lévy gibt es eine enthüllende Szene: Alija Izetbegovic, der bosnische Präsident, wird dort gefragt, wie man auf die Aufdeckung der Armeepläne zur Eroberung Bosniens reagiert habe. Und Izetbegovic antwortet tatsächlich: man habe diese Erkenntnisse an Ante Markovic weitergeleitet - damals jugoslawischer Ministerpräsident und eine schon gänzlich machtlose Figur im jugoslawischen Szenarium.

Manchmal wird der Völkermord an den bosnischen Muslimen seit 1992 mit der Shoa verglichen - und zwar vor allem von Juden, die nicht solche Probleme mit der Singularität von Auschwitz haben wie viele nichtjüdische deutsche Intellektuelle. Vielleicht läßt sich der Vergleich sogar noch auf andere Aspekte in der Geschichte der bosnischen Muslime ausweiten. Da wäre einmal das zwiespältige, zwittrige Selbstverständnis dieser Muslime - oder besser: ihrer intellektuellen Eliten - zwischen Religion und Nation. Man löst sich vom Glauben und möchte ihn dennoch als Bestimmungsgrund kultureller Identität festhalten - eine Gratwanderung, die gerade in der sozialistischen Epoche schwierig, verquält, wenn nicht unmöglich war. Denn einerseits sieht sich der religiös-kulturelle Traditionszusammenhang in dieser historischen Phase gedrängt, in einen "normalen" Nationalismus zu mutieren. Und andererseits verpönt die Macht das religiöse Element, das zumindest für die muslimischen Massen in Bosnien immer noch den Kern ihrer Lebensorientierung ausmacht.

Die Lage der deutschen Juden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik war zwar eine ganz andere: Sie sahen sich keinem aggressiven Atheismus seitens der Staatsmacht ausgesetzt. Und man erwartete von ihnen auch nicht, daß sie sich in eine "richtige" Nation verwandelten. Ganz im Gegenteil: Sie waren einem penetranten und infamen Assimilationsdruck ausgeliefert (Zygmunt Bauman). Wenn sie sich nicht anpaßten, wenn sie sich verweigerten, waren sie weiter die alten, unverbesserlichen, unzivilisierten Ghetto-Juden. Wenn sie sich hingegen assimilierten, dann infiltrierten sie den deutschen Volkskörper und zersetzten ihn von innen. Was sie auch machten - es war falsch, es war schlecht. In dieser Situation wählten Teile der deutschen Juden - und darin mag eine gewisse Parallele zu den bosnischen Muslimen liegen - den Rückgriff auf ein sozial und familiär vermitteltes kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl - einen Zusammenhalt, der sich in diesem Fall freilich nicht mehr auf eine authentische Gläubigkeit stützen konnte.

Und noch eines: Die deutschen Juden haben sich bis zur physischen Selbstgefährdung an den Staat gehalten. In einem tragischen Mißverständnis der nationalsozialistischen Machtergreifung und ihrer Konsequenzen für sie selbst haben viele von ihnen die Gefährdung ihrer Existenz und ihres Lebens offenbar weiterhin von pogromartigen Verfolgungen klassischen Typs erwartet - und nicht vom Staat, von seinen Gesetzen und seiner Bürokratie. Man kann sich fragen, ob der unbeirrbare Jugoslawismus der bosnischen Muslime sich nicht einer ähnlichen Fehleinschätzung verdankt. Die bosnische Regierung setzt noch zu einem Zeitpunkt auf die jugoslawische Volksarmee, als sie selbst längst weiß, daß eben diese Armee mit plündernden, mordenden Milizen und Banden gemeinsame Sache macht.