Nigeria - ein Pulverfaß

Angelika Burkhard

Nigeria ist nicht nur einer der größten, sondern auch einer der zerrissensten Staaten Afrikas. Gegenwärtig wird er nur mit Gewalt und Terror zusammengehalten. Unsere Autorin hat verschiedene Regionen des Landes besucht.

Interview mit Wole Soyinka

Reisebericht

Wie immer, Ende Februar, hängt der Harmattan mit seinem feinen Sandstaub schwer in der Luft. Der kalte Wind aus der Sahara drückt auf die Lunge und reizt die Schleimhäute, Husten und hartnäckiger Schnupfen sind die Begleiter in dieser Zeit. Häuser und Straßen sind mit einer dünnen Staubschicht bedeckt, und die Sicht ist getrübt. Die roten Lehmreste der einstigen Stadtmauer Kanos und der mächtige Emir-Palast liegen so manche Tage im Zwielicht. Alhaji Ado Bayero residiert in einer Stadt in der Stadt: Verwandte und Hofschranzen, Günstlinge und Beamte leben an seinem Hof, sind wie er abgeschirmt durch kilometerlange Mauern und Tore, an denen Wächter den Normalsterblichen den Eintritt verwehren. Soviel Extravaganz und Prunk scheint keine Provokation für Tausende von Altstadtbewohner in unmittelbarer Nachbarschaft. Im Gegenteil, sie zeigen sich geehrt durch die Nähe ihres Emirs. Vielleicht ist es der Dunstkreis seiner Macht, der sie den Gestank in den engen Gassen ihrer Viertels vergessen macht. Denn eigentlich wird, sobald man durch eines der Stadttore die Altstadt betritt, der Fäkaliengeruch aus den flachen Abwasserrinnen unerträglich. In ihrem Viertel spielt das Leben auf den Straßen. Die Menschen sitzen neben den Abwasserkanälen zwischen halb im Sand verscharrten Plastiktüten, um sie herum die im Unrat nach Nahrhaftem suchenden Ziegen und Hühner, kochen und rösten auf Holzkohlefeuern, schwatzen und debattieren. Je mehr man sich dem Zentrum der Altstadt zuwendet, desto mehr wird sie zum großen, schmutzigen Markt. Überall wird gehandelt und geschachert. Es gibt alles zu kaufen: vom importierten Kühlschrank und Fernseher, über billigen Krimskrams aus China, Lebensmittelkonserven aus Europa, Handwerk aus der Stadt, bis zu Federvieh und Ziegen. In der Nähe der Verkaufsstände verdichtet sich der Geruch nach Fäulnis und Verfall, nach menschlichem Urin und Kot aufs neue. Die brütende Hitze dieser Jahreszeit - es sind fast 40 Grad - bringt die Gerüche so richtig zur Entfaltung und Krankheiten zum Ausbruch. Jährlich sterben um diese Zeit Tausende Menschen an Gehirnhautentzündung, im letzten Jahr waren es über 15.000 in wenigen Wochen.

Kano liegt im Norden Nigerias, ungefähr auf halber Strecke zwischen der rund 200 Jahre alten Reichshauptstadt Sokoto im Nordwesten und der von den Engländern Anfang des Jahrhunderts als Militärstützpunkt gegründeten Stadt Maiduguri im äußersten Nordosten. Zwischen den nördlichen und den südlichen Regionen des Landes liegen über 1000 Kilometer, zwischen Sokoto und Maiduguri sind es fast genauso viele. Der Norden ist muslimisch geprägt. Savanne, zum Teil kahlgeschlagene, versteppte Landschaften sind hier vorherrschend, während der Süden feucht-tropisches Klima, Wälder, Lagunen und Meer hat und die Menschen größtenteils christlichen oder afrikanischen Glaubensrichtungen angehören. Ohne den Norden ginge politisch nichts, witzelt man gerne in Nigeria. Die Militärs in Lagos hätten ihren direkten Draht nach Kaduna und dort würde jeder neue Putsch ausgeheckt. Die Stadt Kaduna gilt als das politische Zentrum des Nordens und liegt etwas mehr als 200 Kilometer südlich von Kano. In Kaduna residieren die politischen Eliten, die sogenannten Hardliner des Nordens. In der ehemaligen englischen Garnisonsstadt sitzen auch die wichtigsten Militärschulen und die Luftwaffe Nigerias. Dort wurde der jetzige Militärmachthaber General Sani Abacha ausgebildet, ebenso sein Vorgänger Ibrahim Babangida. Das Militär hat in Nigeria seit der Unabhängigkeit 1960 bereits sieben Mal die Macht an sich gerissen und bei Interessenskonflikten zwischen den drei Großregionen des Landes in den letzten zwanzig Jahren immer dem Norden die Regierungsgewalt verschafft.

