Zwischen Baathismus und Pragmatismus

Syrien und seine Position im Nahen Osten

Jörn Schulz

Das Kräfteverhältnis und die Bündniskonstellationen im Nahen Osten sind in Bewegung geraten. Rußland, das enge Beziehungen zu Iran, Irak und Syrien unterhält, hat sich in aller Deutlichkeit von der US-Politik distanziert. Die französische Diplomatie, deren besonderes Interesse dem Libanon, Syrien und dem Irak gilt, äußert sich vorsichtiger, hat sich aber weder durch Versprechungen noch durch Drohungen auf den US-Kriegskurs einschwören lassen. Den arabischen Staaten eröffnen sich so neue Möglichkeiten. Zu den entscheidenden Fragen gehört, welche Position Syrien einnehmen wird.

Syrien ist das geographische und politische Bindeglied zwischen dem palästinensisch-israelischen und dem Golfkonflikt. Seit der Konferenz von Madrid im Jahre 1991 hat Syrien immer wieder grundsätzliche Bereitschaft zu einem Friedensvertrag mit Israel signalisiert, unterhält aber zugleich gute Beziehungen zum Iran und betreibt eine vorsichtige Annäherung an den Irak. Beide Optionen, die Zustimmung zur Pax americana und ihre Ablehnung, bergen Risiken. Bisher hat sich das baathistische Regime unter Hafiz al-Assad alle Türen offengehalten und davon politisch wie auch finanziell kräftig profitiert. Obwohl Assad eines der säkulärsten Regime der arabischen Welt führt und den Islamismus mit harter Hand unterdrückt, kassiert er Finanzhilfen sowohl von saudischen als auch von iranischen Fundamentalisten. Er bekam die Zustimmung der USA für eine dauerhafte Hegemonie über den Libanon, obwohl Syrien regelmäßig auf deren Liste jener Staaten erscheint, die den internationalen Terrorismus und Drogenhandel unterstützen. Kein Wunder also, daß Assad bei Freund und Feind als geschickter Pragmatiker gilt.

Der Kontrast zu seinem feindlichen Bruder Saddam in Bagdad ist auffallend. Beide Diktaturen werden von der Baath-Partei regiert und haben eine ähnliche politische Struktur, ein hochgradig personalisiertes und klientelistisches Herrschaftssystem, das die Gesellschaft durch Überwachung und Terror in Schach hält. Sowohl Assad als auch Saddam waren immer bereit, die Ideale des arabischen Nationalismus zu ignorieren, wenn es ihren machtpolitischen Interessen dienlich schien. Assad tat dies jedoch mit ungleich größerem Geschick und Weitblick.

Während Saddam sein Land in zwei Angriffskriege stürzte, deren Scheitern bei einer Analyse des Kräfteverhältnisses vorhersehbar gewesen wäre, gelang es Assad in einem zwanzig Jahre andauernden zähen Ringen, die Hegemonie über den Libanon zu gewinnen. Diesen Erfolg verdankt das syrische Regime einer Strategie, die gnadenlose militärische Härte mit einer Politik der Kooptation und Zugeständnisse mischt. So gelang es auch, die syrische Opposition zu schwächen und das Regime auf eine relativ breite Basis zu stellen.

Vom aristokratischen Nationalismus zum Baathismus

Die Entwicklung des syrischen Baathismus zeigt viele Parallelen zu anderen nationalistischen Modernisierungsdiktaturen. Die radikale sozialreformistische Anfangsphase mündete in eine Zeit der Stagnation und Repression. Das Regime bediente sich nun zunehmend des Klientelismus, was es der alten Oligarchie ermöglicht, wieder an Einfluß zu gewinnen. Gegenwärtig scheint Syrien auf ein System zuzusteuern, in dem sich, wie in Ägypten und der Türkei, Militär, Technokratie und Oligarchie die Macht teilen. In der Sozialstruktur und im politischen Kräfteverhältnis gibt es jedoch einige Besonderheiten, die bislang verhindert haben, daß Syrien diesen Weg zu Ende geht.

