IMRO + 100 = FYROM

Politik und Geschichte in Makedonien

Stefan Troebst

 

Die Parlamentswahlen in Makedonien vom 1. November 1998 haben in Skopje einen Machtwechsel bewirkt von der seit 1992 regierenden post-kommunistischen und gelegentlich "YU-nostalgischen" Koalition zu einer neuen, dezidiert marktwirtschaftlichen und antiserbischen Koalitionsregierung. Zwar ist die neue Regierung gleich der alten ein Bündnis von Parteien der makedonischen Titularnation mit solchen der großen albanischen Minderheit, doch gibt den Ton die makedonisch-nationalistische Partei IMRO-DPNME an.

 

Am 3. November 1893 wurde in der osmanischen Provinzhauptstadt Selânik, dem heutigen Thessaloniki, von sieben christlich-orthodoxen Intellektuellen ostsüdslawischer Zunge eine gegen die Herrschaft des Sultans gerichtete, nationalrevolutionäre und konspirative Vereinigung mit der mutmaßlichen Bezeichnung "(Innere) Makedonische Revolutionäre Organisation", abgekürzt IMRO, gegründet. Ziel war die Erlangung eigener Staatlichkeit, zunächst in Form von territorialer Autonomie innerhalb des Osmanischen Reiches. 100 Jahre später, am 8. April 1993, nahmen die Vereinten Nationen einen als "The Former Yugoslav Republic of Macedonia" bezeichneten und mit FYROM abgekürzten Staat als 181. Mitglied1 auf, dessen stärkste politische Partei, die "Innere Makedonische Revolutionäre Organisation Demokratische Partei für Makedonische Nationale Einheit", abgekürzt IMRO-DPMNE, ganz bewußt auf die Bezeichnung jener ein Säkulum zuvor gegründeten Untergrundbewegung rekurrierte.

Stellt FYROM die Verwirklichung des politischen Programms jener IMRO des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar? Führt von dieser eine direkte Kontinuitätslinie zur IMRO-DPMNE des ausgehenden 20. Jahrhunderts? Haben wir es hier mit dem Resultat eines sich über hundert Jahre erstreckenden verspäteten Prozesses von der Nationsbildung zur Staatsbildung zu tun?

 

Traditionskonstruktion durch Geschichtsdeutung

So eindeutig diese Fragen seitens der liberalen, nationalistischen und staatstreuen Flügel der Geschichtsschreibung des neuen makedonischen Staates bejaht werden, so unzweideutig negativ lauten die Antworten der Fachkollegen aus den Nachbarstaaten Bulgarien, Griechenland und Serbien-Montenegro. Aus Sofioter Perspektive war die IMRO der Jahrhundertwende eine genuin bulgarische Gründung, mit dem Ziel des Anschlusses der drei nach dem Pirin-Gebirge, dem Fluß Vardar und dem Ägäischen Meer benannten historischen Teilgebiete des damals osmanischen Makedoniens - und ist es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geblieben. Folglich ist das 100jährige IMRO-Jubiläum des Jahres 1993 nicht nur in Skopje, sondern vor allem auch in Sofia gefeiert worden, und so ist auch zu erklären, daß sich innerhalb des Bündnisses antikommunistischer Parteien im Nach-"Wende"-Bulgarien eine "Innere Makedonische Revolutionäre Organisation Bund der Makedonischen Vereine", abgekürzt IMRO-BMV, findet. Teilweise ähnlich, in entscheidenden Punkten indes unterschiedlich, ist die Athener und Belgrader Perspektive: Auch hier hält man die antiosmanische IMRO für eine bulgarisch dominierte Organisation, den makedonischen Staat hingegen für ein genmanipuliertes, artifizielles Produkt aus der Retorte stalinscher oder titoscher nation-building, dem deshalb nur geringe Überlebenschancen zugemessen werden.

Aus der Sicht des bulgarischen, serbischen und griechischen Nationalismus war die "Makedonische Frage" des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ein Nullsummenspiel und ist es in dieser Perspektive bis heute noch: Jede Schwächung der eigenen Position bedeutet eine Stärkung eines oder beider Rivalen, jeder eigene Zugewinn einen Verlust für die gegnerische Seite. Das Auftreten eines zusätzlichen vierten Akteurs in Gestalt Skopjes war für Sofia wie Athen wie Belgrad unbegreiflich, da in den dortigen Denkschemata nicht vorgesehen. Da was nicht sein darf, was nicht sein kann, wurde das Problem mit aller Kraft "weggedacht": Aus bulgarischer Sicht wurde der makedonische Nationalismus kurzerhand zu einem serbischen (!) Hirngespinst erklärt; aus griechischer Sicht zu einer nicht überlebensfähigen Sumpfblüte moskauischer Provenienz; und aus serbischer Sicht schwankte man zwischen der Hoffnung auf die Reversibilität der neuen Makedonier zum "Südserbentum" und dem Argwohn vor deren - verdeckter "Bulgaromanie". Als sich das bis dahin vornehmlich historiographisch-linguistische Problem dann 1991 in akut politischer Form erstmals real stellte, verfügte man in Bulgarien, Griechenland und Serbien über keinerlei Gegenstrategien und verfiel ersatzweise in konzeptionsloses Kriegs- oder Klagegeschrei. Ebenso wie seitens Rumäniens die gleichfalls einen modernen Nationsbildungsprozeß abschließende Staatswerdung der benachbarten Republik Moldovia fassungslos beobachtet wurde, tappten auch die Anrainerstaaten der nun unabhängigen Republik Makedonien in die Kontinuitätsfalle ihrer eigenen Nationalismen: "Einmal rumänisch, immer rumänisch!" stimmte für Zentralbessarabien genauso wenig wie dergleichen Postulate für Vardarmakedonien Gültigkeit besaßen. Weder kehrte der moldavische "verlorene Sohn" reumütig zu seinem rumänischen "Vater" zurück, noch zog es die 1913 von Serben und Griechen gewaltsam entführte und geschändete "Tochter Makedonien" nach ihrer "Freilassung" in den Schoß von "Mutter Bulgarien" - Verhaltensweisen, die die in Frage stehenden Elternteile sich in keiner Weise erklären konnten. Desgleichen reichte das Abstraktionsvermögen der politischen Klasse Griechenlands bei weitem nicht zum Verständnis der Tatsache aus, daß die sich von Athen aus als "stalinistisch-titoistische Seifenblase" ausnehmende, "gegen Recht und Geschichte" als solche bezeichnete "makedonische Nation" nicht umgehend zerplatzte. Und der nur in politischer Hinsicht fragmentierte serbische Nationalismus war völlig konsterniert ob des Umstandes, daß das aus Belgrader Perspektive amorphe, primär von "Zigeunern, Bulgaren und Skipetaren" bewohnte temporäre Gebilde auf dem Gebiet des historischen Südserbien nach Abzug der Jugoslawischen Volksarmee vom April 1992 nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel.

