Schwerpunkt

Neapel mit azurnem Blick

Eine dekadente Metropole blüht auf

Hans Rudolf Velten

Neapel galt lange schon als abgeschrieben und von der Landkarte entwicklungsfähiger europäischer Städte verschwunden. Der Nachlaß schien der Verwaltung der Camorra zur Ausbeutung übergeben. Doch mit den letzten Bürgermeisterwahlen kam Leben in die Stadt. Ein linkes Bündnis mit Antonio Bossalino hatte sich der Kandidatur Alessandra Mussolinis zu erwehren. Nach dem Wahlsieg mußte sich Bassolino etwas einfallen lassen. Mit bloßer Routine war nichts mehr zu gewinnen. Und in Neapel tut sich was.

Und wieder diese hellen Höfe,
die sonnendurchstrahlten Herzen
der Paläste, sie
rühren den Schauenden
mir ihrem ewigen, inneren Licht.
Hier siehst du Menschen. Ihre Farben
hallen wider vom fensterlichen Spiegel
des offenen Raums.

Neapel war schon immer eine extreme Stadt. "Hier ist alles mehr, Himmel und Hölle, Elysium und Tartarus sind hier erfunden", schrieb Goethe 1787. Der Superlativ scheint die allein mögliche Form der Benennung: von allen Metropolen des Kontinents ist Neapel die lärmendste, schmutzigste, dichtbesiedeltste, plebejischste (Pasolini), zivilisierteste (Elsa Morante), verbrecherischste (Allianz), geheimnisvollste, heidnischste, theatralischste und so fort. In dieser Widersprüchlichkeit der Extreme liegt zugleich eine hohe Wiedererkennbarkeit: Neapel ist wirklich zu jeder Zeit einzigartig, identifizierbar geblieben - hierin gleicht es Venedig, wenn auch ohne den ausgeprägten Leichengeruch. Für diese Identifizierbarkeit hat das literarische Neapel-Bild unzähliger berühmter Reisender von Montesquieu über Goethe, Dickens und Gorki bis Benjamin und Sartre gesorgt, aber auch die Selbstinszenierung tausender neapolitanischer Emigranten. Durch sie kennen wir die Stadt als Ort des immerwährenden Spektakels, als Bühne von Pulcinella und anderen kindischen Tröpfen, als Heimat der Oper, der Mandoline und der nostalgischen Volkslieder, der Spaghetti und der Pizza, als herrliche Stadt am Meer, Sinnbild der Pittoreske und des Dreisternepanoramas, der Lebenskunst und der überschäumenden Phantasie.

Diese wunderbar ernsthaft-kitschige Maske einer unverwechselbaren kulturellen Physiognomie wurde seit den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts zunehmend durch das Negativ-Zerrbild einer heruntergekommenen, skandalgeplagten, unbewohnbar gewordenen und ganz einfach zu meidenden Großstadt bereichert. "Eigentlich will ich in Neapel immer so kurz wie möglich bleiben. Ich habe dort nie etwas Vernünftiges zustandegebracht und mich immer mit allen gestritten. Eine einzige Depression. Abscheuliche Straßen, widerwärtige Leute, immer Mitleid oder Empörung, wer soll das aushalten. Ein Ort, der mir wirklich nichts sagt, der mir nichts geben kann... Und dann, na ja, eine der ältesten Städte Europas, und seit den Zeiten der Magna Graecia immer dieselben Regierungen, die wiederholen, daß Neapel noch nicht reif ist für... Während andere Hamburg und Hiroshima wieder aufbauen, hat man hier immer noch nicht begonnen, den Dreck des 13. Jahrhunderts von der Straße zu räumen...", so der Kritiker-Schriftsteller Alberto Arbasino (1963)1; nicht viel schmeichelhafter ist das Urteil des Schriftsteller-Kritikers Guido Ceronetti (1983): "Neapel ist einer der schlimmsten Orte Italiens."2

Alte Krankheiten

Seit der Einheit des Landes 1861 zählt Neapel zur Peripherie Italiens. Die alte Hauptstadt des bourbonischen Königreichs teilt mit dem Mezzogiorno die Problemkonstanten einer beinahe unaufholbaren wirtschaftlichen Rückständigkeit gegenüber dem immer weiter prosperierenden Norden, der ständigen Arbeitsknappheit, der endlosen Mißwirtschaft korrupter Verwaltungen und der immer falschen politischen Entscheidungen. Dazu kommen eine überhandnehmende Kriminalität (Drogenhandel der Camorra und seine Folgen), fehlende oder desolate Infrastrukturen, Umweltsünden wie die Verschmutzung des Golfes, eine unkontrollierte Bauspekulation und ein alles erstickender Verkehr.