Der arabische Nationalismus in Syrien war immer säkular orientiert, und mit der Herrschaft der Baath-Partei führte er zur Dominanz einer religiösen Minderheit, der AlawitInnen.1 In sozialer Hinsicht radikaler als andere nationalistische Regime, gelang es dem syrischen Baathismus in den Anfangsjahren, eine Koalition der Minderheiten und der unteren Klassen zu schmieden. Gegen diese Koalition stand eine islamische Widerstandsbewegung, die nicht, wie die Mehrzahl der islamistischen Organisationen, die Interessen der aufstrebenden Mittelschichten gegen eine westlich orientierte Oligarchie vertrat, sondern das Interesse der alten Elite an der Rückgewinnung ihrer Macht, und die gegen ein Regime antrat, das, wenigstens der Rhetorik nach, an vorderster Front im Kampf gegen Israel stand.

Diese untypische Konstellation hat ihre Wurzeln in der spätosmanischen Zeit. In Syrien war der arabische Nationalismus zunächst die Ideologie eines Teiles der Oberschicht und einiger kleinbürgerlicher Intellektueller und Offiziere im Kampf gegen die Türkisierungspolitik des Osmanischen Reiches. Angesichts der Vielfalt ethnischer und konfessioneller Gruppen konnte nur ein säkularer Nationalismus die Bevölkerung zusammenführen. Von Anfang an spielten Angehörige religiöser Minderheiten eine wichtige Rolle in der Nationalbewegung.

Die aristokratisch dominierte frühe Nationalbewegung verließ sich auf das britische Versprechen, als Gegenleistung für die Hilfe im 1. Weltkrieg die Gründung eines unabhängigen Königreichs zu unterstützen. Im geheimen Syces-Picot-Abkommen hatten Großbritannien und Frankreich die arabischen Territorien des Osmanischen Reiches jedoch bereits unter sich aufgeteilt; 1920 wurde Syrien von französischen Truppen besetzt. Die folgende Mandatsherrschaft war ein kaum verbrämter Kolonialismus, ließ der politischen Organisierung jedoch einen gewissen Spielraum. Eine einheitliche Nationalbewegung gab es zunächst nicht.

Die Führer der frühen arabischen Nationalbewegung hatten sich durch ihre Zusammenarbeit mit den Mandatsmächten kompromittiert. Als Agrar- und Handelsbourgeoisie dominierten sie das politische System und zeigten eine notorische Unfähigkeit, einen modernen Staat zu schaffen und die sozialen Spannungen zu mildern. Seit den 30er Jahren entstand in den Mittelschichten eine neue nationalistische Bewegung, die der alten Oligarchie den Kampf ansagte. Zu ihrer stärksten Organisation wurde die Baath-Partei, die ihren Aufstieg 1940 als ein von den Lehrern Michel 'Aflaq und Salah al-Din al-Bitar gegründeter studentischer Diskussionszirkel begann.

Die Baath-Ideologie orientierte sich am romantisch-völkischen deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Baath bedeutet Wiedergeburt, angestrebt wird ein alle arabischsprachigen Regionen umfassender Gesamtstaat, der die Größe und weltpolitische Bedeutung des frühislamischen Kalifats wieder erreichen, also unabhängig von ausländischer Einflußnahme sein soll. Dem Islam wird eine wichtige Rolle bei der Entstehung der arabischen Nation zugesprochen, Bedeutung bei der Gestaltung der Gesellschaft soll die Religion jedoch nicht haben. Der Baathismus strebte eine gesellschaftliche Modernisierung und eine Umverteilung des Reichtums an, die als "arabischer Sozialismus" bezeichnet wurde. Letztlich blieben die Ba'thisten die Antwort darauf schuldig, was denn nun das spezifisch arabische an ihrem Sozialismus sein soll, 'Aflaq verschanzte sich hier hinter Phrasen wie: "Der Sozialismus ist die Religion des Lebens und dessen Sieg über den Tod."

Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Frankreich seine Position in Syrien nicht mehr halten, 1946 wurde das Land unabhängig. Die Niederlage im ersten israelisch-arabischen Krieg 1948 diskreditierte die alte Oberschicht vollends. 1949 putschte das Militär - gleich dreimal in einem Jahr. Auch die folgenden Jahre waren von Machtkämpfen zwischen putschenden Offizieren und schwachen zivilen Regierungen geprägt. Doch die Macht des Offizierskorps litt unter dessen Uneinigkeit, so daß letzten Endes doch immer wieder die alte Elite an die Macht kam.

