Schlafen auf einem Blutbett

Isaak Babels Kriegsberichte "Die Reiterarmee", zusammen mit dem "Schwarzbuch" gelesen

Martin Droschke

 

Divkom Sechs verlas die Meldung, Novograd-Volynsk sei heute bei Morgengrauen genommen worden." Von der 1. Roten Reiterarmee unter General Budennyj, die von der Ukraine nach Nordwesten geeilt ist, um den Vormarsch der polnischen Armee gegen Rußland zu stoppen. Juli 1920. "Der Stab rückte aus Krapivno ab, und unser Troß zog als polternde Nachhut über die Chaussee, die unverwelkliche Chaussee, die von Brest nach Warschau führt und die auf Bauernknochen gebaut wurde durch Nikolaus den Ersten." Mit diesen Sätzen beginnt Isaak Babels Prosazyklus Die Reiterarmee. Babels Erzählungen über den Polnisch-Russischen Krieg von 1920, der fast aus der Geschichte getilgt worden wäre, Stalin wünschte es so. Er war der Schandfleck unter den Revolutionskriegen, derjenige, der das Ende der frühen kommunistischen Expansion in Europa bedeutete.

 

Vorspiel: Am 10. Oktober 1919 gelingt der 1. Roten Reiterarmee nahe Moskau der entscheidende Sieg über die weißen Truppen unter General Denikin. Militärisch gesehen der Durchbruch für ein revolutionäres Rußland. Während die 1. Rote Reiterarmee Denikin in die Ukraine verfolgt, wo sich im April 1920 sein Nachfolger General von Wrangl zum Regierungschef von Südrußland erklärt, hat sich im Westen Jozef Pilsudski entschlossen, ein Großpolnisches Reich zu installieren, das über einen Zugang zum Schwarzen Meer verfügen soll. Polen will sich nicht mit den im Versailler Vertrag festgelegten Gebietsgrenzen abfinden. Am 25. April 1920 startet Pilsudskis Armee einen Vormarsch auf Kiew, das am 8. Mai besetzt werden kann. Den russischen Verbänden gelingt es nicht, Pilsudskis Truppen zurückzudrängen. Ende Mai eilt Budennyjs 1. Reiterarmee aus der Ukraine, wo sie sich in Bruderkämpfe mit den Truppen des Anarchisten Nestor Machno verstrickt hat, zu Hilfe. Als Kriegsberichterstatter dabei der damals 25jährige Schriftsteller Isaak Babel, um für revolutionäre Zeitungen über den Stand der Kämpfe und den Zustand der Truppen zu schreiben.

Vierunddreißig dieser literarischen Berichte stellt Babel 1926 zu einem Buch zusammen, das unter dem Titel Die Reiterarmee erscheint. Die Reiterarmee ist keine Propagandaliteratur sozialrealistischer Prägung, wie man sie von einem roten Kriegsberichterstatter erwarten würde, nichts vom Reißbrett also. Expressionistisch der Ton, die Anlage der knappen, schnellen Stimmungsberichte vom Schlachtfeld. Derb, unschön, brutal und distanzlos. Nur die russische Erstausgabe passiert die Kontrolle der sowjetischen Kulturbehörden, in allen Folgeausgaben werden die russenkritischen Passagen zensiert. Zu unheroisch die Schilderungen für offizielle Ohren. Babel selbst wird 1939 während einer "Säuberungswelle" verhaftet und 1940 hingerichtet, neben ihm weitere 2000 Intellektuelle und Schriftsteller. Während sich Stalin und Hitler Polen aufteilen.