Seit der Unabhängigkeit schwelt der Konflikt zwischen den Hausa/Fulani im Norden, den Yoruba im Südwesten und den Ibo im Osten. Die drei größten Volksgruppen streiten sich um politische Einflußbereiche, aber auch um wirtschaftliche Pfründe wie die Ölfelder im Osten des Landes. Der dreijährige Biafra-Krieg, Ende der sechziger Jahre, war der traurige Höhepunkt dieses Konflikts. General Ojukwu, der damals die Unabhängigkeit der Ibo-Provinz ausrief und sie Biafra nannte, macht heute wieder Politik für den Osten und will bei den Präsidentschaftswahlen 1998 kandidieren. Schätzungsweise 500.000 Tote und 1,5 Millionen Flüchtlinge waren die Folge des Bürgerkriegs. Vorausgegangen waren Pogrome an Ibo-Minderheiten im Norden Nigerias. Den christlichen Ibo war durch die Missionierung früh westliche Schulbildung vermittelt worden, so daß sie nach der Unabhängigkeit in der Verwaltung der neuen Regierung dominierten, oder in den großen ausländischen Firmen qualifizierte Arbeit erhielten. Die aus dem Norden fielen aus dieser Postenverteilung vorerst heraus, da sie sich der europäischen Schulbildung verschlossen hatten. Sie blieben vornehmlich auf ihre traditionellen Verwaltungsapparate konzentriert, oder eben auf das Militär (ebenfalls ein Erbstück aus der Kolonialzeit).

Viele Städte des Nordens haben eine alte Geschichte. Kano, das heute auf zwei bis vier Millionen Einwohner geschätzt wird, ist eine Gründung aus dem 9. Jahrhundert. Etwa zur gleichen Zeit begannen auch die Hausa-Herrscher zum Islam überzutreten. Sie waren es auch, die das alte Handelszentrum am Kreuzpunkt verschiedener Sahara-Karawanen zur reichen und prächtigen Stadt ausbauten. Handelsware war neben Stoffen, Leder, Handwerk, Getreide, Gold, Gewürzen und Salz auch der Mensch. Die Hälfte der Bevölkerung der Stadt bestand im 19. Jahrhundert aus Sklaven, notierte der deutsche Afrikaforscher Heinrich Barth in seinen Reisetagebüchern. Die britischen Kolonialbehörden verboten erst 1926 die Sklaverei in dieser Region. Im Westen und Süden, um Städte wie Lagos und Port Harcourt, war dies bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts geschehen. Überhaupt zeigten sich die Engländer im Nordteil ihrer Kolonie sehr zurückhaltend: Sie verboten die christliche Missionierung und sicherten sich somit einige kooperationswillige Emire, mit deren Hilfe sie den riesigen Norden unter Kontrolle hielten, auch nachdem sie 1914 das Nord- und Südprotektorat zur "Colony and Protectorate of Nigeria- zusammengeschlossen hatten.