Die Baath-Partei hatte sich unterdessen durch den Zusammenschluß mit anderen nationalistischen Parteien verstärkt. Der wichtigste Neuzugang war die Arabische Sozialistische Partei unter Führung von Ahram al-Hourani, denn Hourani war der Inspirator der Putschisten in der Armee.

Die radikalreformistische Epoche

Das baathistische Politikverständnis war immer elitär. Die Parteikader sollten die Bürokratie und vor allem das Militär unterwandern, um so die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Putsch zu schaffen. Wie im Irak und Ägypten war der Parlamentarismus eine von den Kolonialmächten eingeführte und von der Oligarchie beherrschte Institution, die Entmachtung der alten Elite schien den arabischen Nationalisten nur über die Beseitigung des parlamentarischen Systems möglich zu sein. Dies entsprach zudem dem Interesse der aufstrebenden Mittelschichten, sich selbst an die Spitze der Gesellschaft zu setzen. Ihr nationalistisches Regime sollte die führende und ausgleichende Kraft zwischen den Klassen sein.

Zunächst strebten die Baathisten eine gemeinsame Führung mit dem ägyptischen Militärregime der Freien Offiziere an, weil sie sich allein noch zu schwach für eine Konfrontation mit der alten Elite fühlten - bei den Wahlen 1959 errang die Partei magere 2,5 Prozent. Es stellte sich jedoch schnell heraus, daß die Annäherung an Ägypten, die 1958 zum Zusammenschluß beider Staaten in der Vereinigten Arabischen Republik (VAR) führte, ein schwerer strategischer Fehler war. Zunächst hatte die Mehrheit der Partei sogar ihrer Selbstauflösung und dem Beitritt zu Nassers Einheitspartei zugestimmt. Als die ägyptische Hegemonie in der VAR immer drückender wurde, putschte das Militär erneut. 1961 erklärte Syrien den Austritt aus der VAR.

1963 kam bei einem weiteren Putsch jene Fraktion der Baath-Partei an die Macht, die sich der Selbstauflösung widersetzt hatte. Nun zahlte sich die geduldige Unterwanderungsarbeit aus, diesmal war die baathistische Dominanz im Offizierskorps groß genug, um eine dauerhafte Herrschaft zu etablieren. In den folgenden sieben Jahren wurde eine radikalreformistische Politik betrieben, die die konfessionellen Minderheiten, die ländlichen Regionen, die Mittelschichten und die unteren Klassen begünstigte. Alle Banken und ein Großteil der Industrie wurden verstaatlicht, eine Landreform reduzierte den Großgrundbesitz.

Diese Maßnahmen stießen auf den Widerstand der sunnitischen Bourgeoisie und eines Teiles der Mittelschichten - die staatliche Kontrolle über Handel und Geldverkehr traf auch kleine Händler und Handwerker. So formierte sich eine Koalition, die mit islamischen Parolen gegen die baathistische Herrschaft antrat. Neben den sozialen Reformen, die mit der atheistischen Sowjetunion identifiziert wurden, bekämpfte die Bewegung vor allem die Bevorzugung konfessioneller Minderheiten. Die islamischen Widerstandsgruppen erklärten die alawitische Minderheit für unislamisch und das von ihr dominierte Regime für gottlos.

Im Gegensatz zu den programmatisch gewollten Reformen war die Konfessionalisierung des Regimes eine pragmatische Entscheidung. Nach dem Scheitern der VAR hatte sich die Baath-Partei nach neuen Bündnispartnern umgesehen und sie unter den religiösen Minderheiten gefunden, vor allem den Alawiten, die ebenso wie die Baathisten ein Interesse daran hatten, die Macht der sunnitischen Oligarchie zu brechen. Die Armee gehörte zu den wenigen Institutionen, in denen Angehörige der Minderheiten Aufstiegschancen hatten. Ihre überproportionale Vertretung wurde nun gezielt verstärkt, das Baath-Regime drängte sunnitische Offiziere aus der Armee und benachteiligte Sunniten bei der Zulassung zur Offizierslaufbahn.