Babels Reiterarmee ist die nüchterne Schilderung eines Hölleninfernos, des zweiten, das in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts über Galizien rollt. Ein unanständiger, ungeheuerlicher und ungebührlicher Vergleich drängt sich bei der Lektüre der "Reiterarmee" heute ganz automatisch auf. Babel selbst kann ihn nicht beabsichtigt haben. Er hat den tödlichen Donner des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt, der für die galizischen Juden das unwiderrufbare Ende bedeutet. Wie Babel den polnisch-russischen Krieg in Galizien und Wolhynien 1920 schildert - Plünderungen, Schlamm, Terror der Frustration gegen die Landbevölkerung und die Angst der Juden, auch ihr Letztes zu verlieren, ihr Leben - , das korrespondiert mit Bildern, wie sie von den Operationen der deutschen Armee auf dem selben Gebiet 20 bis 25 Jahre später bekannt sind - Verbrechen der Wehrmacht und SS. Isaak Babel, Jude aus Odessa, beschwört die galizische Welt des Städtels, geradezu so, als ahnte er, daß die organisierten Pogrome durch weiße Truppen nur den Auftakt bilden für eine antisemitische Feuerwalze, die binnen weniger als einem halben Jahrhundert die kulturellen Wurzeln eines riesigen Landstrichs ausbrennen würde. Isaak Babel, Bruno Schulz und Josef Roth sind die letzten großen Autoren, die noch einmal die jiddische Welt in Literatur fixieren, bevor sie in den Öfen von Auschwitz zu Asche werden wird. Babel findet sie noch, wohin der Krieg ihn auch treibt: "11.9.20. Kovel", notiert er in sein Tagebuch 1920, das er parallel zu den Erzählungen der Reiterarmee schreibt, "die Stadt bewahrt Spuren europäisch-jüdischer Kultur (...) stille Häuschen, Wiesen, jüdische Sträßchen, ein stilles Leben, kernig, junge jüdische Mädchen, Jünglinge, die Alten vor der Synagoge, womöglich Perücken, die Sowjetmacht hat, so scheint es, die Oberfläche nicht getrübt (...)."

 

Nochmals ein wenig Historie: Nach dem Sturz des Zaren finden noch im November/Dezember 1917 freie Wahlen in Rußland statt. Interessanterweise erzielen nicht die Bolschewiken, sondern die Anarchisten die Mehrheit. Vor allem unter der Landbevölkerung herrscht große Skepsis gegenüber den Kommunisten, befürchtet man eine einseitige Politik zugunsten der Ballungszentren, die den Interessen der Bauern nicht entgegenkommt. Um doch erste Kraft im Staat zu bleiben, lösen die Bolschewiki die verfassunggebende Versammlung kurzerhand auf. Der Versuch, ein demokratisch organisiertes System in Rußland zu installieren, ist damit beendet. Um sich der Gegner im Inneren zu entledigen, sichern sich die Bolschewiki mit Terrorstrategien. Gegner sind nicht zuletzt die, die sich bei den Wahlen für die anarchistischen Gruppierungen entschieden haben - Arbeiter also, die die konkrete und schnelle Verbesserung ihrer Lage im Vordergrund sehen. Vor allem aber könnten Bauern gefährlich werden, die Selbstverwaltung einfordern und Aufstände gegen die Bolschewiki organisieren. Die heute prominenteste dieser oppositionellen Organisationen stellt die ukrainische Bauernarmee des Anarchisten Nestor Machno, die zunächst gemeinsam mit den roten Truppen General Vrangel vernichtet und 1922 von der roten Armee für immer ausgelöscht wird. Der Anarchist, Publizist und Machno-Kämpfer Volin beziffert Mitte der 20er Jahre den Anteil der Toten unter Machnos Anhängern mit 90 Prozent. Das Schwarzbuch des Kommunismus spricht von einem "Befreiungskrieg gegen die Bauern", denn da die wirklichen anarchistischen Kämpfer nur schwer zu erkennen sind, richten die Bolschewiken ihren Terror präventiv gegen deren Nährboden: die ärmere und arme Landbevölkerung. Als Isaak Babel 1920 von der Front gegen Polen berichtet, ist die Situation im Westen Rußlands wie in den übrigen Teilen des Landes bereits festgefahren. "Salz" heißt eine Episode aus der Reiterarmee, die die Einstellung der roten Soldaten gegenüber der Bevölkerung spiegelt. Verfaßt in Form eines Briefes, eines Versuchs des Soldaten Nikita Balmasev, mit den Geschehnissen während einer Truppenverlegung fertig zu werden.