Neapel wurde abhängig von den Zuwendungen des Zentralstaats und einem von politischen Gruppen (DC, PSI) manipulierten Markt, dessen Gelder in die Taschen der korrupten Eliten flossen. Ein Beispiel dafür ist das Projekt der "schnellen Straßenbahn", das zur Fußballweltmeisterschaft 1990 realisiert werden sollte, jedoch nie fertiggestellt wurde, obwohl Milliarden von Lire aus Rom überwiesen worden waren.3 In den letzten Jahren der Ersten Republik, die heute jedermann als beendet ansieht, schien der Niedergang sich noch zu beschleunigen; auch die letzten Besucher blieben nun weg - überflüssige Hotels dienten als Notquartiere für Erdbebenopfer, und das, obwohl in den fünfziger Jahren der Tourismus noch zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren gezählt hatte. Neapel - ein Nichtort, ein Alptraum, eine unbewohnbare Hölle.

Diese lange Periode des Niedergangs erreichte mit der Demaskierung der politischen Lokalgrößen Gava, De Lorenzo und Pomicino im Zuge von tangentopoli und der Entdeckung ihrer teils menschenverachtenden Bereicherungsverbrechen (Poggiolinis Geschäfte mit infizierten Blutkonserven) ein Ende. Mit ihrer anschließenden Entmachtung 1992-93 entstand ein politisches Vakuum, das den Grad des vorher herrschenden Klientelismus erst so richtig offenkundig machte. 1993 war die Stadt auf Grund ihrer horrenden Schuldenlast als erste in Italien auch noch zahlungsunfähig geworden.

Die Wende mit Bassolino

In dieser Situation mußten die Bürgermeisterwahlen vom Dezember 1993 eine Entscheidung bringen, wer die Stadt in Zukunft führen solle. Gegen die Duce-Enkelin Alessandra Mussolini, eine "postfaschistische" Mischung aus fürsorglicher Hausfrau und Pornostar wählten die Neapolitaner, am Ende doch mit klarer Mehrheit, den pragmatischen Kandidaten der Linken, Antonio Bassolino, zum neuen, mit größeren Machtbefugnissen ausgestatteten Bürgermeister.

Seitdem ist in Neapel nichts mehr wie es vorher war. Selbst die besten Kenner der Verhältnisse wundern sich und finden keine Worte der Erklärung. Es wird von Fortuna und Mirakel getuschelt. Innerhalb von zwei Jahren hat die Stadt sich so verändert wie in Jahrzehnten zuvor nicht, ihre Bewohner sind wie ausgetauscht, einer "Art Rausch" verfallen. Und es scheint so, als wenn Pasolinis große Verweigerer es sich plötzlich anders überlegt hätten: Vor einer roten Ampel hält man nun auch in Neapel!

So viel Anfang war nie: Vor ein paar Wochen war in einer Anzeige in der Zeitung zu lesen: Busfahrt nach Neapel übers Wochenende, "damit Sie sich vom Wandel dort selbst ein Bild machen können" (Il Manifesto, 5.12.95) Das Nachrichtenblatt L'Espresso bezeichnete die Stadt als "vitalste Metropole Italiens", die Times sprach gar von Revolution. Bassolino, Galionsfigur der neuen Zeit, hat internationale Anerkennung für seine Kommunalpolitik erhalten und reist zu Vorträgen nach London, Boston und Berkeley, um sein Projekt der "Restaurierung des urbanen Raums" vorzustellen. In Italien ist er heute der anerkannteste und beliebteste Bürgermeister, noch vor Rutelli aus Rom und Cacciari aus Venedig, in seiner eigenen Stadt wird er bereits wie ein Held gefeiert.