Die islamistische Herausforderung

Insgesamt gab es sechs Revolten des islamischen Widerstands gegen die Baath-Herrschaft. In ihnen verbündete sich die islamistische Bewegung im engeren Sinne mit eher konservativ-traditionalistischen, meist von Religionsgelehrten (Ulama) und Predigern geführten Gruppen. Hinter letzteren standen in aller Regel Handelsbourgeoisie und Großgrundbesitzer. Auch der 1946 gegründete syrische Zweig der Muslimbruderschaft war der traditionellen Gesellschaft stärker verbunden als die Mutterorganisation in Ägypten, hatte jedoch zunächst Frontstellung gegen die Oligarchie bezogen. Erst die baathistische Machtübernahme brachte beide Strömungen zusammen.

Fast drei Viertel der Bevölkerung bekennen sich zur Sunna, doch die konfessionelle Solidarität erwies sich als nicht ausreichend für eine allgemeine Mobilisierung - obwohl der linke Flügel der Baath-Partei in den 60er Jahren offen gegen die traditionelle Religiosität Stellung bezog. Die Sozialreformen hatten die Basis des Regimes verbreitert, und die Dominanz der alten Oligarchie im islamischen Widerstand war unübersehbar. So gelang eine Gegenmobilisierung, unter anderem wurden Arbeitermilizen gegen islamistische Unruhen eingesetzt.

Innerhalb der Baath-Partei setzte sich der linke Flügel durch, der 1966 mit einem Putsch die alte Parteiführung entmachtete. Die Niederlage im Krieg gegen Israel 1967 diskreditierte diese Strömung und ebnete den Weg für eine politische Wende. Im November 1970 putschte sich Hafiz el-Assad, Verteidigungsminister und Befehlshaber der Luftwaffe, an die Macht. Assad machte der Oligarchie einige Zugeständnisse und begünstigte insbesondere die Bourgeoisie von Damaskus. Die Ära der sozialen Reformen ging zu Ende, und die kulturrevolutionären Kräfte in der Baath-Partei wurden gestoppt.

Assad gab sich alle Mühe, den Vorwurf des Unglaubens zu entkräften. Mehrfach ließ er der alawitischen Konfession von hohen schiitischen und sunnitischen Gelehrten Rechtgläubigkeit bescheinigen. Er absolvierte vor laufenden Kameras religiöse Rituale, ließ die religiösen Formeln bei öffentlichen Zeremonien wieder einführen und erhöhte die Gehälter der Ulama. Die Islamisten beeindruckte all das wenig. An der alawitischen Dominanz änderte sich nichts, und für ein Regime, dessen Basis eine religiöse Minderheit ist, kam eine "Islamisierung" von oben nicht in Frage.

In sozialer Hinsicht hatte das Regime stark an Glaubwürdigkeit verloren. Es war für alle Welt offensichtlich, daß viele baathistische Funktionäre und Offiziere sich am "arabischen Sozialismus" kräftig bereicherten; Korruption und Klientelismus breiteten sich aus. Zudem häuften sich die Widersprüche zwischen arabisch-nationalistischer Ideologie und politischer Praxis. Den Krieg gegen Israel im Jahre 1973 konnte Assad noch als Sieg verbuchen, obwohl er militärisch gesehen in einer Pattsituation endete und Syrien, anders als Ägypten, keine spektakulären militärischen Erfolge gelangen - die 1967 verlorenen Golanhöhen blieben israelisch besetzt.

Schwieriger war es zu erklären, warum die syrischen Truppen zunächst die maronitisch-christlichen Milizen unterstützten, als sie 1976 in den libanesischen Bürgerkrieg eingriffen. Die arabische Einheit machte keinerlei Fortschritte - im Gegenteil. Mehrfach stand Syrien kurz vor dem Krieg mit Jordanien. Statt einer Vereinigung mit dem Irak, der seit 1968 ebenfalls von der Baath-Partei regiert wurde, näherzukommen, verschlechterte sich das Verhältnis.