"Es war eine stille klare Nacht vor sieben Tagen, als unser verdienter Transportzug der Reiterarmee dort (Bahnstation Fastov, Anm.) hielt, vollbeladen mit Kämpfern. Wir alle brannten darauf, der gemeinsamen Sache zu dienen und hatten Marschbefehl nach Berdicev." Eine Mutter mit Kind bittet die Soldaten, zusteigen zu dürfen, sie will zu ihrem Mann reisen und Personenzüge verkehren keine. "Frau, - sagte ich zu ihr, - wie die Kompanie beschließt, soll euer Schicksal sein. - Und an meine Kompanie gewand, beweise ich inen, daß hier eine kräftige Frau bittet zu ihrem Mann zu fahren ahn den Bestimmungsort und daß sich dass Kind wirklich bei ir befindet und wie wollen wir beschließen - sie reinlassen oder nicht? - Reinlassen, - rufen die Jungs, - nach uns hat sie sowieso keine Lust mehr auf ihren Mann..." Nikita Balmasev verhindert die Vergewaltigung. Dann entdeckt er, daß die Frau verbotenerweise Salz schmuggelt. Das ist in seinen Augen Verrat. Als "eine noch schlimmere Konterrevolutionärin, als jener weiße General, welcher uns mit scharfem Säbel droht von seinem Tausendrubelroß herab", schimpft er sie. Nikita Balmasev wirft die Frau aus dem fahrenden Zug. "Doch sie, als ein kräftiges Mensch, setzte sich auf, wedelte mit den Röcken und ging ihrer niederträchtigen Wege. (...) da wollte ich aus dem Waggon springen und mit mir Schluß machen oder Schluß machen mit ihr. Doch die Kosaken (der Reiterarmee, Anm.) hatten Mitleid mit mir und sagten: - Nimm sie mit der Flinte. Und ich holte die treue Flinte von der Wand und wusch diese Schande vom Angesicht der werktätigen Erde und Republik."

 

Das Schwarzbuch Kommunismus - mit all seinen Mängeln - ist vielleicht die wichtigste Publikation seit 1989, nicht, weil darin die schon lange bekannten Verbrechen zusammengefaßt werden, die sich kommunistische Regierungen haben zuschulden kommen lassen, sondern weil es eine längst überfällige Diskussion ausgelöst hat, eine Diskussion, die weniger für die Bügerlichen der Gegenwart als für die Linke des Westens bedeutend ist. Stephane Courtois und seine Autoren leisten konstruktive Zuarbeit. Eine Diskussion, die zwingt, eine 1989 nötig gewordene Neuorientierung voranzutreiben. Schwarzbuch - gemäß dem Titel haben Courtois und seine Autoren darauf verzichtet, über den Katalog menschenrechtlicher Entgleisungen hinaus eine Kritik der sozialistischen Theorien vorzunehmen. Schwarz, die Farbe der Trauer. Schwarzbuch - aufzuzählen die Fälle, in denen Trauer angebracht ist.

Das Schwarzbuch Kommunismus versammelt eine erdrückende Fülle von Hinweisen darauf, daß die Versuche, die sozialistischen Theorien Realität werden zu lassen, mit Verbrechen gegen jenen Teil der Bevölkerung einhergingen, für dessen Wohlergehen Marx seine Theorien verfaßt und für dessen Wohlergehen sie, die kommunistischen Realpolitiker, ihren Machtanspruch zu erkämpfen geglaubt haben. Dies allein ist die Kritik des Schwarzbuchs an der Idee Sozialismus: Sie ist nicht davor gefeit, in der Realisierung totalitäre Züge anzunehmen und diese totalitären Züge jene spüren zu lassen, für die urprünglich sich die abstrakte Idee einzusetzen verspricht. Die Idee Sozialismus verfügt über keinen Selbstschutz gegen das Pervertieren. Der große Mangel des Buchs: Kein Schwarzbuch kann aufschlußreiche Lektüre, sondern immer nur Nachschlagewerk sein. Als Lexikon taugt Courtois’ Schwarzbuch Kommunismus nicht, das Register beschränkt sich auf Personen, die Gliederung ist grob. Wer gezielt suchen will, wird nur schwer fündig. Daß das Schwarzbuch jetzt erschien, ein Jahrzehnt nach dem Zerfall des Realsozialismus, ist einleuchtend. Geschichtliche Aufarbeitung folgt immer dem Ende einer historischen Periode. Für den Westen bedeutet erst das Datum 1989 das Ende des totalitären Kommunismus. Im Osten, wo die wissenschaftlichen und publizistischen Betriebe staatseigen waren, hätte ein Schwarzbuch parallel zum Kurswechsel nach Stalins Tod bedeutet, die gesamte Legitimation des Staates zur Disposition zu stellen. Die Aufregung um das Buch, die Störaktionen während der Präsentationsveranstaltungen verwundern. Die radikale Linke verlangt stets von Politikern, politisch Engagierten und Mitläufern, sich zur dunklen Seite eines politischen Systems zu bekennen und aus dem Bekenntnis Einsicht und Konsequenzen zu ziehen. Jetzt ist die Linke selbst an der Reihe.