Die politisch so bedeutsamen, wissenschaftlich hingegen naiven Interpretationen der modernen Geschichte Makedoniens aus großserbischer, großgriechischer, großbulgarischer und großmakedonischer Sicht, die nicht minder laienhaften makedonienbezogenen Sondervoten der türkischen und albanischen Nationalhistoriographien sowie die noch wenig wirkungsmächtigen Geschichtskonzeptionen von Aromunen, "ägyptischen" Roma, Torbeschen und anderen Volksgruppen mehr leiden sämtlich unter ein und derselben Perspektivverzerrung: Sie gehen alle von einer einzigen historischen Traditionslinie aus, die, sei sie auch noch so dünn, als ausschlaggebend gesetzt und rigoros in beide Richtungen der Zeitachse ausgezogen wird. Zeitgenössische Ideen lassen sich so bequem in die Vergangenheit zurückprojizieren, historische Sachverhalte in die Gegenwart, ja in die Zukunft hinein verlängern. Historische, ideologische oder politische Diskontinuitäten und Brüche, gar Wechsel ethnonationaler Paradigmen, finden in solch statisch-deterministischer Geschichtsdeutung keinen Platz.

Ein Paradebeispiel ist etwa der Territorialkatalog des Vorfriedens von San Stefano, 1878, mit seinen an Ägäis und Ohrid-See, ja fast an die Adria reichenden Grenzen, den die moderne bulgarische Nationalgeschichtsschreibung zum Fixpunkt im politischen Koordinatensystem des bulgarischen Nationalismus bestimmt hat. Historisch gesehen handelt es sich um einen schlichten Irrtum, deckte sich doch der Territorialbestand der mittelalterlichen Reichsbildungen der Bulgaren nur sehr partiell mit dem im osmanisch-russischen Präliminarvertrag skizzierten Grenzverlauf. Politisch gesehen hingegen war (und ist) der San-Stefano-Mythos ein voller Erfolg, wie ein Blick auf Innen- und Außenpolitik unter den wechselnden politischen Regimen im Bulgarien der Jahre 1879 bis 1997 belegt. Im "Wende"-Jahr 1990 wurde der San-Stefano-Tag, der 3. März, gar zum Nationalfeiertag des demokratischen Bulgarien erhoben. Demokratie wird hier im nationalen Sinne instrumentalisiert, verkommt zum Büchsenöffner in Pandoras Hand.

Derselben historiographischen Mechanismen bedienen sich die benachbarten Nationalgeschichtsschreibungen, die ebenfalls mit zunehmender Institutionalisierung und Professionalisierung nicht zwangsläufig ausgereifter, sondern nicht selten anachronistisch werden. Zu flexibler Reaktion auf das Auftreten eklatanter Diskrepanzen zwischen Mythos und Realität sind die Mythenschöpfer nur in den seltensten Fällen fähig, können die Kluft beispielsweise zwischen dem mythischen Ohrid-Bild der Bulgaren und der gegenwärtigen Befindlichkeit der Bewohner dieser südwestmakedonischen Stadt oder, noch krasser, zwischen dem Amselfeld-Mythos des serbischen Nationalismus und der rein albanischen Prägung des kulturellen Lebens im Kosovo der Gegenwart nicht mehr überbrücken. Hier sind die newcomer unter den balkanischen Nationalismen deutlich im Vorteil, da deren neugeschaffene Koordinatensysteme noch Korrekturen zulassen, wie das Beispiel Vardarmakedonien zeigt. In den ersten programmatischen Entwürfen zu einer makedonischen Nationalgeschichte aus der zweiten Hälfte der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts wird das Jahrhundertereignis IMRO-Gründung, 1893, sowie der Ilinden-Aufstand samt der "Republik" von Krusevo, 1903, als "Geburtsstunde" der makedonischen Nation identifiziert; kaum existierte in Skopje dann nach dem Zweiten Weltkrieg eine institutionalisierte Geschichtsschreibung, wurde die Reichsbildung Zar Samuils im 10. Jahrhundert als Keimzelle makedonischer Staatlichkeit wie Identität ausgemacht, und zwar ungeachtet aller Einwände seitens des gleichfalls neuen und mit dem nationalgeschichtlichen Interpretationsschema rivialisierenden Vulgärmarxismus, der die auf den Beginn des 19. Jahrhunderts angesetzte Epoche der Industrialisierung als frühestmögliches Datum der Bildung einer makedonischen Nation erkennt; nicht so sehr das Erlangen staatlicher Unabhängigkeit im Jahr 1991 als vielmehr die schrille Begleitmusik seitens des griechischen Nationalismus waren dann ursächlich für eine neuerliche "Vorverlegung" des besagten Geburtsdatums, diesmal auf das 4. Jahrhundert v. Chr., also auf die Epoche Philipps II. von Makedonien und seines Sohnes, Alexanders der Große, der slawischerseits "Alexander der Makedonier" genannt wird; ein jüngster Verweis des makedonischen Präsidenten Kiro Gligorov auf die Völkerwanderung als frühestes Datum für das Auftauchen von Slawen im Südteil des Balkans ist dabei ungehört verhallt oder von extremen Nationalisten als panslawistisch und folglich unpatriotisch abgetan worden; und wiederum die Konkurrenz zum südlichen Nachbarnationalismus läßt Hobbyhistoriker und Archäologen in Skopje und Bitola derzeit an der Hypothese feilen, bei der Titularnation der heutigen Republik Makedonien handle es sich um die Nachkommen eines den Etruskern und Basken verwandten Urvolkes, das viel älter als die Griechen in Antike und Gegenwart sei. So kommt es, daß die makedonisch-griechischen Beziehungen auf dem Gebiet der Nationalgeschichtsschreibung denjenigen zwischen Hase und Igel in dem gleichnamigen Märchen ähneln.

