Briefeschreiben in finsteren Zeiten

Zu den Briefwechseln Hannah Arendts

Ingeborg Nordmann

Alles Unglück meines Lebens", schrieb Franz Kafka, "kommt, wenn man will, von Briefen oder von der Möglichkeit des Briefeschreibens her... Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern und zwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gepenst..." Auch für Hannah Arendt ist Briefeschreiben ein "gefährlicher Unfug". Dennoch gibt es eine Differenz zwischen ihr und Kafka. Für Kafka war der Brief eine zwar problematische, aber unersetzliche Form, um Nähe und Ferne zu anderen Menschen in eine für ihn lebbare Konstellation zu bringen. Der Brief ist nicht nur ein Mittel, um sich der angeschriebenen Person zu nähern, sondern auch, um sie von sich entfernt zu halten. Er diente dem Schutz seiner Einsamkeit. Für Hannah Arendt dagegen ist der Brief ein Ersatz für das mündliche Gespräch in den Zeiten, in denen von heute auf morgen Menschen zu Flüchtlingen werden und die Vorstellung von Heimat überhaupt problematisch geworden ist. Für diejenigen, die "in keinem Besitz verwurzelt sind, und darum ihr Milieu sozusagen immer mit sich herumtragen oder ... darauf angewiesen sind, es immer neu zu produzieren", die folglich in einem existentiellen Sinn unterwegs sein müssen, wird der Brief zu einem unverzichtbaren Mittel, Zusammenhänge stiften zu können. Diesen Zusammenhängen gab Hannah Arendt den Namen Freundschaft.

Die Freundschaft und der Brief weisen Affinitäten auf. Sie zeichnen sich beide durch ihre Beweglichkeit aus, weil es nichts gibt, das ihnen Dauer verbürgt. Jeder Brief ist ein neuer Anfang, der erst durch die Antwort entweder bestätigt oder in Frage gestellt wird. Freundschaft existiert nur so lange, wie man sich ihr zuwendet, und jede Zuwendung muß mit Unwägbarkeiten rechnen. Freundschaft sei nur noch auf des "Messers Schneide" zu haben, schrieb Hannah Arendt an ihren jüdischen Freund Kurt Blumenfeld in Israel. Dennoch: wer sich auf diese Unwägbarkeiten einließ, stand nach Hannah Arendt der Realität näher als alle, die sich irgendwelche künstlichen Identitäten anzudichten versuchten.

Bisher sind der Briefwechsel mit Karl Jaspers (1985), mit Kurt Blumenfeld (1994), mit Mary McCarthy (1995), mit ihrem Mann Heinrich Blücher (1996) und mit Hermann Broch (1996) veröffentlicht. Der Briefwechsel mit Martin Heidegger wird demnächst erscheinen. Eine erstaunliche Anzahl für eine Philosophin, die beinahe noch unsere Zeitgenossin ist.

Die Briefwechsel wurden hauptsächlich unter zwei Aspekten gelesen: Dem der näheren Erkundung der Biographie Hannah Arendts und des Zusammenhangs mit ihrem Werk. In dieser rückbezüglichen Lesart wurde nicht wahrgenommen, daß die Briefe weggeschickt worden waren, weniger, um die eigene Person ins Licht zu rücken, sondern, um den Raum zwischen den Korrespondenten zu strukturieren. Es ist ein merkwürdiges Phänomen, daß das Briefeschreiben nicht ohne weiteres auf die Erfahrungen des mündlichen Gesprächs aufbauen kann. Es ist keine einfache Fortschreibung desselben, sondern muß sich ein eigenes Terrain schaffen. Die Individualität des anderen zeigt sich hier überraschend anders, und je nachdem, ob die Schreibenden bereit sind, sich dieser Erfahrung zu öffnen, werden wir in einen Raum ganz eigener Art eingeführt, in dem - gegen die gängige Anschauung, daß Briefeschreiben eine altmodische Veranstaltung sei - Erkundungen stattfinden, die gerade für die Gegenwart außerordentlich interessant sind. Denn sie zeigen, wie unerwartet vielfältig die Gesichter der Differenz sind, auch für Hannah Arendt, welche die Pluralität zum Angelpunkt ihrer politischen Philosophie gemacht hat. Die Aufmerksamkeit dafür, daß der andere tatsächlich anders ist, bleibt ein lebendiges Erfordernis, das niemals zur Ruhe kommen und niemals in einer moralischen Haltung sein endgültiges Resümee finden kann. Weil die Fähigkeit, konkret und situativ den Dialog zu beginnen, keine ein für allemal errungene Eigenschaft darstellt, die man in Besitz nehmen kann, muß sie ständig geübt werden, und diese Übungen machen die Briefwechsel zu einem einzigartigen Erfahrungsmaterial im Umgang mit der Differenz.