Als der islamische Widerstand Ende der 70er Jahre eine neue Offensive begann, konnte er sich auf eine allgemeine Unzufriedenheit stützen und große Teile der städtischen Bevölkerung mobilisieren. Unter Führung der Muslimbruderschaft entstand 1980 die "Islamische Front in Syrien", zu der auch die von Ulama geführten Gruppen gehörten. Die Islamische Front begann eine Serie von Attentaten und Bombenanschlägen gegen Funktionsträger und Einrichtungen des Regimes. Ihr organisierter Kern blieb mit einigen Zehntausend Aktivisten jedoch zu klein und konzentrierte sich auf einige wenige Städte. Dem islamischen Widerstand, der mit dem Baathismus um die gleiche soziale Basis konkurrierte, fehlte eine landesweite Verankerung und der Zugang zu wichtigen Bevölkerungsschichten. Die Parteinahme gegen die Staatswirtschaft und die Landreform entfremdete der Bewegung einen großen Teil der Mittelschichten. Unter Industriearbeitern und Bauern konnte sie nie großen Einfluß gewinnen.

Verantwortlich für die Unterdrückung der Revolte war Assads Bruder Rifa'at, der öffentlich drohte, jeden Aufstand in Blut zu ertränken, und erklärte, wer sich nicht zum Regime bekenne, werde als Feind betrachtet. Als 1982 die Islamische Front die Macht in der nordsyrischen Stadt Hama übernahm, belagerte die Armee die Stadt drei Wochen lang und beschoß sie mit schweren Waffen, Amnesty schätzte die Zahl der Opfer auf 10 bis 25.000. Das Massaker verfehlte seine Wirkung nicht. Die Islamische Front verlor ihr unterstützendes Umfeld, die Muslimbruderschaft zerfiel in verschiedene Fraktionen und mußte sich ins Exil zurückziehen. Es gelang dem Repressionsapparat, die verbliebenen bewaffneten Gruppen weitgehend zu zerschlagen. Seitdem war das Regime nicht mehr ernsthaft bedroht.

Kleine Freiheiten und vorsichtige Liberalisierung

Dazu hat auch eine relativ liberale Kulturpolitik beigetragen, die sich bemüht, die Bevölkerung nicht unnötig zu verärgern und durch die Gewährung kleiner Freiheiten der Unzufriedenheit ein Ventil zu lassen. Den Konfessionen ist die Ausübung ihrer Religion garantiert, kurdische Sprache und Folklore sind gestattet, solange sie nicht in politische Opposition umschlagen - Syrien ist das einzige Land mit einer kurdischen Minderheit (etwa 10% der Bevölkerung), in dem es keine bedeutenden Widerstandsorganisationen gibt.

Zwar nimmt der Personenkult zuweilen bizarre Formen an - so sind die Deckel, die die Kanonen syrischer Panzer vor Flugsand schützen, mit einem Porträt Assads verziert, der auf diese Weise seinen Truppen immer voranzieht -, doch im Alltag hält sich die propagandistische Belästigung in Grenzen. Assad schreibt seinen Untertanen nicht vor, wie sie sich zu kleiden haben, und obwohl Satellitenschüsseln und der Import westlicher Videofilme verboten sind, wird beides geduldet. Syrien hat sich sogar zu einem Zentrum der Film- und Fernsehproduktion gemausert, das dem bislang dominierenden Ägypten ernsthafte Konkurrenz macht. Syrische Regisseure dürfen sich über das Pathos arabischer Politiker und die Unfähigkeit der Bürokraten lustig machen - solange alles so allgemein bleibt, daß es nicht bestimmten Staaten zugeordnet werden kann.

Dem entspricht in politischer Hinsicht das Bemühen, die klientelistische Basis des Regimes zu erweitern, ohne Spielraum für wirkliche Opposition aufkommen zu lassen. Diesem Zweck dient das Mehrparteiensystem, das mehrere nationalistische Parteien und die KP unter Führung der Baath-Partei zusammenschließt. Die Mischung aus Repression und Kooptation hielt die oppositionellen Strukturen im Untergrund schwach. Mitte der 80er Jahre fühlte das Regime sich sicher genug für weitere Schritte einer vorsichtigen Liberalisierung, öffnete die Baath-Partei für die sunnitische Bourgeoisie und erweiterte deren ökonomischen Spielraum.