Was war passiert? Die Wahlsieger waren zunächst von der Notwendigkeit einer grundlegenden Erneuerung der kommunalen Politik überzeugt. Bassolinos Programm stützte sich auf zwei grundlegende Säulen:

1. Die Requalifizierung des öffentlichen Raums durch Sanierungs- und Restaurierungsmaßnahmen, um eine Verbesserung der Lebensqualität zu erreichen.

2. Die Transparentmachung und Demokratisierung des ehemals verfilzten und korrupten kommunalen Apparats und seiner Entscheidungen, also die Einhaltung bestehender Gesetze.

Die Administration stand nun vor der fast unlösbaren Aufgabe, ohne jeglichen finanziellen Spielraum die angestrebten Verwaltungs- und Sanierungsreformen durchzuführen. Fest stand zwar von Beginn an, keine Großprojekte und Monumente zu planen, sondern eine Politik der kleinen, aber nützlichen und sichtbaren Schritte zu verfolgen. An Ideen mangelte es freilich nicht, doch woher die Mittel nehmen? Alle wußten, daß die einmalige historische Chance, die der politische Umbruch in Italien gestattete, nicht vertan werden durfte.

Linke Rechtsstaatlichkeit und Rückkehr zur Normalität

Die ersten Maßnahmen hatten deshalb ausschließlich symbolischen Charakter. Allen Ernstes wurde ein Assessoramt für die "Rückkehr zur Normalität" geschaffen, das die gemeinsamen Anstrengungen koordinieren und dafür sorgen soll, daß der Bürger auch davon erfährt. Bassolino schöpfte die neue Macht des Bürgermeisters gegenüber dem kommunalen Verwaltungsapparat voll aus. Um dem Wahlversprechen der Transparenz gerecht zu werden, wurden Amtsleiter, die unter Korruptionsverdacht standen und in ein entsprechendes Verfahren verwickelt waren, entlassen. Ebenso ging es städtischen Angestellten wegen ständiger Abwesenheit vom Arbeitsplatz. Überall wurde auf die Einhaltung der "Regeln" geachtet: 500 Stadtbedienstete wurden kurzerhand zu Hilfspolizisten ernannt, um den Verkehr besser in den Griff zu bekommen und mit der Auflage, recht viele sichtbare Strafzettel zu verteilen und Falschparker abschleppen zu lassen. Alle anderen Verkehrspolizisten, Bus- und Straßenbahnfahrer wurden aufgefordert, auch an ihrem Arbeitsplatz zu sein. Diese strengen und sichtbaren Maßnahmen brachten der Giunta Bassolinos, wie man sich denken kann, auch von der rechten Opposition viel Anerkennung ein. Interessant dabei ist, daß die Beharrung auf dem Legalitätsprinzip in allen Bereichen ja kein klassisches Feld der Linken ist; doch war bereits seit einiger Zeit deutlich geworden, daß die heutige italienische Linke den Rechtsstaat und seine Gesetze - nicht nur aufgrund des inhärenten Gleichheitsprinzips - weit ernster nimmt als die Rechte.

Sodann wurden die seit Jahren geschlossenen oder verkommenen Parks und Gärten hergerichtet und dem Publikum wieder zugänglich gemacht, eine ökologisch motivierte Maßnahme, bei der Bassolino die einzige Resource der übernommenen Stadtverwaltung nutzte: die große Anzahl der städtischen Angestellten. Insgesamt siebzig von ihnen sind aus ihren Büros versetzt worden und heute mit der Instandhaltung, Pflege und Bewachung der Grünflächen beschäftigt. Andere überschüssige städtische Angestellte wurden als Museumswächter oder Wärter von ehemaligen Kirchen in städtischem Besitz eingesetzt. "Alles, ohne auch nur eine einzige Lira auszugeben", sagt Bassolino nicht ohne Stolz in einem Gespräch mit der Zeitschrift MicroMega.4