Die Deutungen von Ethnogenese und Nationsbildung in der Region Makedonien von der Vorzeit bis zur Gegenwart durch Geschichtspropagandisten und Berufshistoriker in Athen, Belgrad, Blagoevgrad, Pristina, Sofia, Saloniki, Tirana und andernorts divergieren also so stark, daß sie nicht miteinander vereinbar sind. Überdies legt ihre auffällige Paßform bezüglich nationaler Programme politischer Faktoren in den genannten Städten die Vermutung nahe, geschichtswissenschaftliches Berufsethos ordne sich hier freiwillig - oder gezwungenermaßen - tagespolitischen Konjunkturen unter. Mit anderen Worten: Was hier in der Verpackung von Forschungsergebnissen daherkommt, sind Mogelpackungen in einem doppelten Sinne: Zum einen ist nicht drin, was draufsteht - anstelle hochkarätiger "Wissenschaft" minderwertige "Politik" -, und zum anderen entspricht auch die Füllhöhe nicht der Etikettangabe, denn statt der angekündigten "ganzen Wahrheit" wird hier jeweils nur ein subjektiver Ausschnitt aus derselben verkauft.

Dennoch wäre die sofortige und restlose Entsorgung dieser Produkte aus den Laboratorien der rivalisierenden Nationalhistoriographien voreilig: Zum einen ist ja Nationalsgeschichtsschreibung tragender Bestandtteil jedes nationalen Programmes, besitzt also unmittelbaren Quellenwert. Zum anderen haben nicht wenige Angehörige der ersten Historikergenerationen der Balkanregion solide handwerkliche Ausbildungen vor allem an habsburgischen Universitäten erfahren; so eingeengt ihr historisches Gesichtsfeld auch durch die Scheuklappen des Nationalismus gewesen ist, so klar war doch ihr Forscherblick für das Detail. Und schließlich sind Bedeutung und Wirkung des Konkurrenzverhältnisses der Nationalgeschichtsschreibungen untereinander als wissenschaftliches Korrektiv nicht zu unterschätzen: Was der eine an mißliebigen, da ins eigene nationalgeschichtliche Prokrustesbett nicht einzupassenden Erkenntnissen gezielt unterdrückt, zerrt der andere schadenfroh ans Tageslicht.2 Während also die nationalgeschichtlichen Interpretationen balkanischer Provenienz samt ihrer Artefakte getrost ins Kröpfchen wandern können, läßt sich zugleich ein ansehnliches Töpfchen mit solchen Ergebnissen anfüllen, die zur Weiterverwendung taugen.

Dies trifft vor allem für die Organisationsgeschichte der verschiedenen Bewegungen, Vereine, Parteien, Untergrundgruppierungen und so fort zu, die bis zur Republikgründung 1944, zum Teil sogar bis zur Staatsgründung 1991, unter der Bezeichnung "makedonisch" subsumiert worden sind. Hier hat sich die im Zeitraum 1950 bis 1989 materiell wie personell hervorragend ausgestattete bulgarische Geschichtswissenschaft große Verdienste erworben. Die seitens Partei und Staat wesentlich stiefmütterlicher behandelte Konkurrenz aus Skopje mußte dahinter zurückstehen. Daß indes mangelnde Quantität durch Qualität ausgeglichen werden kann, belegt das Beispiel zweier vardarmakedonischer "Einzelkämpfer" an der historiographischen Front, Ivan Katardûiev und Blaûe Ristovski3: Fast alles, was in den vergangenen vier Jahrzehnten in Skopje an Substantiellem über Organisationsformen und programmatische Grundlagen makedonischer Nationalbewegungen geschrieben worden ist, stammt aus der Feder dieser beiden Neuzeithistoriker. Im Gegensatz zu Ristovskis primär ideengeschichtlichen Untersuchungen bezieht Katardûiev in seine Darstellungen die konkreten politischen Wirkungen der verschiedenenen Ideengebäude makedonischer nationaler Identität mit ein.