Deren Vertreter Bachir al-Najjar, der zunächst als Generaldirektor des Zolls die Geschäfte seiner Klientel gefördert hatte, wurde 1995 sogar zum Chef der "nationalen Sicherheit" ernannt, die den Repressionsapparat koordiniert. Als Politkommissar wurde ihm General Nacif, ein Hardliner des Regimes und enger Vertrauter Assads, an die Seite gestellt. Zudem sucht Assad die Verständigung zumindest mit einigen Fraktionen der Muslimbruderschaft, verlangt als Preis dafür allerdings deren politische Kapitulation und Unterordnung. Zu einer Einigung kam es bislang nicht.

Den Zugeständnissen an den privaten Sektor entsprach eine Umorientierung des syrischen Handels vom sozialistischen Lager auf die EU-Staaten, mit denen Syrien heute mehr als die Hälfte seines Handels abgewickelt. Syrien war insofern auf den Zusammenbruch des einst wichtigsten Bündnispartners, der Sowjetunion, vorbereitet. Der zweite Golfkrieg gab Assad dann die Gelegenheit, auch Ersatz für die nun ausbleibende sowjetische Finanzhilfe zu finden. Die Teilnahme eines "radikalen" arabischen Staates am Feldzug gegen den Irak war politisch sehr nützlich, insgesamt flossen 1991 aus arabischen und westlichen Quellen drei bis fünf Milliarden Dollar in die Kassen Assads. Im gleichen Jahr verbesserte das Regime durch das "Gesetz Nr. 10" die Möglichkeiten für Auslandsinvestitionen und schickte seine Vertreter zu der von den USA organisierten Friedenskonferenz nach Madrid. Es sah fast so aus, als würde sich Syrien ohne Wenn und Aber auf die Seite des Westens schlagen.

Eine solche Entscheidung hätte jedoch das Regime destabilisiert. Assad ist nicht gewillt, die Macht der sunnitischen Bourgeoisie unkontrolliert wachsen zu lassen. So behält sich der Staat wichtige Steuerungsmöglichkeiten vor und kontrolliert weiterhin den Geldverkehr - es gibt in Syrien keine privaten Banken oder Börsen. Dennoch liegt der Anteil des privatkapitalistischen Sektors an der Industrieproduktion bei 50 Prozent. Die Einkommensverteilung ist extrem ungleich, 15 Prozent der Bevölkerung verfügen über 80 bis 85 Prozent der Einkommen und Vermögen. Subventionen für Güter des Grundbedarfs mildern die Armut. Die "IWF-Aufstände" in anderen arabischen Staaten belegen, wie gefährlich es sein kann, die Subventionen anzutasten. Das Regime will die Stärkung des privaten Sektors nur schrittweise vorantreiben, um soziale Unruhen zu vermeiden.

Sicherheitsrisiko Frieden

Obwohl es keine akute Bedrohung gibt, ist die Macht des Regimes nur so lange sicher, wie das ausbalancierte Klientelsystem hält, und Assad muß immer damit rechnen, daß es Offiziere gibt, die mit einer Wiederaufnahme der baathistischen Tradition des Putschens liebäugeln, wenn die Situation günstig erscheint. Neben dem Offizierskorps hat auch die zivile Technokratie und Parteibürokratie beträchtlichen Einfluß; es soll linksbaathistische Tendenzen geben, die die Zugeständnisse an die Bourgeoisie kritisieren und eine Wiederaufnahme der Sozialreformen fordern. Auch ein neuer islamistischer Aufschwung kann nicht ausgeschlossen werden. Hier befindet sich Assad in einer Zwickmühle. Um die sunnitische Bourgeoisie zu integrieren und die Geldgeber in den Golfmonarchien nicht zu verärgern, sind Zugeständnisse erforderlich. Andererseits ist es unwahrscheinlich, daß die Islamisten sich dankbar zeigen werden.