Bis heute konnten sich die Emire ihre Einflußbereiche erhalten. Wenn sie auch nicht mehr die reichsten und einflußreichsten Männer sind und offiziell keine politische Macht mehr besitzen, haben sie doch die entscheidende Autorität über die Bevölkerung, auch über die machtvolle und weit verzweigte Händler-Dynastie der Städte. Sie ist seit Generationen in zwei großen Muslim-Bruderschaften organisiert, und sie beherrscht die Altstadt Kanos. Christen oder muslimische Zuwanderer aus dem Umland können hier nicht Fuß fassen. Islamische Reformbewegungen versuchen, die Macht der Bruderschaften zu brechen und den Zuwanderern mehr Einfluß zu verschaffen. Konflikte hat es deshalb in den letzten Jahren immer wieder gegeben. Die Militärregierung stützt die loyalen Emire, enthebt aber auch unliebsam gewordene Würdenträger ihres Amtes, wie jüngst in Sokoto geschehen. Um die Emire bei Laune zu halten, finanziert ihnen der Staat die kostspielige Fassade ihrer traditionellen Autorität.

Der Islam sei mehr als eine Religion, sei eine Art und Weise zu leben, erklärt die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Zaynab Alkali bei einem Gespräch in Maiduguri. Das Weltliche und das Geistliche sei hier ganz anders im Einklang als in anderen Landesteilen, wo Christianisierung und Modernisierung die Menschen viel mehr individualisiert hätten. Nur mit Feingefühl könne man im Norden Veränderungen erwirken. Obwohl die Universitätsprofessorin für die Gleichberechtigung der Frau eintritt und die autoritäre Männergesellschaft des Nordens kritisiert, ist sie gegen radikale - für sie westlich-feministische - Lösungen. "Das würde bedeuten, daß du dich außerhalb der Gesellschaft stellst, und von dort kannst du nichts verändern-, sagt sie. Sie plädiert für Ausgleich und Kompromißbereitschaft und erzählt augenzwinkernd, daß man sich als Frau mitunter etwas dümmer stellen müsse, als man sei, damit die Männer ihren Frieden behielten.

Um Ausgleich sorgen sich, die Reichen und Einflußreichen Nigerias freilich wenig. Sie tragen ihren Reichtum hemmungslos zur Schau und gebärden sich dabei nicht selten als aggressive Traditionalisten. Von Maiduguris Reichtum zeugen die zahlreichen protzigen und festungsgleichen Villen mit hauseigenen Moscheen. Die ungefähr 80<%10>0<%0>000 Einwohner zählende gesichtslose, staubig-heiße Stadt ist noch relativ jung. Sie war Anfang des Jahrhunderts englische Grenzbastion zu Kamerun und Tschad und hat heute den Ruf, die Schmugglerzentrale des Nordens zu sein. Prozentual zur Bevölkerungszahl gesehen soll Maiduguri unter den Städten Nigerias den höchsten Anteil an Millionären aufweisen. Es wird gemunkelt, daß von einigen Grundstücken in Grenznähe Öl-Pipelines direkt nach Kamerun oder in den Tschad führen. Offenes Geheimnis ist, daß Schmuggler Öltanker samt Inhalt von Maiduguri außer Landes verschieben, während in dem erdölproduzierenden Land immer wieder, und das seit Jahren, das Benzin knapp ist. Tagelang stehen Autofahrer an den Tankstellen im Norden Schlange, um vielleicht 2 Gallonen (die Maßeinheit im Norden und umgerechnet 12 Liter Benzin) zu ergattern. Das Benzin an den Tankstellen ist rar, aber selbst nach den Strukturanpassungsprogrammen des IWF noch staatlich subventioniert. Auf dem Schwarzmarkt gibt es immer Benzin, doch hier kostete die Gallone erheblich mehr, im Februar 1996 waren es zwischen 200 und 300 Naira, zwischen 4 und 6 Mark, und die Preise steigen. Die verbeulten Tanks der Schwarzhändler, aus denen das Benzin über Schläuche und Trichter in Autos oder Kanister umgefüllt wird, stehen oft direkt vor den regulären Tankstellen; eine offene Provokation, die anscheinend niemand stört. Auf dem Schwarzmarkt in Nigeria gibt es fast alles, doch Benzin kann hier nur kaufen, wer einigermaßen bei Kasse ist. Für die größtenteils von der Hand in den Mund lebende Bevölkerung sind 200 bis 300 Naira viel Geld. Die Kinder, die auf den Straßen der 10-Millionen-Stadt Lagos zum Familienverdienst beitragen müssen, verdienen nur einige Pfennige am Tag. Der Durchschnittsverdienst eines ungelernten Arbeiters beträgt zwischen 500 und 1000 Naira im Monat. Das sind 80 bis 150 Mark, und die Lebenshaltungskosten steigen. Mittlerweile liegt die Inflationsrate bei 70 Prozent, der Preis für eine Dose Milchpulver ist innerhalb von fünf Jahren von 60 auf 1200 Naira gestiegen.