Ein glücklicher Umstand wollte es, daß der frühere Ministerpräsident Ciampi das Treffen der G 7 nach Neapel vergeben hatte. Die Vorbereitung und Organisation des Gipfels machte die neue Führung zur Chefsache, denn die von Rom bereitgestellte, relativ bescheidene Summe von zwanzig Milliarden Lire (ca. 18 Mio. DM) waren die einzigen flüssigen Mittel, die nun im Sinne erster Sanierungsmaßnahmen ausgegeben werden konnten. Es kam darauf an, jede Lira so effektiv wie nur möglich einzusetzen, Tatsachen von bleibendem Wert für die Stadt zu schaffen. Man entschied sich für die Restaurierung der Tagungsgebäude und zweier öffentlicher Plätze: Die Villa Comunale, ein verkommener Stadtpark entlang der Bucht, worin das berühmte Aquarium liegt, wurde wieder neu angelegt und bepflanzt, die auf ihrer Stadtseite gelegene Straße für den Autoverkehr geschlossen und zur Fußgängerzone erklärt. Unter den Augen aller ging die Sanierung der Piazza del Plebiscito vonstatten, ein großer Platz zwischen den umgreifenden klassizistischen Kolonnaden der Kirche San Francesco di Paola und dem Palazzo Reale. Dieser Platz im Herzen der Stadt hatte bisher als Endstation für Busse und Parkplatz gedient und war schlicht unzugänglich gewesen. Nun, völlig vom Kraftfahrzeugverkehr befreit, mußte der verölte Asphalt einer traditionellen Bepflasterung mit großen Steinquadern weichen. Ein schönes Beispiel für die Rückgewinnung urbanen Raums, für Fußgänger, Konzerte, Ausstellungen. Allen wurde klar: Hier waren mit geringen finanziellen Mitteln mehr nützliche Veränderungen geschaffen worden als mit den großartigen, niemals realisierten Projekten von Italia 90.

Der Gipfel wurde organisatorisch auch deshalb zum Erfolg, weil die ordnungspolitischen Anweisungen der Giunta vom Präfekten Improta, einem energischen und unbestechlichen Mann, der zum wichtigen Verbündeten Bassolinos wurde, in die Tat umgesetzt wurden. Die Fernsehbilder vom Golf gingen um die Welt, zum ersten Mal seit langer Zeit stand Neapel für drei Tage im Mittelpunkt des internationalen politischen Geschehens. Die Begeisterung der Gäste für die neapolitanische Gastfreundschaft und die der Neapolitaner für diese Anerkennung machten die Symbolwirkung des Ereignisses offenkundig. Der Gipfel und seine Begleiterscheinungen wurden, wie schon die ersten Maßnahmen der Verwaltung, als weiteres Zeichen des beginnenden Wandels politisch genutzt, um das in Jahrzehnten gebrochene Selbstbewußtsein der Neapolitaner wieder aufzubauen. Der Aufwertung des Selbst entsprach die Aufwertung des städtischen Raums. Durch ihre Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten hoffte Bassolino auch die Verantwortung für städtisches Gemeingut zu schärfen. Darin liegt das pädagogische Ziel begründet, daß die Bürger nicht mehr um favori bitten, sondern ihr gutes Recht einfordern sollen.

Der Bürgermeister legte deshalb von Anfang an Wert auf den Aufbau einer selbstbewußten Identität als Vorstufe zu einem bürgerlichen Gemeinsinn, den es im Süden nie gegeben hatte. Er brauchte das Klima einer allgemeinen politischen und bürgerlichen Mobilisierung, um für die eigentlichen Projekte soviel Konsens und Unterstützung wie möglich einzuholen, denn die größten Anstrengungen standen noch immer bevor. Doch der Anfang war gemacht.

Rückgewinnung von Lebensraum

Eine der Hauptaufgaben, die sich die neue Stadtverwaltung gestellt hatte, war die Sanierung und Restaurierung der Altstadt und von Teilen der Vorstädte. Darunter zählten die Wiederherstellung denkmalgeschützter Gebäude und Plätze, der Abriß später erstellter Gebäude (wie ein Hochhaus, das der ehemalige Bürgermeister und DC-Boss Lauro seinerzeit im Innenhof eines Klosters hat errichten lassen), die Sperrung von Teilen der Altstadt für den Verkehr, die Anlage von Grünflächen, die Sanierung von heruntergekommenen Sozialwohnungen. Aus anfänglichen Einzelprojekten wurde inzwischen ein kolossales urbanistisches Sanierungsprogramm, das die Wiederherstellung von über 1<%10>0<%0>000 Wohnungen und die Instandsetzung von Hunderten von historischen Gebäuden, Palazzi, Kirchen und Klöstern im Besitz der Stadt vorsieht. Bassolino hat umgerechnet 320 Millionen DM von Region und Staat erhalten, um das Projekt zu finanzieren (La Repubblica, 26.10.95). Der erste Teilabschnitt ist vor kurzem ausgeschrieben worden: Um die sonst üblichen appalti (Auftragsvergabe), die immer mit Schmiergeldern verbunden waren, und lange Wartezeiten zu vermeiden, wurden die circa 7.000 qualifizierten Architekten, die sich um die mehr als 600 Projekte beworben hatten, per öffentlicher Losziehung bestimmt. Nur mit diesem ungewöhnlichen Modus ließ sich völlige Transparenz durchsetzen.