Peinlicher als die Entgleisung von Courtouis, die Dimension Stalinistischen Terrors über die Gegenrechnung mit der Hitlerschen Vernichtungsmaschinerie auf den Punkt gebracht haben zu wollen, ist die Reaktion aufgebrachter Linksradikaler. Ausgerechnet jene Fraktion, die am schärfsten gegen Courtois’ Aufrechnung Hitler-Stalin Einwand erhob - und ja auch recht bekommen hatte -, entrollte während der Präsentationsveranstaltung zur deutschen Ausgabe ein Transparent, das nachfragte: "Wer zählt die Opfer des Kapitalismus?". Eine Geste der Hilflosigkeit? Vermutlich. Intellektuell eine Blamage. Ein bewußter Akt kann es jedenfalls nicht gewesen sein, plötzlich doch die Aufrechnung der Opfer unterschiedlicher politischer Ordnungen zu fordern.

 

Der Unrast-Verlag startete im Frühjahr 1998 eine Buchreihe, die unter dem Titel "Klassiker der Sozialrevolte" vergessene Texte aus der Geschichte der radikalen Linken neu zugänglich machen soll. Erster Band ist ein Reprint der 1923 von der Union anarchistischer Vereine erstmals auf Deutsch verlegten Geschichte der Machno-Bewegung von Peter A. Arschinoff. Das Buch selbst ist wenig interessant, Arschinoff, Kampfgefährte Nestor Machnos gegen die weiße Armee und anschließend im Bruderkrieg gegen die rote Armee, verwechselt zeitgeschichtliche Auskunft mit Agitation. Damals mag sein Buch Kraftnahrung für anarchistische Vereine gewesen sein, heute gelesen liegt es wie ein Stein in der Hand. Interessant aber ist, daß Arschinoff seinen Lesern empfiehlt, in den Kommunisten einen rücksichtslosen Gegner zu sehen. Interessant deshalb, weil sich die Frage aufdrängt, wie es möglich wurde, daß sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen linke Gruppierungen über tödliche Feindschaften hinwegsetzen konnten und ein Bündnis entstand, dessen Bandbreite Stalinisten, Maoisten, Pazifisten, Anarchisten und zahlreiche weitere, bei näherer Betrachtung unvereinbare Randgruppen umfaßte. Bis heute besteht dieses Bündnis, dessen Grundlage nicht gemeinsame Interessen sein können. Schweißt eine gemeinsame Situation zusammen - die der halblegalen Opposition in einem ihnen allen feindlich gesinnten System? Verständlich, daß das Schwarzbuch Kommunismus innerhalb der radikalen Linken als Angriff gesehen wird, drastischer könnte nicht aus der Vergangenheit hergeleitet werden, wie konträr sich die einzelnen Gruppierungen entgegenstehen. Der überwunden geglaubte Haß gegeneinander droht wieder lebendig zu werden und die letzten Kraftreserven aufzuzehren.

 

Isaak Babel, der nihilistische Expressionist, sah seine Welt nicht als Parteigänger, er fühlte sich als Jude. Sein Augenmerk war auf Alltags- und Lebenskultur fixiert, nicht auf Machtpolitik. Die von Arschinoff in seiner Geschichte der Machno-Bewegung rundum gerecht, menschlich und - im Gegensatz zu allen anderen in die Revolutionskriege verwickelten Parteien - als fair geschilderten Machnowtzy sieht Babel nüchtern und propagandafrei. "Sechs Machno-Kämpfer hatten vergangene Nacht ein Dienstmädchen vergewaltigt", heißt es trocken-vernichtend in einer Erzählung, die Babel allerdings nicht in den Zyklus Die Reiterarmee aufgenommen hat und die in der neuen, von Peter Urban hervoragend besorgten Taschenbuchausgabe als Text Aus dem Umfeld der Reiterarmee" wiedergegeben ist.1 In Babels Galizien und Wolhynien, den Schlachtfeldern des Russisch-Polnischen Kriegs, ist kein Platz mehr für bessere Menschen. Das klingt realistisch. Babels Galizien und Wolhynien, ein dunkler Schlund, der alle Menschlichkeit längst verschluckt hat.