Die Interdependenz zwischen Politik und Historiographie in den "sozialistischen Bruderstaaten" Jugoslawien und Bulgarien hat sich seinerzeit vor allem an der Makedonien-Kontroverse ablesen lassen. Der Stellenwert dieses mitnichten "akademischen" Problems stieg mitunter dermaßen an, daß etwa das jugoslawisch-bulgarische Verhältnis insgesamt temporär starken Spannungen mit möglichen militärischen Konsequenzen ausgesetzt war. Ein kundiger Beobachter schrieb 1973:

"Not only has the Macedonian debate been the most extensive and most bitter, it has also been the least esoteric of the nationality debates between communist parties. Although both sides generally stayed within the framework of historical debate, they have gone farther by specifically accusing each other of making territorial claims. The other historical debates between East European states have generally stopped short of this."4

Anders die jugoslawisch-griechischen Beziehungen, in denen seit 1949 das Makedonien-Problem ausgeklammert worden war: Das blockfreie Jugoslawien war für den NATO-Staat Griechenland politisch zu bedeutsam, als daß historiographische Debatten der makedonischen Sorte das bilaterale Verhältnis hätten trüben können. Um so drastischer fiel dann aber der Szenenwechsel von 1991 aus: Bulgarien, der Hauptgegner in der seit 1967 anhaltenden Makedonien-Kontroverse, versuchte sich in einer Schutzmachtattitüde gegenüber Skopje, wohingegen Griechenland im Zusammenwirken mit Serbien den neuen makedonischen Staat am liebsten von der Landkarte hätte verschwinden lassen. Zugleich setzte Athen eine gewaltige Geschichtsmaschinerie in Gang, mittels deren Ausstoßes das mißliebige Faktum eines Staates namens Makedonien "weggeschrieben" werden sollte.

Auch wenn die hellenische Makedonien-Hysterie der Jahre 1992-1995 im Abklingen ist, kommt der griechischen Geschichtswissenschaft weiterhin die Rolle eines kollektiven Propagandisten in macedonicis zu. Ganz ähnlich die Funktion der Historiker in Skopje und Sofija, von denen sich jeweils nur wenige dem starken Politisierungsdruck seitens Regierung oder Opposition entziehen können. In Griechenland, Makedonien und Bulgarien ist Geschichtsschreibung, sofern sie sich mit der antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte der Region Makedonien befaßt, noch immer unmittelbare politische Aktion.

 

Die schwierige B-Phase

Unter Rückgriff auf Miroslav Hrochs Drei-Phasen-Modell nationaler Mobilisierung "kleiner Völker" Europas - ",Phase A` des gelehrten Interesses", ",Phase B` der nationalen Agitation" und ",Phase C` der Massenbewegung"5 nimmt sich das makedonische Beispiel als Sonderfall, nicht hingegen als Ausnahme aus. Am einfachsten ist dabei Phase C als das kritische Jahrzehnt 1944-1953 zu identifizieren. Die Kommunisten innerhalb der Partisanenbewegung Vardarmakedoniens haben gemäß Belgrader Instruktion auf das spärliche makedonistische Gedankengut der vorangegangenen Dekaden zurückgegriffen und ebenso zielstrebig wie erfolgreich eine neue ethnoregionale Identität propagiert: die makedonische Nation.

Auch die "akademische" A-Phase des makedonischen Nationalismus ist relativ problemlos zu datieren, nämlich auf die Jahrzehnte vor 1893. Schwierig wird es jedoch bezüglich der agitatorischen B-Phase: Erstreckte diese sich über die gesamte Lücke zwischen A- und C-Phase hinweg, also auf den Zeitraum 1893 bis 1944? Ja und nein. Ja, wenn man das bloße Vorhandensein solcher politischer Faktoren als ausschlaggebend wertet, die eine separate makedonische Identität propagierten; nein jedoch, wenn man den Wirkungsgrad dieser Art ethnoregionaler Propaganda in die Gleichung mit einbezieht. Zwischen der IMRO-Gründung 1893 und der Gründung des vardarmakedonischen Partisanenparlaments ASNOM 1943, so scheint mir, hat es mehrere B-Phasen gegeben, die sich indes als Fehlzündungen erwiesen, keine massenwirksame C-Phase auslösten. Erst der gemäß der gußeisernen Logik des makedonischen Nationalismus zutreffend als "zweiter Ilinden" bezeichnete 2. August 1943 führte zur Zündung in Form der ein Jahr später erfolgten Gründung einer vardarmakedonischen Teilrepublik im titoschen Jugoslawien, als Grundlage und Ausgangspunkt einer zielstrebigen und raschen staatlichen nation-building. Das Jahr 1991 fungierte dann als Lackmustest für das Vorhandensein der schon für die fünfziger Jahre nachweisbaren makedonischen Nation, gleichsam als "dritter Ilinden".

Welches waren nun aber die gescheiterten B-Phasen-Starts im genannten Zeitraum 1893-1943, und was waren die Gründe für diese mehrfachen Fehlzündungen? Meiner Meinung nach lassen sich mindestens zwei gescheiterte Anläufe unterscheiden - ein erster, von der Organisationsgründung 1893 bis zum Aufstandsversuch von 1903, und ein zweiter, von der Pariser Friedenskonferenz 1919 bis zum makedonischen "Wendejahr" 1924. Ob es auch in den dreißiger Jahren Ansätze zu einer B-Phase gegeben hat, läßt sich beim derzeitigen Kenntnisstand nicht eindeutig ausmachen.