Das Regime will seine Rolle als vermittelnde Instanz zwischen unterschiedlichen Klasseninteressen weiterspielen. Syrien kann sich eine solche Politik leisten, weil das Land es trotz hoher Auslandsschulden (etwa 22 Mrd. Dollar) bisher nicht nötig hatte, den IWF um Beistand zu bitten. Die gemischte Wirtschaft funktioniert erstaunlich gut, immerhin liegt das Wirtschaftswachstum mit 4 bis 6 Prozent über dem Bevölkerungswachstum von 3,4 Prozent, und die Zahlungsbilanz ist meist positiv. Das syrische Pfund ist nicht frei konvertierbar, hat aber einen stabilen Schwarzmarktwert.

Auf längere Sicht wird der Druck wachsen, denn die relativ gute wirtschaftliche Lage ist nicht zuletzt auf die massiven Finanzhilfen der Golfmonarchien zurückzuführen, die sich aufgrund eigener wirtschaftlicher Probleme in Zukunft weniger großzügig zeigen werden. Auch die Ölquellen, denen Syrien gegenwärtig zwei Drittel seiner Exporteinnahmen verdankt, werden, so jedenfalls die Schätzung westlicher Experten, in zehn bis fünfzehn Jahren versiegen.

Gegenwärtig kann Syrien sich westlichen Forderungen nach weiterer wirtschaftlicher Öffnung noch widersetzen, und das Regime kann dabei auch auf einen Teil der Bourgeoisie zählen.

Ähnlich wie im Iran ist der private Sektor nicht durchgängig für eine wirtschaftliche Öffnung. Gegenwärtig existiert eine schwach technisierte Konsumgüterindustrie für Textilien und Agrarprodukte, die auf dem Weltmarkt ebensowenig konkurrenzfähig wäre wie die syrische Landwirtschaft. Die Ängste konzentrieren sich auf die israelische Wirtschaft, hier trifft sich das Interesse von Teilen der Bourgeoisie mit der islamistischen Ablehnung eines Friedensvertrages mit Israel.

Innen- und außenpolitische Entscheidungen sind eng miteinander verzahnt. Die Konfrontation mit Israel ist die wichtigste Legitimation der Diktatur, sie integriert manche, die der baathistischen Ideologie ansonsten feindlich gegenüberstehen. Wenn es zu einem Friedensvertrag mit Israel kommt, wird der Ruf nach Liberalisierung lauter werden. Assad muß dann etwas vorweisen können. Zentral ist die vollständige Rückgabe des Golan, darüber hinaus muß es so etwas wie eine ökonomische Friedensdividende geben, schon um jene arabischen Finanzhilfen zu ersetzen, die Syrien jetzt als "Frontstaat" erhält.

Selbst wenn beides gegeben ist, werden Islamisten und radikale Nationalisten ihn einen Verräter nennen. Der Frieden bleibt ein Risiko, insofern ist Assad vielleicht gar nicht so unglücklich über den gegenwärtigen Stillstand in den palästinensisch-israelischen Verhandlungen. Mit Hilfe der libanesischen Hisbollah kann Syrien einen gewissen militärischen Druck auf Israel aufrechterhalten, und wenn es zu Vergeltungsaktionen kommt, treffen sie libanesisches Territorium. Solange kein akzeptables Angebot kommt, kann Assad es sich leisten zu warten, und er gewinnt so auch noch Sympathien in der arabischen Welt.

Die Tür zu weiteren Verhandlungen soll jedoch offen bleiben. Im Januar erklärte Außenminister Sharaa, die USA würden ihrer Rolle als Vermittler nicht gerecht. Eine wenig überraschende Aussage, doch in der gleichen Erklärung lobte Sharaa ausdrücklich die Rolle der USA bei der Organisierung der Konferenz von Madrid 1991 und den syrisch-israelischen Verhandlungen 1995/96 in Maryland. Damals, so wird von syrischer Seite behauptet, standen die Verhandlungen kurz vor dem Abschluß, Peres habe einer Rückgabe des Golan zugestimmt. Darin steckt einige propagandistische Übertreibung, daß es Fortschritte gab, wurde jedoch auch von Peres bestätigt.

Gegen die Pax americana?