"Erdhaufen, Brachland, zerstörte Landwirtschaft, irgendwo im Grün die roten Kolonnen, Pflaumen", notiert Babel am 28.8.1920 in sein Tagebuch. "Eine Schießerei, wir wissen nicht, wo der Gegner steht, rings um uns niemand, Maschinengewehre hämmern ganz nah und aus verschiedenen Richtungen, das Herz krampft sich zusammen (...) Gerüchte über Greueltaten. Ich gehe ins Städtchen. Unaussprechliche Angst und Verzweiflung. Man erzählt mir. Heimlich in einer Hütte, sie haben Angst, daß die Polen wiederkommen könnten. Hier waren gestern die Kosaken von Jessaul Jakovlev (polnischer Rittmeister, Anm.). Ein Pogrom. Die Familie von David Zis, in den Wohnungen, ein nackter, kaum noch atmender alter Mann der Prophet, die erschlagene alte Frau, ein Kind mit abgehackten Fingern, viele atmen noch, der stinkende Blutgeruch, alles umgestürzt, Chaos, die Mutter über dem erschlagenen Sohn, eine alte Frau, zusammengerollt wie ein Kringel, 4 Menschen in einer Hütte, Schmutz, Blut unter dem schwarzen Bart, so liegen sie in ihrem Blut."

Und auch den roten Kämpfern gingen Babel zu Folge Bindungen an menschliche Ideale verloren, die zu verteidigen sie gegen die Polen angetreten waren. "Es waren ihrer neun" ist eine weitere Erzählung, die Babel nicht in die erste Ausgabe der Reiterarmee aufgenommen hat und die sich als Text Aus dem Umfeld der Reiterarmee im Anhang der Diogenes-Ausgabe befindet. Ein Kompanie-Schreiber ist Babels Erzähler. Neun polnische Soldaten haben die Roten gefangengenommen. Der Schreiber will "eine Liste der Gefangenen aufstellen und sie in den Stab zum Verhör mitschicken". "Ich zog Papier und Stift aus der Tasche und lief Golov rufen. - Du siehst die Welt durch die Brille, - sagte er und blickte mich haßerfüllt an. - Durch die Brille, - antwortete ich, - und wie siehst du die Welt, Golov? - Ich sehe sie durch unser unglückliches Arbeiterleben, - sagte er und ging zu (einem) Gefangenen. (...) Da befühlte Golov mit den Fingern die wollene Strickhose des Gefangenen. - Du bist Offizier, - sagte Golov, die Stirn mit der Hand gegen die Sonne abschirmend. - Nein, - hörten wir die feste Antwort. - Unsereins trägt solche nicht, - murmelte Golov und schwieg. Er schwieg, erschauerte, schaute den Gefangenen an, seine Augen schimmerten weiß und weiteten sich. - Hat Mamka gestrickt, - sagte der Gefangene mit Festigkeit." Es kommt zum Streit zwischen dem Zugführer Golov und einem Kosaken. Die Behandlung der Gefangenen und die Frage, wem von den Roten ihre Kleider zustehen, wird diskutiert. Der Kosake demütigt Golov, weil dieser nicht kurzen Prozeß mit den Gefangenen macht. Golov muß seine Ehre retten. "Er", der junge polnische Gefangene, "beugte sich mit seinem ganzen Körper vor und gab mir den Blick frei auf Golov, der aus dem Graben gekrochen kam, aufmerksam und blaß, mit zerschlagenem Kopf und dem Gewehr im Anschlag. (...) Golov schoß dem Gefangenen blitzschnell ins Genick und sprang auf die Füße. Der erstaunte Pole drehte sich zu ihm um, beschrieb eine halbe Umdrehung, wie auf einem Exerzierplatz. Mit der langsamen Bewegung einer sich hingebenden Frau hob er beide Arme ans Genick, stürzte zu Boden und war auf der Stelle tot. Ein Lächeln der Erleichterung und der Ruhe spielte auf Golovs Gesicht. Leicht war das Wangenrot zurückgekehrt. - Unsereinem strickt die Mamka keine solchen Unterhosen, - sagte er zu mir mit verschlagenem Blick. - Streich einen, gib mir eine Liste auf acht Mann... Ich gab ihm die Liste und sagte verzweifelt: - Du wirst dich für alles verantworten, Golov. - Das werde ich, - rief er in unsagbarem Triumph, - aber nicht vor dir, Brillenauge, sondern vor unseren Leuten, aus den Sormov-Werken. Unsere Leute klären das..."