Der erste, ins Jahrzehnt 1893-1903 fallende Anlauf zu einer B-Phase in der makedonischen Nationalbewegung ist in der westlichen Geschichtswissenschaft umfassend beschrieben worden. Er begann mit der Gründung der IMRO und endete blutig mit dem Scheitern des gesamtmakedonischen Aufstandes vom St.-Elias-Tag ("Ilinden"), dem 2. August 1903. Ein halbes Dutzend nationalrevolutionärer Organisationen betrieb, teils parallel, teils sukzessive, manchmal miteinander, öfter aber gegeneinander, sei es im Innern des Osmanischen Reiches, sei es von einem Nachbarstaat aus, die Herauslösung der Region Makedonien aus dem zerfallenden Imperium. Problematisch und daher Anlaß beständiger Kontroversen bezüglich makedonischer state-building und nation-building ist dabei die Definition dessen, was unter "Makedonien", "Makedonier", "makedonisch" zu verstehen sei, desgleichen die Bestimmung des Endziels. "Makedonien", "Makedonier", "makedonisch" konnte aus der Sicht der verschiedenen Strömungen und Organisationen innerhalb der nationalrevolutionären Bewegungen im Osmanischen Reich mit mindestens zwei unterschiedlichen ethnopolitischen Inhalten gefüllt werden: zum einen mit einem regionalen Bezug, das heißt, Makedonier war in diesem Sinne, wer auf dem als Makedonien bezeichneten Kernterritorium der "drei Provinzen" Selânik, Manastr und Kosova lebte, also Südslawen, Aromunen, Türken, Albaner, Sephardim, Griechen, Roma, Yürüken, Tscherkessen, Gagausen, Torbeschen und andere. Zum anderen mit einem ethnolinguistischen Bezug samt territorialen und konfessionellen Komponenten, also Makedonier in diesem Sinne waren nur diejenigen unter den Genannten, die (a) Ostsüdslawisch sprachen und (b) Christen waren. Mitnichten vereinfacht werden diese Definitionsprobleme durch den Umstand, daß aus der Sicht einiger makedonischer Organisationen beide Interpretationen miteinander vereinbar waren, daß es also "Makedonier" in einem weiteren, regionalen Sinne sowie solche in einem engeren, ethnolinguistischen Sinne gab, die zweiten entsprechend eine Teilmenge der ersten waren. Und gänzlich unübersichtlich wird das Bild um die Jahrhundertwende durch die makedonisch-thrakische Dualität, denn in der besagten ersten B-Phase von 1893 bis 1903 fungierte die IMRO als nationalrevolutionäre Bewegung nicht nur in den genannten "drei Provinzen", sondern auch in der Provinz Edirne, dem heute zwischen der Türkei, Griechenland und Bulgarien geteilten Thrakien, mit seiner schon damals stark gemischten Bevölkerung aus Südslawen, Griechen, Türken, Armeniern, Pomaken und anderen. Die Differenzierung in eine makedonische und eine getrennte thrakische nationalrevolutionäre Organisation fand erst nach der Aufteilung des territorialen Restbestandes des Osmanischen Reiches in Europa im Zuge der Balkankriege von 1912/13 statt. Bei den Begriffen "Makedonien" und "Makedonier" durchgängig mitzudenken sind die Zentren makedonischer Emigration in Europa und Übersee sowie die weitverstreute makedonische Diaspora. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an sind orthodoxe Slawen aus Makedonien nach Nordamerika, später auch nach Australien ausgewandert. Zunächst politische, dann wirtschaftliche Konjunkturen haben eine makedonische Emigration in fast allen Staaten Europas geschaffen, so daß "Makedonien" heute nicht nur in Prilep und Berovo, Valandovo und Kumanovo, sondern ebenso in Toronto und Sydney, Stettin und Göteborg zu finden ist.

Auch die Form der angestrebten politischen Lösung für die "Makedonische Frage" war von Periode zu Periode und Organisation zu Organisation unterschiedlich. Der Begriff "Autonomie" etwa wurde von pro-bulgarischen Gruppierungen im makedonischen Spektrum als leidige, aber notwendige Vorstufe zur Vereinigung mit dem Fürstentum Bulgarien betrachtet nach dem Vorbild des kurzzeitig autonomen Ostrumeliens. Hingegen legten mit den Jungtürken kooperierende makedonische Politiker denselben Begriff in Richtung eines autonomen Makedoniens innerhalb und unter dem Schutz des Osmanischen Reiches aus. Nicht anders die verschiedenen Unabhängigkeitskonzepte für Makedonien: Wenn die IMRO der Zwischenkriegszeit von einem unabhängigen Makedonien sprach, so meinte sie damit einen zweiten bulgarischen Staat; sprachen die Partisanen im Zweiten Weltkrieg von Befreiung, so meinten sie das Abschütteln der bulgarischen Besatzung und die Rückkehr in ein wiederhergestelltes, jedoch föderalisiertes Jugoslawien, mit einer neben Vardarmakedonien auch Pirin- und Ägäisch-Makedonien umfassenden makedonischen Teilrepublik.