Problematisch für beide Seiten ist die Entmilitarisierung im Hinterland der Golanhöhen. Syrien fordert, daß auch auf israelischer Seite eine entmilitarisierte Zone geschaffen wird, wovon auch die Arbeitspartei nichts wissen will. Umstritten bleibt auch die Zusammensetzung jener Truppe, die die Entmilitarisierung überwacht. Wohl jede israelische Regierung wird auf einer Truppe bestehen, der überwiegend US-Soldaten angehören. Das ist für Assad schwer zu akzeptieren, darüber hinaus sperrt er sich gegen die Forderung nach einer Öffnung Syriens für israelische Produkte. Netanjahu scheint gegenwärtig eher an einem Separatfrieden mit dem Libanon interessiert zu sein, was auf entschiedenen syrischen Widerstand stoßen muß, zumal er darauf besteht, die Verhandlungen mit Syrien "ohne Vorbedingungen", also ohne Berücksichtigung des in Maryland erreichten Standes, neu zu beginnen. Darauf wiederum will sich Assad nicht einlassen.

Durch das israelisch-türkische Bündnis ist Syrien zwischen zwei militärisch überlegenen Mächten eingeklemmt, die zudem noch einen beträchtlichen Teil der Wasserversorgung des Landes kontrollieren. Mit der Teilnahme an israelisch-türkischen Manövern nahe an syrischen Hoheitsgewässern haben die USA signalisiert, daß sie dieses Bündnis unterstützen. Diese einseitige Parteinahme drängt Syrien zu einer stärkeren Zusammenarbeit mit jenen Staaten, die ebenfalls ein Interesse daran haben, den Einfluß dieses Bündnisses zurückzudrängen.

Das Bündnis mit dem Iran schloß Syrien 1980. Beide Seiten ließen ihre ideologischen Gegensätze hinter den gemeinsamen Interessen zurückstehen, und es kann nicht ausgeschlossen werden, daß sie sich zu einer engeren Zusammenarbeit mit dem Irak bereitfinden. Zu denken ist dabei weniger an ein mit großem rhetorischem Pathos verkündetes Bündnis oder direkte militärische Unterstützung als an taktische Absprachen, beispielsweise um den türkischen Einfluß im Nordirak zurückzudrängen. Dort sollen sich Presseberichten zufolge die türkischen Truppen darauf vorbereiten, eine neue Massenflucht irakischer KurdInnen mit militärischen Mitteln zu verhindern und in Lager auf irakischem Boden umzulenken. Sollte das stimmen, rechnet der türkische Generalstab mit einem irakischen Vormarsch in die "Autonomieregion" schon in unmittelbarer Zukunft und gedenkt trotzdem, eine massive Truppenpräsenz auf irakischem Territorium aufrechtzuerhalten.

Sicher ist, daß das irakische Regime jetzt nicht mehr lockerlassen wird, bis die Sanktionen aufgehoben sind, und daß die USA sich in eine Situation manövriert haben, in der sie ohne Gesichtsverlust nicht mehr zurückstecken können. Die einzig noch mögliche diplomatische Lösung besteht darin, die irakische Zustimmung zu ungehinderten Inspektionen mit einem konkreten Zeitplan für das Ende des Embargos zu verknüpfen. Im Moment sieht es nicht so aus, als würde es zu einer solchen Vereinbarung kommen. Eine militärische Konfrontation wird damit unvermeidlich, und wenn die Lage im Nordirak weiter eskaliert, droht eine Ausweitung des Konflikts mit unabsehbaren Folgen.

1 Die große Mehrheit der Bevölkerung, 74%, ist sunnitischen Glaubens. Etwa 15% folgen anderen islamischen Konfessionen, die meisten von ihnen (12%) sind AlawitInnen. Der Anteil der verschiedenen christlichen Konfessionen liegt bei 10%. In der sunnitischen Orthodoxie ist umstritten, ob die Alawiyya als rechtgläubig gelten kann. Die alawitische Theologie sucht nach einem verborgenen Sinn hinter den koranischen Versen und erklärt deren Wortlaut für nicht bindend. Dies gilt insbesondere fundamentalistischen Muslimen als gottlos. In historischer Hinsicht ist die Alawiyya Teil der schiitischen Strömung des Islam.