Hannah Arendt hatte angesichts des Versagens der Tradition gegenüber der totalitären Gefahr ein "Denken ohne Geländer" eingefordert. Was das heißen kann, erfährt man nicht nur durch die Kontroversen um ihr Werk. Man erfährt es auch aus ihren Briefwechseln. Es scheint so, daß der Brief sich noch eher als das nonkonformistische Werk der Grenze nähert, wo der Dialog abzubrechen droht. So ist es nicht verwunderlich, daß der Wunsch, sich in vertraute Verständigungsformen zu flüchten, immer wieder artikuliert wird. Den Briefwechsel mit Karl Jaspers durchzieht ein Netz von wechselseitigen Versicherungen, daß das eigentliche Gespräch das mündliche sei, in dem alle Sinne tätig werden können, um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen. Jaspers Gesprächsfähigkeit, deren Besonderheit Hannah Arendt beschreibt, kann sich offensichtlich nicht in der Schrift entfalten:

"... die unvergleichliche Fähigkeit für das Gespräch, die herrliche Genauigkeit des Zuhörens, die ständige Bereitschaft, Rede und Antwort zu stehen, die Geduld, bei der einmal besprochenen Sache zu verweilen, ja mehr noch, die Fähigkeit, das sonst Verschwiegene in den Gesprächsraum zu locken, es sprechwürdig zu machen und so alles im Sprechen und Hören zu verändern, erweitern, verschärfen - oder, wie er selbst am schönsten sagen würde: zu erhellen."

Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob Hannah Arendts Laudatio auf die Gegenwärtigkeit des Wortes das traditionelle Vorurteil gegen die Schrift wiederholt. Schon Plato bermerkte, daß die Schrift dadurch, daß sie alles fixiert, die Komplexität der menschlichen Sprache reduziert. Von einer ähnlichen Befürchtung ging auch Franz Kafka aus, wenn er bereits abgeschickte Briefe durch eine Kette hinterher geschriebener Briefe zu sich zurückzuholen versuchte, um die unendlichen Deutungsmöglichkeiten selbst auszuschöpfen und allen Mißverständnissen vorzubeugen. Was jedoch Mißverständnis genannt wird, ist nichts anderes als der Eintritt des anderen in den Dialog. "Man müßte imstande sein, den Gang des Sprechens selbst gleichsam darzustellen", schreibt Hannah Arendt, und daraus läßt sich entnehmen, daß in ihrer Skepsis gegenüber der Schrift nicht die Stimme des Herzens verteidigt werden soll, die seit dem Apostel Paulus als die einzig authentische, weil eindeutige Sprache gilt, welche sich nur im gesprochenen Wort zeigt. Was sie meint, ist die einmalige Gestik des Körpers. Sie ist einmalig, weil sie nur in der Wahrnehmung des anderen existiert und daher wie keine andere Ausdrucksform auf den anderen angewiesen ist. Durch sie wird ein Raum des Dialogs geschaffen, der nicht planbar und beherrschbar ist. Hannah Arendt nennt ihn das "Größte" und "Flüchtigste", was die Menschen im Miteinander schaffen können.