Der zweite Anlauf zu einer B-Phase in der makedonischen Nationalbewegung fiel, wie angedeutet, in die Zwischenkriegszeit, genauer: in das Jahrfünft 1919 bis 1924. Die erfolgreiche Instrumentalisierung makedonischer Organisationen seitens des Deutschen Reiches mit dem Ziel, Bulgarien zum Eintritt in den Ersten Weltkriegs zu bewegen, sowie die Beteiligung derselben Organisationen an der bulgarischen Besatzung Vardarmakedoniens und Teile Serbiens ließen die bulgarische Niederlage des Jahres 1918 auch und gerade zu einer makedonischen werden. Das Kaleidoskop makedonischer politischer Organisationen wurde dadurch erneut heftig geschüttelt. Resultat war ein strömungsübergreifender Konsens dahingehend, daß die 1919/20 in Paris geschaffene und überaus labile Nachkriegsordnung für den Balkan im makedonischen und/oder makedonisch-bulgarischen Sinne zu revidieren war. Die Autonomielösung wurde nun durch das Unabhängigkeitskonzept ersetzt. Parallel zum Aufbau eines organisationseigenen "Staates im Staate" im zu Bulgarien gehörigen Pirinmakedonien versuchte man, dem neuen Jugoslawien den Landesteil Vardarmakedonien mittels Guerillakrieg zu entreißen. Diplomatisch und logistisch stützte man sich dabei auf Italien und die neue Sowjetunion, da der Wunschpartner Deutschland auf makedonische Avancen nicht reagierte. Sowohl der Grad an Koordination zwischen links- und rechtsgerichteten makedonischen Organisationen wie auch gerade der Mobilisierungsgrad der Zielgruppen in den beiden genannten Teilregionen waren beträchtlich. Allerdings war der erreichte Kompromiß ein generationsspezifischer; entsprechend platzte er bereits nach wenigen Jahren, als innerhalb der IMRO die Vorkriegsgeneration abgelöst wurde. 1924 tat sich ein tiefer ideologischer Graben innerhalb der makedonischen Bewegung auf. Fragen nach Mitteln und Zielen wurden nun unbedeutend. Die mit der kommunistischen Weltbewegung liierte Vereinigte IMRO verlor mit ansteigender Fremdbestimmung jegliche Bodenhaftung, und die sich gezwungenermaßen dem faschistischen Italien, dem nationalsozialistischen Deutschland oder gar dem Jugoslawien der Karadjordjevics verdingenden rechte IMRO-Hälften der Mihajlovisten und Sandanovisten rieben sich in fratrizider Gewalt selbst auf. Bereits zuvor zwischen die Mühlsteine der großen rivalisierenden makedonischen Organisationen geraten waren die liberal-föderalistische Richtung, vertreten durch die "Makedonische Föderalistische Organisation" (MEFO), und die unpolitische Vereinigung der IMRO-Veteranen der Jahrhundertwende, die "Ilinden-Organisation".

Die Protagonisten autochthoner Neuansätze zu einer makedonischen Bewegung im jugoslawischen Vardarmakedonien während der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, etwa in Gestalt der 1935 gegründeten "Makedonischen Volksbewegung" (MANAP), wurden dann während des Zweiten Weltkriegs von den Karriereangeboten der neuerlichen bulgarischen Besatzung und der neuentstehenden Partisanenbewegung aufgesogen. Von 1943 an dominierte die kommunistisch-jugoslawische Symbiose Belgrader Provenienz dann das kommunistisch-makedonische Bündnis Skopjoter Prägung. In zwei Schritten, von 1944 und 1949, wurden die nichtkommunistischen sowie die nicht eindeutig antibulgarischen Protagonisten makedonischen Bewußtseins rücksichtslos ausgeschaltet. Es zeugt dennoch von relativen und repressiven Toleranz des titoschen Systems, daß die Erinnerung an die nichtkommunistischen Alternativen in der makedonischen Bewegung bis 1991 überlebt hat und weitergegeben wurde. Daß dies mitnichten ein konfliktfreier Prozeß gewesen war, hat der Bielefelder Historiker Heinz Willemsen angemerkt:

"[D]as Verhältnis der siegreichen Partisanen 1944 zur Tradition der makedonischen Bewegung im osmanischen Reich [war] keineswegs so ungebrochen war, wie dies seit den 70er Jahren erschien. Viele der Republikgründer standen nämlich nicht wie noch die Kommunisten der 20er Jahre in der Tradition der makedonischen Bewegung. In dieser Frage war es während des Partisanenkampfes 1941-44 zu einer heftigen Auseinandersetzung mit der älteren und traditionell probulgarischen Generation innerhalb der Partei gekommen. Bei diesem Streit hatte sich schließlich die Gruppe der 10 bis 20 Jahre jüngeren, projugoslawisch eingestellten Mitglieder durchgesetzt, zu der auch der heutige Präsident Kiro Gligorov zählte. Zumeist den regionalen rudimentären Mittelschichten entstammend, hatten viele von ihnen in Belgrad oder Zagreb studiert, wo sie recht schnell Anschluß and die KP-nahe Bewegung der sog. "progressiven Studenten" fanden. Nach 1944 stürzten sie sich mit ganzer Energie auf das Projekt des makedonischen "nation-building".6

In einer Studie über die unterschiedlichen Schichten einer "identité macédonienne" hat der Pariser Balkanhistoriker Bernard Lory neben territorialen, linguistischen, religiösen, historischen, kulturellen und politischen Komponenten auch identitätsstiftende Faktoren wie eine "identification à la terre", eine "identité diasporique" sowie eine spezifische Form des Zusammengehörigkeitsgefühls der ethnonationalen und ethnoreligiösen Gruppen in der heutigen Republik Makedonien ausgemacht und dieses komplizierte Phänomen mit der treffenden Bezeichnung "identité oecuménique" belegt.7 Vor allem in Anknüpfung an Frederick Barths Betonung der Grenze als wichtigstem identitätsstiftendem Merkmal von Wir-Gruppen ließen sich diesen Identitätsbündeln weitere hinzufügen. So schwer also noch immer eine positive Definition des Makedonier-Seins fällt, so einfach ist doch diejenige ex negativo: Politisch eindeutig nichtgriechisch, nichtserbisch, nichtbulgarisch, nichtalbanisch mit der jeweiligen Besonderheit, daß in kultureller Hinsicht Serben- oder Albanertum, ja selbst Bulgarentum, mit einer "ökumenischen" makedonischen Identität durchaus vereinbar sind.