Doch schon sind weitere Sanierungsschübe geplant; bevor man sie jedoch angehen kann, muß erst einmal festgestellt werden, welche Häuser und Grundstücke überhaupt der Stadt gehören, in welchem Zustand sie sind und wer sie zu welchen Bedingungen bewohnt. Das Katasteramt bot bei Bassolinos Amtsübernahme ein Bild des Schreckens: Seit Dekaden wurde hier nur unvollständig eingetragen, nur knapp die Hälfte der Mieter waren bekannt, Wohnungen wurden nach klientelistischen Prinzipien vergeben. Eine Privatfirma hat es nun übernommen, im Labyrinth der Altstadt dem unvorstellbaren Maß an illegalen Zuständen Herr zu werden. Mit den Ergebnissen der Erfassungsbemühungen kann die Stadt das Besitzrecht durchsetzen und anschließende ordnungspolitische Entscheidungen treffen. Nach anderthalbjähriger Arbeit sind die meisten der 4<%10>0<%0>000 städtischen Gebäude des Zentrums registriert, und man kann nun entscheiden, ob saniert, renoviert, verkauft oder neu vermietet wird. Ein totaler Abrißstop gehörte von Anfang an zu diesem Programm. Ein Teil der zu sanierenden Gebäude soll für soziale Aufgaben, dem Jugendamt und für touristische Eirichtungen zur Verfügung gestellt werden. Der Gefahr, die ärmeren Volksschichten aus der Altstadt zu verdrängen, ist sich die Stadtverwaltung bewußt. Denjenigen Mietern, die illegal gewohnt hatten, wird nun ein regulärer Mietvertrag zu fairen Bedingungen angeboten, meint der zuständige Assessor, Gerardo Marasca (Il Manifesto, 6.9.95). Schon haben sich über 3.000 Mieter freiwillig gemeldet, um angemessene Mieten zu zahlen. Für eine große Villa mit Meeresblick in Mergellina beispielsweise bezahlt der Presseclub jetzt 30 Millionen Lire monatlich, nachdem er sie jahrelang für 129.000 (ca. 110 DM) bekommen hatte. Die monatlichen Mieteinkünfte der Stadt Neapel haben sich so von 3 auf 40 Milliarden Lire erhöht, alles Geld, mit dem die Instandsetzung der maroden Gebäude veranlaßt werden soll.

Eine der ersten Handlungen Bassolinos war die sofortige Kontrolle und Überwachung aller städtischen Freiflächen, um weitere illegale Bautätigkeit zu verhindern. Auf dem Posillipo wird ein kleinerer archäologischer Park geschaffen werden, im Westen der Stadt soll ein ganzer Grüngürtel mit Freizeit- und Sporteinrichtungen entstehen, der erste richtige Park der Stadt. Dafür wurde bereits die Krypta Neapolitana, ein aus römischer Zeit stammender, seit langem zugemauerter Felsdurchgang zwischen Piedigrotta und Fuorigrotta restauriert, der die zwei Teile des Parks verbinden soll. In der Krypta befindet sich auch das Grabmal Vergils, das als Museum hergerichtet werden wird (Il Mattino, 8.9.95).