Trotz der hohen Benzinpreise erstickt Lagos an Autoabgasen, dagegen scheinen die Städte des Nordens idyllisch. In Lagos, wie überall in Nigeria, sind die Menschen von früh bis spät unterwegs. Der Broterwerb ist mühselig, jede Tätigkeit braucht Zeit, viele Wege sind vergebens, die Bürokratie arbeitet willkürlich, Telefone funktionieren selten, und der Strom fällt regelmäßig aus. Sieben Militärputsche in ungefähr fünfundzwanzig Jahren und jahrzehntelange Mißwirtschaft haben die Menschen mißtrauisch gemacht gegenüber der Politik. Sie wissen, daß nur sie selbst sich helfen können. Moral wird dabei für viele zum Luxus. Beziehungen und Kontakte sind lebenswichtig, auf eine Anstellung kann nur hoffen, wer den richtigen Bekannten am richtigen Ort hat. Gerade für die ärmeren Leute laufen diese nicht selten über ihren religiösen Zusammenhang, ob christlich oder muslimisch. Die Cliquenwirtschaft ist unüberschaubar und begegnet einem auf Schritt und Tritt. Sie hat zivile Politiker und Militärs, traditionelle Herrscher und Geschäftsleute aufs engste miteinander verzahnt.

Ken Saro-Wiwa (vgl. Peter Mosler: "Hört irgend jemand zu? Ken Saro-Wiwa und die Zerstörung des Ogoni-Landes-, Kommune 10/96), der im November 1995 zusammen mit acht weiteren Bürgerrechtlern in Port Harcourt gehängt wurde, hatte ebenfalls ein Stück dieser "nigerianischen Karriere- durchlaufen. Er spekulierte nach dem Biafra-Krieg mit zerstörten Häusern und wurde Millionär. Er war Politiker im Nigerdelta, Schriftsteller, Fernsehproduzent und Verleger. In den siebziger Jahren wohnte er in der Nachbarschaft General Abachas, des Mannes, der ihn später hinrichten ließ, nachdem er ihm noch einige Zeit davor einen Posten in der Politik angeboten haben soll, wie das Nachrichtenmagazin TELL schreibt. Ken Saro-Wiwa ist ausgestiegen aus dem Reigen der Macht, er hat sein Vermögen für eine Bürgerbewegung gegeben, die für die kleine Volksgruppe der Ogoni Gelder zum Bau von Schulen und Straßen, Strom- und Wasserleitungen und Mitspracherecht in politischen Angelegenheiten der Region forderte. Auf dem Ackerland und in den Fischgründen der Ogoni wird ein beträchtlicher Anteil des Öl-Reichtums Nigerias gefördert, der in den Händen der jeweiligen Machthaber des Landes zerrinnt. Viele von ihnen kommen aus dem Norden des Landes. Saro-Wiwa war ein großer Mobilisierer, Hoffnung für eine der strukturschwächsten Regionen des Landes, für eine der Minderheitengruppen, die in Nigeria nicht viel zu melden haben. Als die Militärjunta begann, einige der lokalen Oberhäupter von der Bewegung abzuspalten, war der Konflikt vorprogrammiert. Einige Provokateure genügten, und Jugendliche massakrierten vier der kompromißbereiten Chiefs. Die Morde waren der offizielle Hinrichtungsgrund für die neun Ogoni. Neunzehn weitere sitzen unter der gleichen Anklage im Gefängnis.

