Kann Migration den demographischen Wandel stoppen?

Harry Kunz

Neben der Geburtenhäufigkeit und der Lebenserwartung wird der demographische Wandel wesentlich durch Wanderungsbewegungen bestimmt. Insgesamt ist von 1950 bis 1997 ein Wanderungssaldo in Deutschland von rund 8,7 Millionen Menschen zu verzeichnen. Zumindest bis zum Ende der Achtzigerjahre wurden die sozialen Sicherungssysteme (und damit die alteingesessene Bevölkerung) durch die Zuwanderer subventioniert. So betrug 1991 der Ausländeranteil an den Pflichtversicherten in der GRV 9,4 Prozent, während ihr Anteil an den Rentnern deutlich niedriger lag. Dieser Einzahlungsüberschuss schmilzt freilich zusammen, weil die "Gastarbeiter" zunehmend das Rentenalter erreichen.

Die Hoffnung, durch eine verstärkte Zuwanderung die zukünftige Alterung der Gesellschaft zu bremsen, gründet erstens im Verweis auf die höhere Geburtenrate von Migrantinnen und zweitens im Glauben, durch eine Zuwanderung junger (und dann hier erwerbstätiger) Personen das für die Sozialsysteme ausschlaggebende Verhältnis von beruflich aktiven zu nicht-mehr-aktiven Personen zu verbessern.

Tatsächlich ist die Geburtenhäufigkeit hier lebender Migrantinnen höher als die "alteingesessener" Frauen. Allerdings verringert sich auch bei Migrantinnen die Geburtenhäufigkeit in dem Maße, wie eine Anpassung an die hier dominierenden Lebensverhältnisse stattfindet. Wo der Zwang und die Bereitschaft zur Anpassung der Ausbildungs- und Erwerbsbiografien an die Vorgaben des Arbeitsmarktes (räumliche Mobilität, zeitliche und berufliche Flexibilität) hoch sind, wo parallel eine steigende Bildungs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen die Problematik der Vereinbarkeit von Beruf und Kind zuspitzt und schließlich die kindbezogenen Aufwendungen ansteigen, entscheiden sich auch Einwanderer gegen Kinder. So hat sich die Geburtenhäufigkeit bei den hier lebenden Griechinnen, Italienerinnen und Portugiesinnen dem Niveau der Alteingesessenen angepasst, bei Spanierinnen liegt sie deutlich darunter. Lediglich bei Familien aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien und der Türkei ist eine erhöhte Geburtenhäufigkeit erkennbar – eine Folge des fast dreimal höheren Anteils von Mehrkinderfamilien und eines nur halb so hohen Anteils von Paaren ohne Kinder. Ein solcher "Sonderweg" dürfte nur so lange bestehen, wie die Integration und die berufliche und soziale Emanzipation dieser Frauen eingeschränkt bleibt. Insgesamt dürfte sich das Geburtenniveau von Migranten im Laufe des Integrationsprozesses aber den hiesigen, strukturell kinderfeindlichen Lebensbedingungen anpassen.

Auch die Idee, durch die Zuwanderung einer großen Zahl junger Menschen die Alterung der Gesellschaft zu bremsen, ist nicht plausibel. Erstens widersetzen sich Wanderungsbewegungen einer derartigen Funktionalisierung, weil sie oft durch unvorhergesehene Entwicklungen entstehen. Zweitens könnten Alterung und Bevölkerungsrückgang nach 2010 nur durch eine kontinuierlich hohe (Netto-)Einwanderung von jährlich rund 50<%15>0<%0>000 Menschen kompensiert werden, die deutlich jünger sein müssten als die derzeitigen Zuwanderer. Legt man die aktuelle Altersstruktur von Migranten zu Grunde, würde Zuwanderung gerade in der Phase der stärksten demographischen Belastung (2010 bis 2040) die gesellschaftliche Alterung sogar noch beschleunigen! Drittens ist zu berücksichtigen, dass sich die absehbaren Ziele künftiger Einwanderungspolitik keinesfalls vorrangig am Problem der Alterung der Gesellschaft orientieren. So beschreibt der Darmstädter Volkswirt Bert Rürup den für Wirtschaft und soziale Sicherungssysteme günstigen Wunschmig-ranten der Zukunft als:

– beruflich qualifiziert in einem Bereich, in dem hier zu Lande eine erhebliche Arbeitskräftenachfrage besteht,

–kinderlos und unverheiratet,

– gesund und möglichst jung.

Nicht oder fehlqualifizierte Zuwanderer bilden hingegen – über das Risiko erhöhter Arbeitslosigkeit – ebenso eine Belastung für die Sozialsysteme wie Zuwanderer mit Familien. Denn Kinder bedeuten Mehrausgaben für die Krankenversicherung, eine Ehepartnerin könnte zudem eine (Hinterbliebenen-)Rente einfordern. Schließlich sollten Zuwanderer nicht älter als 40 Jahre sein, da sie sonst nicht mehr in der Lage wären, einen eigenständigen Rentenanspruch jenseits des Sozialhilfeniveaus zu erwerben.1 Da aber berufliche Qualifikation das Schlüsselmerkmal bildet, dürfte eine arbeitsmarktorientierte Einwanderungspolitik im Ergebnis eine höhere Altersstruktur von Migranten bewirken als die heutige ungeregelte Zuwanderung. Eine arbeitsmarktorientierte und auf (kurzfristige) Nutzensteigerung der Sozialversicherungssysteme fixierte Zuwanderungspolitik widerspricht also einem Ansatz, der Migration als gesellschaftlichen Jungbrunnen begreift.

1 B. Rürup. Hält der Generationenvertrag?; in: A. Niederfranke u. a., Funkkolleg Altern Bd. 2, Opladen 1999, 333 ff.