Doch das kühnste Projekt von Bassolinos Stadtregierung ist die Umwandlung der in der westlichen Bucht gelegenen riesigen Industriefläche Bagnoli in einen ökologisch geschützten Stadtpark mit touristischen Einrichtungen, Wohnungen und einem Dienstleistungszentrum. Seit den zwanziger Jahren standen hier Zement- und Stahlfabriken, doch noch in der Nachkriegszeit galt der Strand von Bagnoli als der schönste städtische Badestrand mit dem klarsten Wasser. Mit dem Ausbau der Stahlindustrie, wo zu Hochzeiten über 12.000 Arbeiter beschäftigt waren, verwandelte sich Bagnoli dann aber in eine Industriekloake voller Teer, Kohlenstaub, Eisen- und Stickoxiden mit Werten, die 25fach über den zulässigen Normen lagen (L'Espresso, 28.4.95). Der Abbau der schon seit Jahren unrentabel gewordenen und geschlossenen Stahlhütte des Italsider ist bereits im Gange; nach der Reinigung der verseuchten Böden, für die bereits 260 Milliarden Lire bereitgestellt wurden, sollen innerhalb von fünf Jahren auf der 750 Hektar großen Fläche zu Füßen des Posillipo-Hotels, Freizeitanlagen, ein Kongreßzentrum, ein Forschungszentrum, 100 Hektar Park, 60 Hektar Gärten, 9.000 Wohnungen, Schulen und Kindergärten mit Anbindung an die U-Bahnlinie sowie eine Fußgängerpromenade entstehen. Für die Finanzierung haben bereits norditalienische Finanziers, unter ihnen Agnelli, wie auch nordamerikanische Investoren ihre Beteiligung zugesagt (La Repubblica, 20.8.95). Das Projekt ist das Herzstück der urbanistischen Planung des Stadtrats: Es soll den Bürgern zerstörten Lebensraum und die Bucht mit dem klarsten Wasser zurückgeben, wie auch Aushängeschild für einen künftigen internationalen Tourismus werden, damit man wieder von "der wunderbarsten Gegend der Welt" (Goethe) sprechen kann. Jeder, der Neapel kennt, weiß, daß man bis vor kurzem von so etwas bestenfalls träumen konnte.

Verkehrspolitik

Entscheidende Neuerungen gibt es auch in der Verkehrspolitik. Gemäß den Grundsätzen der ökologisch orientierten Verkehrsberuhigung durch die Schaffung von Fußgängerzonen und -inseln im Zentrum und der Verstärkung des öffentlichen Nahverkehrs hat die Stadtverwaltung zu handeln begonnen: Der zwanzig Jahre lang stockende Ausbau des U-Bahnsystems, der durch Schmiergeldforderungen und den dadurch entstehenden riesigen Geldbedarf immer wieder verzögert wurde, sieht seiner Fertigstellung entgegen. Für die Metrolinie zwischen Bahnhof und Hafen sowie für drei neue Straßenbahnlinien will die Stadt insgesamt 1100 Milliarden Lire investieren; der Vorrang der Schiene zeigt sich auch im Beschluß der Anbindung Neapels an das italienische Hochgeschwindigkeitsnetz. Da langfristig die gesamte Altstadt für den Autoverkehr geschlossen werden soll - zum Ausgleich sind 50 Minibusse bestellt worden - bemühen sich die Planer schon jetzt um Alternativen, die den Bürgern die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel erleichtern. Unter dem Titel GiraNapoli werden für Busse, Straßenbahnen, Metro und Seilbahnen preiswerte Monats- und Tageskarten angeboten, Sozialhilfeempfänger und Behinderte fahren kostenlos. Der Erfolg des neuen Tickets, das auch eingeführt wurde, um die hohe Zahl der Schwarzfahrer (ca. zwei Drittel) herunterzudrücken, läßt sich sehen: In den ersten drei Monaten von GiraNapoli wurden 85 Prozent Zuwachs verzeichnet (Il Manifesto, 25.4.95).

Doch die Verkehrsprobleme Neapels werden sich so schnell nicht lösen lassen; Bassolino hat deshalb die Zusammenarbeit mit dem Umlandverband und der Region angestrebt, um übergreifende Reformen einzuleiten. Die Abstimmung mit den anderen Kommunen des Einzugsgebiets ist auch in anderen Bereichen sinnvoll, etwa bei der Bekämpfung der Camorra, bei der Wasserversorgung, Müllbeseitigung und -verwertung. Darin liegt auch politisches Kalkül. Schon hat sich das Bassolino-Fieber auf die umliegenden Vorstädte ausgebreitet. Bereits über 70 Prozent der Gemeinden in der Provinz Neapel werden von Bürgermeistern der Linken regiert. Bei Nachwahlen im Dezember hat nun auch in Torre Annunziata, ehemaliger DC-Hochburg, eine Mitte-links-Koalition die Mehrheit errungen.