 

Noch einmal, zum Abschluß, Historie: Jossif Stalin wird am 18. Mai 1920 zum Mitglied des Revolutionären Kriegsrats der Südwestfront ernannt, von wo aus nach dem Eintreffen von Budennyjs 1. Reiterarmee erste Erfolge gegen die polnischen Truppen erzielt werden. Mitte Juli rückt die Südwestfront nach Galizien vor. Ende Juli plötzlich eine neue große Gefahr für die Sowjets, eine Lücke klafft zwischen der West- und der Südwestfront - Schlupfloch für polnische Truppen. Zudem hat General von Wrangl Erfolge im Süden. Rasches Handeln ist nötig, will Rußland den Krieg schnell und erfolgreich beenden. Das Oberkommando verfügt Truppenverschiebungen, Budennyjs Reiterarmee und Stalins Truppen werden zur Westfront befohlen, um das Schlupfloch zu stopfen. Truppen der Westfront sollen schnellstmöglich nach Warschau vordringen.

Am 16. August, als der Fall Warschaus unmittelbar bevorsteht, gelingt es dem Polnischen General Pilsudski, wichtige Teile der roten Armee aufzureiben. Stalins 12. Armee war nicht nach Westen gerückt, sondern vor Lemberg stehengeblieben. Die rote Armee vor Warschau kapituliert. Schon am nächsten Tag finden Waffenstillstandsverhandlungen statt. Die Sowjetunion verliert weite Gebiete Weißrußlands, Wolhyniens und das gesamte Galizien. Stalin hatte auf eigene Faust versucht, Lemberg zu nehmen, die Eroberung der im ersten Weltkrieg erfolglos umkämpften Stadt sollte seiner Person zur Blitzkarriere verhelfen. Statt dessen kostete ihn der "Privatkrieg" (Trotzki) seinen militärischen Posten.

Stalin, heißt es, hat diese Schmach nie verwunden. Ihr seien die trotzkistischen Säuberungen und der Pakt mit Hitler zuzuschreiben. Der Versuch, den verlorenen Russisch-Polnischen Krieg im zweiten Anlauf doch zu gewinnen.

 

1 Die Diogenes-Taschenbuchausgabe folgt der 1990 erschienenen gebundenen Ausgabe der Friedenauer Presse Berlin.

 

Literatur

Isaak Babel, Die Reiterarmee. Aus dem Russischen übersetzt, herausgegeben und kommentiert von Peter Urban, Zürich (Diogenes) 1998 (317 S., 16,90 DM (Enthält "Die Reiterarmee", Texte aus dem Umfeld der "Reiterarmee", Beiträge für die Zeitung "Der rote Kavallerist" und Entwürfe)
ders., Tagebuch 1920. Aus dem Russischen übersetzt, herausgegeben und kommentiert von Peter Urban, Zürich (Diogenes) 1998 (270 S., 16,90 DM (Enthält das Tagebuch von 1920, Entwürfe zur Reiterarmee, eine Chronologie und Topographien der Schauplätze des Russisch-Polnischen Kriegs)
Stephane Courtois u.a., Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München (Piper) 1998 (987 S., 68,00 DM)
Peter A. Arschinoff, Geschichte der Machno-Bewegung. Aus dem Russischen von Walter Hold. Klassiker der Sozialrevolte Bnd. 1., Münster (Unrast) 1998 (268 S.), 24,80 DM)