Die Propaganda der regierungstreuen Radio- und Fernsehanstalten hat Ken Saro-Wiwa noch zu Lebzeiten in Mißkredit gebracht. Im Norden halten ihn die einfachen Menschen deshalb für einen, der sich genauso bereichern wollte, wie alle einflußreichen Leute des Landes. Im Delta dagegen bekommt man zu hören, daß die im Norden den Reichtum aus dem Ölgeschäft einheimsen und Angst hätten, daß sich der Süden vom Land abspalten könnte. Ken Saro-Wiwa ist im Delta ein Held und Märtyrer. Besonders im Norden ist man mißtrauisch, weil er in Europa und Amerika solche Popularität erlangte. "Er ist nicht der erste und nicht der letzte, der hingerichtet wurde-, heißt es abwehrend. "Warum habt ihr euch gerade für den so erwärmt?-

"Die Eliten dieses Landes gehören doch alle zur gleichen Clique. Wenn es ums Geld geht, dann kennen sie keine ethnischen Schranken-, sagt dagegen die Studentin Hauwa. Sie will sich auf keine politischen Versprechen mehr einlassen, egal von welcher Seite. Für sie zählt nur der Kampf ums tägliche Überleben. Sie verdient sich ihren Lebensunterhalt bei einer Behörde und hat seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten. Ihr Studium kann sie nicht abschließen, da Personal wie Professoren seit Jahren immer wieder streiken, weil sie ebenfalls kein oder zu wenig Gehalt erhalten.

Der nigerianische Staat ist bankrott. Seit dem Ölboom der siebziger Jahre geht es kontinuierlich bergab. Auch die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank haben wenig genutzt. Babangida hat in den achtziger Jahren das Land endgültig in den Ruin gewirtschaftet. Er soll alleine 12 Milliarden US-Dollar an Staatsgeldern in die eigenen Tasche gewirtschaftet haben. Er steht mit diesen Selbstbedienungspraktiken nicht alleine. Sie gehen unter General Sani Abacha munter weiter. Die Auslandskonten der politischen Eliten wachsen auf Kosten der Staatskasse ins Unermeßliche. Schätzungsweise 210 Milliarden Dollar sind in den letzten 25 Jahren an Öleinnahmen unterschlagen worden. Allein in London hat Nigerias Regierung Guthaben im Wert von 6,5 Milliarden US-Dollar. Während die Eliten weiter absahnen, kommt es in den Städten immer wieder zu Hungerrevolten mit zahlreichen Toten, so in der noblen Hauptstadt Abuja, wo bei einem Aufstand 1992 allein 300 Menschen zu Tode kamen. Die Kriminalität steigt in den Städten, und selbst auf den Landstraßen gibt es regelmäßig Überfälle, die so manches Mal mit dem Tod der Ausgeplünderten enden. Etwas Anspannung sitzt einem immer im Nacken, wenn man in Nigeria über Land fährt. Die Gerüchteküche über tödlich endende Überfälle bekommt ständig neuen Nachschub. Da beruhigen auch die Militär- und Polizeikontrollen kaum, die in regelmäßigen Abständen die Straßen blockieren - angeblich auf der Suche nach Banditen. Im Gegenteil, gerade im Süden des Landes, auf der Straße von Lagos noch Port Harcourt, belästigen Uniformierte, die man kaum zuordnen kann, den Reisenden mitunter alle 500 Meter und fordern mehr oder weniger unmißverständlich Wegezoll. Selbst in Lagos wird der weiße Autofahrer an jeder größeren Straße x-mal an die Seite dirigiert; mitunter von abenteuerlich gekleideten Dschungelkriegern in voller Tarnmontur. Sie beherrschen die Kunst, zu befehlen und Angst einzujagen bis zur Perfektion. Ob sie tatsächlich die Staatsmacht repräsentieren oder sich Uniform und Maschinenpistole sonstwo besorgt haben, ist unerheblich.