Kulturelle Vielfalt

Was Volkskultur und Avantgarde angeht, war Neapel schon immer eine Hauptstadt. Doch spielte sich Kultur zunehmend weniger öffentlich ab, jeder lebte zurückgezogen in seiner Nische. Das Istituto per gli Studi Filosofici, einzigartig in seiner Form im Land, kennen nur ganz wenige Neapolitaner, wie auch die immer neuen Theatergruppen, Filmregisseure, Künstler und Musikgruppen eher im Verborgenen gelebt und gearbeitet haben. Große Aufmerksamkeit hat die Szene und das kreative Potential der Metropole erst mit der herausgehobenen Stellung, die Bassolino kulturellen Aktivitäten beigemessen hat, um seine Stadt wieder lebendiger und lebenswerter zu machen, erfahren.

Eine der ersten, publicityträchtigen Aktionen war das sogenannte Wochenende Napoli Porte Aperte vom 7. bis 9. Mai 1994, das von der Fondazione Napoli Novantanove zusammen mit der Stadt und dem staatlichen Oberamt für Altertum und Kunst ins Leben gerufen wurde. 220 Baudenkmäler, die seit Jahren geschlossen waren, konnten durch die Initiative von Studenten und anderen Freiwilligen besichtigt werden. Die Via Tribunali, Längsachse der griechischen Polis (Neapels Altstadt hat heute noch den griechischen Grundriß), mit all ihren Kirchen, archäologischen Ausgrabungen (römische Marktstraßen und griechische Zisterne unter der gotischen Kirche S. Lorenzo), Klöstern und Palästen, sogar Künstlerateliers lockten Hunderttausende Besucher an. Eine ganze Stadt war auf den Beinen, um sich von ihrem kulturellen Erbe zu überzeugen. Es wurden mehrere Epochen-Wege in der Altstadt ausgeschildert: das antike, das mittelalterliche, das Renaissance- und das barocke Neapel. Der Erfolg war so durchschlagend, daß viele Sehenswürdigkeiten auch im Sommer über geöffnet blieben. Man plante daraufhin die Institutionalisierung der Aktion, indem man sie auf den ganzen Monat Mai ausdehnte (Maggio dei Monumenti, 1995 eine Million Besucher). Überhaupt soll die Stadt für den Tourismus wieder attraktiv gemacht werden. Der konsequenten kulturellen Aufwertung entspricht es, wenn Bassolino die Aufnahme der Altstadt Neapels in das Weltkulturerbe der UNESCO beantragt und kürzlich die Zusage dafür erhalten hat; amerikanische und englische Kulturförderungsinstitute hatten dies zur Voraussetzung gemacht, damit sie sich am Restaurierungsplan beteiligen.

Über Internet kann man sich in der Guida Ipertestuale di Napoli bereits im voraus mit der Topographie Neapels vertraut machen (Il Giornale di Napoli, 22.4.95). Schon wurde ein telefono verde für neugierige, ratsuchende, verirrte oder geschädigte Touristen eingerichtet, wobei Helfer in vier Sprachen am Werk sind. Die ausländischen Besucher bemängelten vor allem fehlende Toiletten im Zentrum - schon ließ die Stadtverwaltung sie aufstellen. Insgesamt war 1994 ein starker touristischer Anstieg zu verzeichnen, der 1995 wiederum deutlich übertroffen werden wird; allein im August besuchten 110.000 Menschen die Stadt. Man kann heute wieder nach Neapel reisen, findet Hotels aller Preisklassen, touristische Einrichtungen, Führungen und kulturelle Veranstaltungen vor. Und vielleicht das Wichtigste: Selbst die Überfälle auf Touristen haben sich deutlich reduziert.