Die gesellschaftlichen Verwerfungen des schwierigen Übergangs in die Selbständigkeit der frühen neunziger Jahre haben in Gestalt der genannten IMRO-DPMNE das Auftreten eines politisch rechtsgerichteten makedonischen Nationalismus in der Republik Makedonien bewirkt. Dennoch verlaufen die Trennlinien nicht zwischen makedonischer Mehrheit und nichtmakedonischen Minderheiten im Lande. Vielmehr steht seit 1992 eine aus Postkommunisten und gemäßigten Albanern gebildete Regierungskoalition einer ihre Aktionen zumindest partiell koordinierenden Front gegenüber, deren beide Säulen die besagte und derzeit außerparlamentarische nationalistische makedonische Opposition und die radikale Hälfte der Albaner bilden. Der dominierende Links-rechts-Gegensatz und die sekundäre Titularnation-Minderheiten-Unterscheidung fallen also mitnichten zusammen, sondern stellen cross-cutting cleavages dar.

 

Point of no return

1991 gelangte in der neuen Republik Makedonien wohl nicht ganz zufällig ein im Zweiten Weltkrieg entstandenes und auf eine (anti-)osmanische Vorlage zurückgehendes Partisanenlied, "Kleiner Makedonier, wohin brichst du auf?", zu neuer und bislang ungekannter Popularität:

 

"Kleiner Makedonier, / Wohin brichst du auf?
Auf dich wartet Kampf, / Kampf um die Freiheit
für Makedonien, / das unterjochte Land.
Damit die heutigen Tyrannen / es endlich verstehen:
Der makedonische Name / wird niemals untergehen."8

 

So heroisch wie inhaltlich passend dieses Lied im Jahr der Unabhängigkeitserklärung des Landes auch war, so wenig treffend gab es die allgemeine und eher düstere Stimmung wieder. Und schon der makedonische Sommerhit des Folgejahres, "Sviri mi cigane" ("Spiel für mich, Zigeuner") von Rosana Sarik-Todorovska9, schlug entsprechend weniger kämpferische denn melancholische Töne an. "Heute sind wir gesund und munter, morgen vielleicht schon nicht mehr", hieß es jetzt. Denn obwohl die "Jugoslawische Volksarmee" im März 1992 Makedonien als einzige Teilrepublik der SFR Jugoslawien freiwillig geräumt hatte, kam angesichts der serbischen Aggression gegen Bosnien und im Zeichen griechischer Blockademaßnahmen Kriegsfurcht vor allem in den makedonischen Städten auf. Erst das Engagement der internationalen Gemeinschaft, zunächst ab September 1992 vertreten durch eine Langzeitmission der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa", dann ab Januar 1993 ein Blauhelmkontingent der "United Nations Protection Force" (UNPROFOR) und schließlich in Gestalt der eingangs erwähnten Aufnahme in die Vereinten Nationen im April desselben Jahres hat hier für eine Stabilisierung gesorgt. Entgegen den Annahmen der Mehrzahl der internationalen Beobachter hat sich die Republik Makedonien alias "FYROM" seitdem als ein konstruktiver politischer Faktor auf dem südlichen Balkan erwiesen - in krassem Gegensatz zu ihren Nachbarn im Norden und Süden. Eric J. Hobsbawm hat daher recht, wenn er schreibt:

"It was not "the Macedonian Question", well known to scholars as leading to battles between rival experts in a half-dozen fields at international congresses, which provoked the collapse of Yugoslavia. On the contrary, the Macedonian Peoples Republic did its best to stay out of the Serb-Croat imbroglio, until Yugoslavia was actually collapsing, and all its components, in sheer self-defence, had to look after themselves. (Characteristically enough, its official recognition has been hitherto sabotaged by Greece, which had annexed large parts of Macedonian territory in 1913)."10

Die bevorzugte Pose militanter Nationalbewegungen ist bekanntlich diejenige mit dem Rücken zum Abgrund gegen den Rest der Welt. Wer so steht, kann von seiner Zielgruppe mit gutem Recht ein klares Bekenntnis fordern. Insofern haben die Protagonisten des makedonischen Nationalismus zweimal in der zweiten Hälfte der vierziger sowie in der ersten der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts Glück gehabt: Die schwierige Aufgabe politischer Mobilisierung in nationalem makedonischem Sinne haben beide Male Außenkräfte übernommen, zunächst der bulgarische Nationalismus, dann der griechische. Das zweistufige Bekenntnis, welches die Außenwelt, nicht etwa die eigenen "ethnischen Unternehmer", der neuen und anfänglich zwangsläufig labilen makedonischen Nation abgefordert haben - 1944 die zunächst klandestine Abgrenzung von der bulgarischen Nation und 1991, angesichts hellenischen Hohns, Häme und Hasses, die offene Parteinahme für die makedonische -, hat die Titularnation des neuen Staates den so schwer bestimmbaren point of no return überschreiten lassen. Wenn Mathias Bernath 1969 noch mit der gebotenen Vorsicht prophezeit hat, "daß die Existenz einer nahezu ausgebildeten Nationalität in Vardar-Mazedonien heute eine ernstzunehmende Hypothese ist und morgen eine irreversible Tatsache sein wird, sofern im Laufe der nächsten zwei Generationen in dem wechselseitigen Besitzstand Jugoslawiens und Bulgariens keine Verschiebung eintritt",11 dann hat ihn der Gang der Ereignisse mittlerweile vollauf bestätigt. Dennoch ist unsere Titelgleichung "IMRO + 100 = FYROM", wie sie vor allem die politisierte Geschichtsschreibung in Skopje propagiert, nicht nur simplifizierend, sondern regelrecht unzutreffend: Die Republik Makedonien als erster Nationalstaat der Makedonier ist zum einen mitnichten das Ergebnis langjährigen und zielstrebigen Wirkens einer makedonischen Nationalbewegung; die Staatsneugründung ist vielmehr bloßes Zerfallsprodukt des titoschen Jugoslawien mit seinem labilen Gleichgewicht von Partei, Armee und Verwaltung. Und zum anderen waren weder die 1893 gegründete IMRO noch die verschiedenen unter diesem Namen firmierenden Organisationen der Zwischenkriegszeit Träger eines Programms, das einen auf Vardarmakedonien beschränkten Nationalstaat einer eigenständigen Nation der Makedonier vorsah. (Von der 1990 in Skopje gegründeten politischen Partei IMRO-DPMNE ist in diesem Zusammenhang gar nicht erst zu reden.) Je größer der Grad staatlicher Souveränität der neuen Republik Makedonien wird, so ist zu hoffen, wird auch der Grad an Souveränität der makedonischen Historiker werden, die sich mit der Geschichte der Region Makedonien von der Antike bis zur Gegenwart, vor allem aber mit dem kritischen Jahrhundert 1893-1993, befassen.