Die Lage ist explosiv in Nigeria. Die Jagd nach dem schnellen Geld, das in den siebziger Jahren enormen Aufschwung brachte und für die Bevölkerung nur Enttäuschung hinterließ, fordert immer skrupellosere Methoden. "Willst du diesen Baum, dann mußt du ihn dir nehmen. Anders kommst du zu nichts-, erklärt ein Fischer im Delta, der mit seiner Familie in einem Pfahlhaus lebt. Auch er glaubt, etwas von der Philosophie dieser Gesellschaft verstanden zu haben. Der Erfolg gehört dem Rücksichtslosesten, dem der sich durchzusetzen versteht. Zum Erfolgsrezept der Machthaber gehört es, die Bevölkerung der verschiedenen Volksgruppen gegeneinander aufzuhetzen. Die Bereitschaft zu Vorurteil und Mißtrauen ist sehr groß, denn jeder hat das Gefühl, daß er von irgend jemandem übervorteilt wird. "Nigeria befindet sich gefährlich nahe am Rande der Katastrophe-, schreibt Ken Saro-Wiwa in seinem im Gefängnis verfaßten Buch, das auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die Katastrophe könnte ein zweites Biafra oder ein weiteres Ruanda sein.

"Dieses Regime muß absolut isoliert werden!

Interview mit dem nigerianischen Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka

In Nigeria sieht man sehr viel Brutalität. Was geschieht in diesem Land? Es scheint jeder gegen jeden zu kämpfen.

Das ist richtig. Meine Theaterstücke handeln öfter davon, daß die Menschen in Nigeria sich selbst zum Feind haben. Die Militärregime haben sie brutalisiert. Die Ressourcen an Menschlichkeit gibt es nicht mehr, die unsere Gesellschaft zusammenhielten. Und die Brutalisierung wird noch zunehmen, wenn die Menschen nicht endlich neues Vertrauen gewinnen, indem sie ihre eigene Regierung wählen können.

Denken Sie, daß es in Nigeria zu einem ähnlichen Gewaltausbruch kommen könnte wie in Liberia?

Das ist sehr gut möglich. Als Babangida 1993 die Wahlen annullierte, begann er eine massive, heimtückische Propaganda, mit der er das Mißtrauen zwischen den Ethnien, aber auch innerhalb der einzelnen Volksgruppen vertiefte. Er hat sogar der muslimischen Gesellschaft Nigerias tiefe Wunden geschlagen, hat Interessenskonflikte geschürt, was zu größeren Grausamkeiten, zu wirklich brutalen Morden führte. Das Militär tat nichts, sie zu unterbinden. Im Gegenteil, sie tragen zur Brutalisierung der Konflikte bei. Seit Babangida 1993 die Wahl annullierte, wird in Nigeria eine andere politische Sprache gesprochen.

Noch während der Wahl demonstrierten die Nigerianer eine bemerkenswerte Einigkeit und Disziplin. Da fürchtete Babangida, daß sich die politische Klasse gegen ihn verbünden könnte. All zu methodisch versuchte man, seine Manipulation zu umgehen. Man setzte sich über alle ethnischen, religiösen, minoritären oder majoritären Interessen hinweg. In anderen Worten: Die Wahl führte die Menschen paradoxerweise zusammen. Man begann, sich als Nation zu verstehen. Babangida zerstörte diese Tendenz gezielt, als er die Wahl annullierte. Die danach über Presse, Funk und Fernsehen in Umlauf gesetzte Gerüchteküche zerstörte alles. Er reaktivierte die ethnischen Vorbehalte und streute ungeheuerliche Diffamierungen gegen den Wahlgewinner aus. Babangidas Strategie hatte Erfolg. Abacha setzt sie fort. Heute ist das Gefühl der Einheit von damals dahin. Es ist selbst schwer, die Opposition im Ausland zu mobilisieren. Man sagt mir, ich vergeude mein Leben mit einem Ideal, das Nigeria heiße und den Tod bedeute. Wir sind so weit, daß Leute wie General Ojukwu (General, der die Unabhängigkeit Biafras betrieb) bei den Ibo wieder den Traum von Biafra aktivieren können. Auch die Hausa-Fulani im Norden träumen wieder von ihrer Hegemonie über Nigeria, und die Minoritätengruppen brutalisieren sich weiter. Das ist das Werk von Babangida und Abacha.

Haben die Nigerianer das Regime, das sie verdienen, wie einige behaupten, oder sind die Eliten daran schuld, wie der Schriftsteller Chinua Achebe sagt?