Unschwer läßt sich in Hannah Arendts Betonung des körperlichen Sich-Zeigens ihre theoretische Haltung wiedererkennen, daß die menschliche Verschiedenheit am angemessensten in den Phänomenen zum Ausdruck kommt. Gegen die logische Zwangsläufigkeit des linearen Denkens hob sie das Erzählen hervor, das der Fülle des Stoffs Raum gibt und das sie als eine visuelle Montage entfaltete. Doch keineswegs wollte sie damit der Wahrheit ein neues sicheres Domizil schaffen. Denn gerade das Personenhafte, jene komplexe Mischung aus Gestik und Sprechen, ist schwer zu fassen. Nicht von ungefähr vergleicht Hannah Arendt es mit dem griechischen daimon, der "jeden Menschen durch sein Leben begleitet, ihm aber immer nur über die Schultern guckt, so daß er von allen, die einem Menschen begegnen, eher gekannt werden kann als von ihm selbst". Dieser daimon hat in der Freundschaft mit Mary McCarthy sein unwillkürliches Spiel getrieben.

Im Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Mary McCarthy wird fast jeder Brief mit einer Reflexion über das Briefeschreiben begonnen:

"Seit Monaten will ich Dir schreiben, aber nur einen Brief, der Deiner würdig ist. Doch ich zweifle, daß die Zeit dafür je kommt, also schreibe ich einfach so ein paar Zeilen" (Mary McCarthy).

"Ich schreibe nicht, um einen Brief zu schreiben, sondern um alles zu tun, damit ich einen bekomme" (Hannah Arendt).

"Ich wollte Dir den ganzen Herbst über schreiben und habe es immer wieder aufgeschoben, bis ich Zeit haben würde für einen ,guten` Brief. Lang und interessant. Nun habe ich meinen Ehrgeiz gemäßigt: einfach ein Brief" (Mary McCarthy).

"Gott weiß, warum ich erst heute schreibe. Ich habe Dir unzählige Briefe geschrieben: daß ich Dir danke, daß ich große Sehnsucht nach Dir habe, daß ich mit neuer Verbundenheit und Zärtlichkeit an Dich denke. Das Problem ist, daß du, um zu schreiben, aufhören mußt zu denken; und: Denken kann so bequem getan werden, Schreiben ist so mühselig" (Hannah Arendt).

"Wie gut, einen Redebrief von Dir zu bekommen! Ich rede zurück, lasse alles andere liegen - all die unerledigten Briefschulden" (Hannah Arendt).

"Gute" Briefe, die nie zustande kommen, "Rede"-Briefe und imaginäre Briefe, die nicht geschrieben werden, immer geht es darum, daß der eigentliche Brief noch im Kommen ist. Erst er wird das zum Ausdruck bringen, was die Freundschaft ausmacht. Tatsächlich werden aber nur Provisorien hin und her geschickt, weil der Brief gar nichts anderes sein kann als ein Fragment. Die Briefe exponieren immer wieder den Gedanken vom Wunder der Präsenz, der tatsächlichen Begegnung, Es liegt eine ironische Verkehrung darin, daß das Mißverständnis gerade nicht als Folge eines Briefs einbricht, sondern während eines Wiedersehens. Nach einem Besuch Hannah Arendts zeigt Mary McCarthy sich bestürzt über den schroffen Abschied: "Es war traurig, Dich am Flughafen durch die Tür gehen zu sehen, ohne daß Du Dich noch einmal umgedreht hast. Etwas geschieht oder ist geschehen mit unserer Freundschaft." Hannah Arendt antwortet sofort, und die entscheidende Botschaft ist weniger der Inhalt als die Schnelligkeit, mit der sie ihre Antwort zu übermitteln wünscht. Sie vertraut sie in einer paradoxen Geste dem Brief an. Nicht, daß sie plötzlich der Meinung wäre, der Brief könne einen direkten Weg zwischen Herz und Buchstabe herstellen, wie man in der Zeit seiner Entstehung, der Empfindsamkeit, glaubte. Aber unwillkürlich wird das bedeutsam, was sonst als Quelle des Mißverständnisses angesehen wurde: die Entfernung. War im Medium der direkten Verständigung das Mißverständnis nicht zu entwirren, so bot der Brief eine Chance. Denn der Brief läßt sich Zeit und gibt Zeit, Zeit zum Nachdenken: "Ich komme gerade nach Hause und finde Deinen Brief, und es ist zu spät, um anzurufen. Morgen vormittag muß ich in die Stadt, also wird es zu früh sein zum Telefonieren. Deshalb schreibe ich und bin noch sprachlos - und werde es wahrscheinlich bleiben. Ich weiß nicht, warum ich mich auf dem Flughafen nicht mehr umgedreht habe. Ich war sehr traurig, trotz Deiner Vorstellung von meiner ,splendid solitude`. Ich bin natürlich einsam, wie jeder es in meiner Lage wäre. Du aber magst recht haben oder nicht, Deinen Freunden zu mißtrauen, aber mir könntest Du doch wirklich nicht mißtrauen - oder doch?"