 

1 "Die ehemalige jugoslawische Republik Makedonien", so die amtliche deutsche Übersetzung von FYROM, ist insofern eine irreführende Bezeichnung, als es sich eben nicht um eine ehemalige Republik, sondern um eine weiterhin existente handelt. "Ehemalig" ist lediglich die Republik Jugoslawien - vorausgesetzt damit ist die zerfallene Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien der Jahre 1944-1991 gemeint und nicht die ebenfalls weiterhin existente montenegrinisch-serbische Föderative Republik Jugoslawien. Um diesem und anderen Mißverständnissen vorzubeugen, hat der Oxforder Osteuropahistoriker Norman Davies in seiner epochalen Gesamtdarstellung zur Geschichte Europas den bitter-ironischen Vorschlag gemacht, die Abkürzung FYROM durch die historisch korrektere, da tiefer schürfende Abbreviation FOPITGROBBSOSY zu ersetzen: "Former Province of Illyria, Thrace, Greece, Rome, Byzantium, Bulgaria, Serbia, the Ottoman Empire, Serbia, and Yugoslavia". Vgl. Davies, Norman: Europe. A History. Oxford, New York, NY, 1996, S. 135.

2 Unter den zahlreichen illustrativen Beispielen für diesen wissenschaftsethisch bedenklichen Tatbestand ist wohl das krasseste die Behandlung einer 1956 in Bitola gefundenen Inschrift über den Zaren Ivan Vladislav aus dem frühen elften Jahrhundert durch die Behörden der damaligen Sozialistischen Republik Makedonien. Anfänglich im örtlichen Museum ausgestellt, wurde der steinerne Zeuge weggeschlossen, nachdem bulgarische Archäologen auf das Zarenepitheton "samodôrûec bôlgarski" "bulgarischer Selbstherrscher" aufmerksam geworden waren. Vgl. Troebst, Stefan: Die bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien 1967-1982. München 1983, S. 223.

3 Vgl. die beiden Überblicksartikel von Ivan Katardûiev: VMRO and the Macedonian Liberation Movement After the First World War. In: Balkan Forum 1 (1993), H. 5, S. 137-150, und Ristovski, Blaûe: The National Thought of Misirkov. In: Balkan Forum 4 (1996), H.. 4 (17), S. 129-170.

4 King, Robert R.: Minorities under Communism. Nationalities as a Source of Tension among Balkan Communist States. Cambridge, MA, 1973, S. 219.

5 Hroch, Miroslav: Das Erwachen kleiner Nationen als Problem der komparativen sozialgeschichtlichen Forschung. In: Sozialstruktur und Organisation europäischer Nationalbewegungen. Hrsg. Theodor Schieder. München 1971, S. 121-139.

6 Willemsen, Heinz: Politischer Konflikt und gesellschaftlicher Wandel in der jugoslawischen Teilrepublik Makedonien: "Funktion und Wandel des makedonischen Nationalismus 1944-1953". Ms., Bielefeld 1997, S. 3.

7 Lory, Bernard: Approches de l'identité macédonienne. In: La Republique de Macdoine. Ed. Bernard Lory, Christophe Chiclet. Paris 1998, S.13-32.

8 Ristovski, Blaûe: Kako e nastanata pesnata "A bre makedone". In: Ders.: Makedonskiot folklor i nacionalnata svest. Istraûuvanja i zapisi. Prilozi za razvitok na makedonskata kulturno-nacionalna misla. Bd. I. Skopje 1987, S. 349-354.

9 "Sviri mi cigane". Musik, Text und Arrangement von Tode Novaevski. Hier zitiert nach der Version auf der A-Seite der Kassette Nr. 1 von Folk hitovi na godinata 92, Makedonska Radio-Televizija, MP 21120, Skopje 1992.

10 Hobsbawm, Eric J.: Nations and Nationalism Since 1870. Programme, Myth, Reality. Cambridge 1992, S. 166.

11 Bernath, Mathias: Das mazedonische Problem in der Sicht der komparativen Nationalismusforschung. In: Südost-Forschungen, 29 (1970), S. 237-248, hier S. 244.