Ein weiterer großer Erfolg gelang Bassolino mit der Abwerbung des bekannten Kulturassessors Renato Nicolini aus Rom nach Neapel. Dieser rief das alte Volksmusik-Festival von Piedigrotta wieder ins Leben, wobei nicht nur traditionellem neapolitanischen Liedgut, sondern auch Rock-, Rap- (99 Posse) und Ethno-Gruppen (Alma Megretta) Raum gegeben wurde. Theateraufführungen, Vorführungen von Filmen junger Talente (Martone, Corsicato, Capuano) und eine große Ausstellung begleiteten das Festival. Nicolini hat auch schon mehrere Sommerkonzerte auf den restaurierten Plätzen organisiert, fördert die Aufführungen freier Theatergruppen und Austellungen von Künstlern und Kunsthandwerkern.

Doch auch unabhängig von den kommunalen Initiativen hat ein allgemeiner kultureller Aufschwung die Stadt erfaßt: Das Nachtleben hat sich mit der Eröffnung neuer Bars und Nachtclubs wieder etabliert. Von der Angst vor Verbrechen befreit, scheint die Atmosphäre der Bedrückung, wenn auch nicht in allen Vierteln, zu schwinden. Die Galeristen sind in in eines der heruntergekommensten, aber schönsten quartiere, die Sanità umgezogen (L'Espresso, 24.3.95), der erste Frauenbuchladen südlich von Rom ist eröffnet worden, Lesecafés sind in den Fußgängerzonen entstanden, im Castel Nuovo wird Henry Moore ausgestellt, das Museum von Capodimonte hat seine Austellungsräume wieder geöffnet, und in der näheren Umgebung, in Cuma und Baia, kann man jetzt wieder die antiken Ausgrabungen besichtigen.

Symbol des neuen kulturellen Bewußtseins war jedoch ein historisches Ereignis. Am 25. April, dem Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, wurden im Renaissance-Palazzo Serra di Cassano, dem heutigen Sitz des Istituto per gli Studi Filosofici, das Haupttor, die Porta dei Martiri, geöffnet. Sie war fast 200 Jahre lang im Gedenken an die Revolution von 1799 geschlossen gewesen. Damals war die Blüte der aufgeklärten neapolitanischen Intellektuellen, über 2000 bürgerliche Demokraten und Liberale, die sechs Monate lang die Republik Neapel verteidigt hatten, der Allianz aus monarchischer Armee, Kirche und Volk zum Opfer gefallen und hingerichtet worden. Croce hatte später das Scheitern der bürgerlichen Revolution in Neapel als den Anfang des risorgimento bezeichnet. Die Wiedereröffnung führte so mehrere Fäden italienischer und neapolitanischer demokratischer Traditionen zusammen, die vor aller Augen Pate standen für das neue, rechtsstaatliche und aufgeklärte Neapel Bassolinos.

Eine Fülle von Problemen bleibt noch zu lösen, weitere kommen täglich hinzu, Dutzende von Projekten liegen noch in der Schublade. Bassolino spricht von der Möglichkeit, Manager in die Stadtverwaltung zu holen, die völlige Kontrolle über die Bauspekulation zu verwirklichen, die Ansiedlung von kleinen und mittleren Industrie- und Handwerksbetrieben im Osten der Stadt und die weitere Sanierung der Elendquartiere in der Peripherie in Angriff zu nehmen.

Wenn man sich jedoch die unglaubliche Erfolgsgeschichte Bassolinos vergegenwärtigt, die er auch der Fähigkeit verdankt, Konsens zu stiften und so verschiedene Gruppen wie Gewerkschaften, den WWF, Privatunternehmer und Freischaffende für seine Projekte zu begeistern, könnte die Stadt am Golf doch auf dem besten Wege sein, nicht nur die extremste und interessanteste, sondern auch wieder die schönste Stadt Italiens zu werden.

1 Aus: A. Arbasino, I fratelli d'Italia. Torino, Einaudi 1976. Übersetzung von Andreas F. Müller, zit. aus Neapel, "Da fiel kein Traum herab...da fiel mir Leben zu", hrsg. von Fabrizia Ramondino und A. F. Müller, Arche, Zürich 1988.

2 Guido Ceronetti, Un viaggio in Italia, Torino, Einaudi 1983.

3 Vgl. Paolo Macry, "Alla ricerca della normalità", in: MicroMega 4/94, S. 153-59.

4 "Un cantiere di civiltà", conversazione con Antonio Bassolino, in: MicroMega 4/94, S. 117-122.