Diese Frage, die sich so plötzlich und elementar stellt, erscheint unwirklich, gemessen an der langen Dauer der Freundschaft. Dennoch ist sie nicht gegenstandslos, denn sie erinnert daran, daß Freundschaften und Briefe sich auf den Weg ins Ungewisse machen. Es bedarf daher einer Vielfalt von Erfindungen, um dem Verhältnis von Nähe und Ferne eine wahrnehmbare, wenn auch nicht fixierbare Gestalt zu geben. So entstehen bewegliche Orte der Begegnung, die wie in einem frei schwebenden Netz schwingen, Orte, an die die weit entfernte Freundin nahe herangeholt wird, und Orte, von denen man sich in verschiedene Richtungen entfernen kann, ohne daß der Faden des Gesprächs reißt.

Auch im Briefwechsel mit Kurt Blumenfeld streben alle Briefe dem Wiedersehen zu. Aber anders als im Verhältnis zu Mary McCarthy und Karl Jaspers wird dieses Wiedersehen ständig hinausgeschoben. Über die genannten Hindernisse hinaus (die große Entfernung, die fehlenden finanziellen Mittel, die beruflichen Verpflichtungen) gibt es noch einen verschwiegenen Grund: daß die Ferne eher durch den Brief überbrückbar war. Die politischen Differenzen in der Beurteilung des Zionismus und der Politik in Israel erforderten die Distanz, die der Raum ist für eine Vielfalt von Möglichkeiten, mit diesen Differenzen umzugehen: sich Zeit zu lassen bei Zuspitzung der Widersprüche, über Umwege sich erneut anzunähern, bis der direkte Weg wieder gewählt werden konnte.

Der einzige Briefwechsel, der geradezu existentielle Bedeutung für Hannah Arendt hatte und daher weder ein Provisorium war noch eine Unterbrechung duldete, war der mit ihrem Mann Heinrich Blücher. Hier scheint es auch keinen Unterschied zwischen mündlich und schriftlich zu geben, als hätte die Liebe den Zwischenraum zwischen zwei Menschen zum Einsturz gebracht. Der Liebesbrief folgt einem eigenen Gesetz:

"In einem dieser alten Briefe, die für mich immer aktuell bleiben werden", schreibt Hannah Arendt, "bemerkst Du, daß Liebesbriefe immer eine gewisse Monotonie haben. Sicher, aber was für eine erstaunliche Monotonie. Eine Monotonie wie das Rauschen des Meeres. Je mehr man ihm lauscht, desto mehr möchte man hören. Eine so elementare Monotonie, daß sie in ihrem grandiosen Rahmen allen unendlichen Variationen einer ganzen Welt, eines ganzen Lebens Raum gibt. So lese ich Deine Liebesbriefe, und darum muß ich sie so viele Male lesen."

Wichtiger als das Wie ist hier das Daß, und dieses Daß durfte nicht dem Zufall überlassen werden. Es gab feste Verabredungen: jede Woche ein Brief. Kam ein Brief zu spät oder gar nicht, dann brach eine Welt zusammen.

"Dein Brief hat nicht viel geholfen. Weißt Du denn wirklich nicht mehr, daß wir verabredet hatten, daß Du einmal wöchentlich schreiben sollst? ... Mir ist das Herz sehr schwer. Ich kann diesen völlig fehlenden Sinn für die primitivsten menschlichen Verantwortungen und Verpflichtungen nicht verstehen. Ich kann nicht verstehen, daß Du so wenig Einbildungskraft hast, daß Du Dir absolut nicht vorstellen kannst, wie mir zumute ist, so in der Welt wie ein verlorengegangenes Rad am Wagen herumzusausen, ohne jegliche Verbindung mit einem Zuhause, mit etwas, worauf Verlaß ist."