Ich tendiere zu Chinua Achebes Ansicht. Die selbstsüchtige Führungsschicht verschuldet die politischen Mißstände. Doch sicherlich liegt in der anderen Einschätzung ebenfalls ein Funken Wahrheit: Die Menschen sind all zu leicht zu beeindrucken, sie sind so einfach zu korrumpieren. Für all zu viele gilt der Satz: "Wenn du sie nicht beseitigen kannst, dann verbünde dich mit ihnen.- So gesehen ist es richtig zu sagen, daß sie bekommen, was sie verdienen. Aber ich muß sagen, die Nigerianer haben sich auch immer wieder von ihrer anderen Seite gezeigt. Nach der Annullierung der Wahl 1993 habe ich selbst den heroischen Widerstand der Menschen erlebt. Ich sah die Verluste, die immensen Opfer, als Abacha die Demonstrationen kaltblütig niederschießen ließ.

Was macht Abacha so gefährlich?

Er ist ein Psychopat, den wir noch aus der Zeit des Biafra-Krieges kennen, wo er sich hauptsächlich dadurch hervortat, daß er Zivilisten hinter der Front erschoß. Er ist ungeheuer gierig. Babangida war das auch, aber er war methodischer, weniger brutal als Abacha. Abacha ist ein roher Charakter, und man kommt absolut nicht an ihn heran. Er ist total in sich abgeschlossen, neigt dazu, sich an Speichelleckern zu orientieren, an Marabuts, die ihm die Zukunft voraussagen. Er verläßt nie seinen Regierungssitz. Er weiß nicht, was außerhalb vorgeht. Er rühmt sich, daß er weder Zeitung liest, noch fernsieht. Es sind die Leute vom Sicherheitsdienst, die ihm sagen, wer für ihn gefährlich werden könnte. Alles, was er will, ist Macht.

Wird Abacha 1998 die Macht an eine Zivilregierung abgeben?

Wer das glaubt, ist naiv. Wir wissen, daß er plant, seine Uniform auszuziehen, um Präsident auf Lebenszeit zu werden. Eine der von ihm eingesetzten Parteien wird ihn als ihren Kandidaten vorstellen. Und wenn er seinen Plan verwirklicht, wird das Jahr 1998 zum Verhängnis der demokratischen Gesellschaft.

Immer wieder hört man afrikanische Politiker sagen, daß Demokratie etwas für reiche Staaten sei, daß Afrika andere Regierungsformen brauche. Was halten Sie davon?

Für mich hat so jemand eine Sklavenmentalität. Solchen Leuten kann man nicht helfen, es gibt sie in jeder Gesellschaft. Der wahre Grund, warum Militärs die Macht übernehmen, ist doch, daß sie die Ressourcen kontrollieren wollen. Sehr selten steckt eine Vision dahinter. Das sind doch Scheinbegründungen, wenn sie die Korruptheit der Politiker vorschieben oder ihre falschen Wirtschaftsprogramme, ihren Ausverkauf an den IWF. Überall in der Welt gibt es doch korrupte Politiker. Werfen wir einen Blick auf Italien, Indien, Amerika, England, Frankreich et cetera. Warum übernimmt dort das Militär nicht die Macht? Warum sollte das in Afrika legitim sein? Warum stellt sich jemand hin und führt Regeln ein für Afrikaner und Regeln für, sagen wir, Europäer?

Was können die Europäer tun, um die Demokratiebewegung in Nigeria zu unterstützen?

Zuallererst muß dieses Regime absolut isoliert werden! Wir wollen ein rigoroses Ölembargo. Es würde die Ressourcen schrumpfen lassen, die Abacha benötigt, um die Opposition zu brechen, um die Botschafter und Besucher zu bestechen, die ihren Regierungen berichten, daß alles rosig und wunderbar sei. Wir brauchen das Ölembargo und wir brauchen die finanzielle Unterstützung der demokratischen Kräfte durch die europäischen Nationen.

Das Gespräch führten Angelika Burkhard und Thomas Giefer.