Was ist das für ein Zuhause, das so strenge Rituale zu seinem Schutz gebraucht? Und was ist mit dem Bohemien, als den Hannah Arendt sich bezeichnet hat und der sein "Milieu" "immer neu produzieren" muß? Ist die Liebe anders als die Freundschaft in der Lage, ein Zuhause zu gründen, um das "herum die ganze Welt gruppiert" werden kann? Wenn die Philosophin Hannah Arendt davon ausgeht, daß der Traditionsbruch durch den Totalitarismus zu einer irreversiblen Tatsache gemacht worden ist, dann erwartet man, daß die Werte der Liebe und Treue von diesem Zusammenbruch nicht unbeschadet geblieben sind. Und dennoch schreibt sie:

"Ja, Liebster, unsere Herzen sind eins ans andere gewachsen und unsere Schritte gehen im Gleichmaß. Und dies Gleichmaß kann nichts stören, obwohl das Leben ja weitergeht. Diese Narren, die glauben, Treue sei, wenn das Leben aufhört und sich gleichsam in dem einen festgebissen hat. Sie bringen sich nicht nur um das gemeinsame Leben, sondern sogar um das Leben überhaupt. Wenn es nicht so gefährlich wäre, sollte man der Welt doch einmal erzählen, was eine Ehe wirklich ist."

In ihren philosophischen Reflexionen kann man lesen, daß die Ehe das Ereignis der Liebe "zerreibt" oder "aufzehrt" und alle Rettungsversuche vergeblich sind, sowohl die Umwandlung der Liebe in die Intentionalität des Gefühls (nach Hannah Arendt die weibliche Variante des Verstehenskults) als auch in das dauerhafte Verhältnis der Freundschaft (die männliche Variante, Nähe und Distanz rational zu bewältigen). Doch was vermag die Liebe? Sie ist das absolut Unverfügbare, das man nur in seiner Wirkung ausmachen kann. Sie ist die geheime Triebkraft der Erinnerungsfähigkeit. Liebe existiert nur in der Erinnerung ihres Ereignisses. Nichtvergessen und Treue sind daher dasselbe, aber es wäre fatal, darin ein rein innerliches Phänomen zu sehen. Liebe muß sich zeigen. Sie ist nichts Imaginäres, sondern etwas Vorfindbares, zum Beispiel ein Brief: "Deine beiden Briefe fand ich hier vor und war ganz selig. Natürlich bin ich im Wirbel, aber verlassen kann man sich gerade im Wirbel fühlen, und ich muß Dich in der Nähe wissen, sonst geht eben einfach gar nichts mehr." Der Brief ist das Zuhause, das man mit sich herumtragen kann. Aber weil er immer zwischen zwei Abwesenheiten oszilliert, bahnt der Brief innerhalb des Zuhauses Wege, auf denen Heterogenität erfahren werden kann. Auf diese innere Komplexität und Differenz des Zuhauses, die man nicht auf einen Begriff bringen kann, spielt Blücher an, wenn er schreibt: "Du hast meinen Zustand genau erraten. Ich bange mich sehr nach Dir und genieße meine Einsamkeit."

@Ini-2z = Karl Jaspers war der philosophische Freund, der Garant dafür, daß die eigene philosophische Vergangenheit nicht ins Bodenlose sank. Kurt Blumenfeld der jüdische Freund und Nonkonformist, der die Brücke zu Israel verkörperte. Mary McCarthy die amerikanische Freundin, auf die sich die Europäerin Hannah Arendt immer verlassen konnte. Hermann Broch der jüdische Dichter aus Mitteleuropa, dessen Einzigartigkeit in seinen Begabungen und Verrücktheiten Hannah Arendt als etwas verstand, das man bewahren muß, weil die Kultur, aus der er kam, für immer zerstört worden war. Nirgendwo anders hätte diese "außerordentliche Gabe für Intimität" entstehen können. Niemand anders hätte das Besondere und Prekäre der "ewig bewegten Oberfläche" des Wienerischen wahrnehmen können als Hannah Arendt, die das Recht der Oberfläche gegen den metaphysischen Kult des Seins verteidigte. Der Anziehungskraft, die dem erotischen Abenteurer Broch nachgesagt wird, begegnete sie mit einer feinen ironischen Distanz. Keine hochschlagenden Flammen also, wie ein Rezensent des Briefwechsels im Übereifer seiner Einbildungskraft zu sehen meint. Hannah Arendt interessierte weniger der Fesselungskünstler als der "Entfesselungskünstler", der in dem Gewirr der Beziehungen, in die er sich verstrickte, seine Bewegungsfreiheit behauptete. Aus der Mischung zweier gegensätzlicher Arten des Wissens, des in die Nähe führenden emotionalen und des sich entfernenden reflexiven, entstanden die wunderschönen Essays Hannah Arendts zu Hermann Broch. Aber hieraus entstand kein Briefwechsel. Hannah Arendt eröffnete die Korrespondenz, die nur fünf Jahre bis zum Tod Brochs dauerte. Aber sie war keine eifrige Briefeschreiberin. "Es ist noch schwieriger, Ihnen zu schreiben", begann sie ihren ersten Brief, und meinte damit nicht die Person Broch, sondern den Dichter Broch, von dem sie sagt, daß er mit seinem Buch Der Tod des Vergil seit "Kafkas Tod die größte dichterische Leistung" erbracht habe. Wer an einen Dichter schreibt, den er bewundert, betritt ein Gebiet, auf dem es von Stereotypen nur so wimmelt. Folglich mußte sich Hannah Arendt vorsichtig bewegen. Es gehört zu den bemerkenswerten Seiten dieses Briefwechsels, daß beide versucht haben, genau den Punkt herauszufinden, an dem sie allein etwas zu den Texten des anderen zu sagen hatten. Darin zeigt sich ein signifikanter Unterschied zur Korrespondenz mit Mary McCarthy. Hannah Arendt und Mary McCarthy haben zumeist nur allgemeine bis plakative Kommentare zu ihren Publikationen gemacht. In ihren Briefen war etwas anderes wichtig: die Freundin. Kein anderer Briefwechsel hat diesen Schwung und diese Intensität, die auf nichts anderes gerichtet war, als daß die Freundin erreicht werden sollte. Hannah Arendt und Hermann Broch hatten ein gemeinsames Thema, der Alptraum des Totalitarismus, wie er entstehen konnte, und wie er ein zweites Mal zu verhindern ist. Die Ausschließlichkeit, mit der sie sich dieser Frage widmeten, schuf bei aller Unterschiedlichkeit der Herangehensweise jenes intime Bündnis zwischen ihnen, von dem nur sie wußten, weil es einem gemeinsamen Erfahrungshorizont entsprang. Das Briefeschreiben war vor diesem Hintergrund unkompliziert, daher wird auch kaum darüber reflektiert. Briefe wurden nicht dringend erwartet und nicht vermißt. Man konnte ebenso eine Rezension oder einen Essay schreiben, die man sich zuschickte. Nach dem Tod Brochs denkt Hannah Arendt über das "bißchen Freundschaft" nach, das in der Beziehung zu Broch gefehlt hatte und ihm, als er starb, "Hören und Nähe entzog, auf das er ein Recht hatte, weil er ja doch ein Freund war."

Von diesem "bißchen" weiß man oft erst danach. Es hängt mit der paradoxen Verfaßtheit der Menschen zusammen, die "mehr sind, als was sie denken oder tun" (Hannah Arendt). Die Freundschaft und der Brief sind Möglichkeiten, es zu erkunden, die Freundschaft das Vermögen, es in der Erinnerung zu bewahren.

Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel, 1926-1969. Herausgegeben von Lotte Köhler und Hans Saner, München/Zürich (Piper Verlag) 1985
Hannah Arendt/Kurt Blumenfeld, "... in keinem Besitz verwurzelt". Die Korrespondenz. Herausgegeben von Ingeborg Nordmann und Iris Pilling, Hamburg 1995
Hannah Arendt/Mary McCarthy, Im Vertrauen. Briefwechsel 1949-1975. Herausgegeben von Carol Brightman, München/Zürich (Piper Verlag) 1995

Hannah Arendt/Heinrich Blücher, Briefe 1936-1968. Herausgegeben von Lotte Köhler, München/Zürich (Piper Verlag) 1996
Hannah Arendt/Hermann Broch, Briefwechsel 1946-1951. Herausgegeben von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/Main (Suhrkamp Verlag) 1996