Sex & Crime und gute Küche

China – wie es chinesische Experten sehen

Wilhelm Pauli

"Die Partei ist das Ebenbild der Sonne,
wo sie scheint, ist alles strahlend Wonne."
Zwei Frauen, singend im "Siedlerheim" zu Peking, beim Wegwischen der Kotze ihrer Männer.)

"Ein Regierungspräsident rottet Sippen aus,
ein Kreisdirektor ruiniert Familien.
Ihr hohen Herren, redet kein Blech.
Wenn ihr uns sagt: Pflanzt Knoblauch, dann tun wir das.
Wenn niemand unsern Knoblauch kauft, was sagt ihr dann?"
(Aus einem Lied, das der Straßensänger Zhang Kou vor der Tür des Kreisvorstehers sang, als der Knoblauch nicht abzusetzen war, kurz bevor er in der Geistergasse erschlagen wurde.)

Wer je in China war, wird es so oder so ähnlich empfunden haben: Du steigst irgendwo grün vom grünen Tee aus dem wohl temperierten Zug für euroamerikanische Gäste, und auf dem Bahnsteig stehen dreihundert oder dreitausend hochglanzpolierte Kinder, die mit winzigen Fingern auf dich zeigen oder vor Begeisterung an ihren Haarschleifchen ziehen, dann etwas kreischen, in die Händchen patschen und dann lachen und kichern: hihihi. Dahinter stehen etwa dreihundert oder dreitausend Erwachsene, die mit leichter Hand die Kinder daran hindern, dich anzufassen, zu gucken, ob die weiße Farbe abgeht und probieren, ob deine lange Nase auch echt ist. Weiße Farbe ist bereits von ausgesuchter chinesischer Höflichkeit, denn in Wirklichkeit sehen die Chinesen dich völlig zu Recht pissfarben. Die Erwachsenen lachen übrigens dabei etwa "hohoho". Das "Hihihi" und das "Hohoho" verbinden sich zu einer erst entnervenden, dann narkotisierenden Tonglocke, die während des gesamten Chinaaufenthaltes nicht mehr von dir gestülpt werden wird. Ob in der landwirtschaftlichen Kommune, ob im Stahlwerk, in der Nadelklinik, im obersten Gewerkschaftssekretariat: "Hihohihohiho." Du stellst eine Frage, der Dolmetscher: "Hohoho". Der Befragte: "Hohoho". Der Dolmetscher: "Hohoho". du kommst dir selbst zunehmend lustig vor. Und plötzlich, als du beim Achtzigprozentigen einen supercross herausgebackenen Pekingentenfuß abraspelst, fragst du dich, verstört durch die Ununterscheidbarkeit hohoho-durchfurchter und stereogeschlitzter Gesichter, dazu unsicher wegen der Verwechselbarkeit aller Namen – Mo Yan? Yo Nan? Hei Ma? Mai He? Xan Xou? Xou Xan? –, ob dieser da, dein Dolmetsch, wirklich noch der Metscher deines Vertrauens von gestern (hohoho) ist, oder ob der, während du hier oben wichtige Fragen stellst (hohoho), bereits unten im Keller wegen falschen oder richtigen Übersetzens (hohoho) gefoltert wird (hohoho). Und beim Abflug (hihohihohioho), ist dir nur eins klar, nämlich wie das Jahrzehnt um Jahrzehnt desaströsere Scheitern der China-Astrologen zu Stande kommt. Und dass es China, aber das wusstest du schon vorher, gar nicht gibt.

Müssen also die chinesischen Dichter ran, um Licht ins Dunkel zu bringen. Allein, sie setzen uns nur trübste Funzeln der Hoffnungslosigkeit. Es scheint, dass sich durch die Jahrzehnte nichts am Elend der Menschen geändert hat, die immer aufs Neue betrogenen Hoffnungen, die ewige Unterdrückerei, die Kämpfe ums Überleben, die religionsgestützte fatalistische Unterwerfung unter die je auferlegten Schicksalsmächte oder -schläge zu zivilisationsferner Verrohung und destruktiven, vor allem selbstzerstörerischen Psychopathologien geführt haben. Je moderner die Romane daherkommen, je rasanter sie geschnitten, je weniger aus weitschweifig historisierenden Schilderungen, je knapper sie aus den Seelenzuständen der Protagonisten und ihren Verwüstungen geschaffen sind, desto deprimierender sind ihre Botschaften. Eigentlich gibt es nur bei Lao Shes vergleichsweise konventionell gearbeitetem – für uns exotischen – Familienschinken Vier Generationen unter einem Dach etwas wie Zukunftshoffnung, verkörpert in einem Dichter, der sich aus seinem Kunstschreinchen löst, als das Verderben über seine Familie hereinbricht und er in Eisen gelegt wird, und sich einem etwas undurchsichtigen Widerstand anschließt oder zumindest heldenhaften Einzelwiderstand leistet. Und in einem sich zwischen Pflichterfüllung seiner Familie gegenüber und gegenüber seinem Land zermürbenden Familienvater. "Lao She stellt uns auf mehr als tausend Seiten das Leben der Leute in der Schafhürdengasse in Peking zur Zeit der japanischen Okkupation an der Schwelle zum zweiten Weltkrieg vor, und er ist zerrissen vom Hass auf die japanischen Teufel wie auf die Lethargie seiner Landsleute, ihren Opportunismus und vor allem natürlich die Kollaborateure, die er in patriotisch vorbildlichen Zerrbildern vorführt. Schwarz-weiß ist seine Zeichnung, in bester Absicht, aber schlechter Tradition, rassistisch durchaus seine Schilderung japanischen Untermenschentums, und die Frauenbilder verrutschen ihm zum üblichen Panoptikum aus Männerängsten und -lüsten, was selbst, aber das sieht der 1899 geborene Lao She natürlich nicht, ein Urgrund des ganzen Elends ist: Hure oder selbstlose, brave Häuslerin. Die Hoffnungszeichen, die Lao She setzt, hat er selbst eindrucksvoll 1966 mit seinem Selbstmord am Beginn der Kulturrevolution gelöscht.

Das ewige chinesische Hungermotiv, bei Lao She nur unwesentlich variiert durch die Verhältnisse während der Besetzung des Nordens und gelegentlich kontrastiert mit Zauberbildern aus einem alten China, von dem man gerne wüsste, wann das gewesen sein soll, taucht auch bei Su Tong (Die rote Laterne) in seinem Roman Reis auf. Reisbauern, Landarbeiter, getrieben von den Missernten der Dreißigerjahre, drängen in die Städte. Wulong nistet sich in die Familie eines Reishändlers ein, die er unter Schändung aller herumhumpelnden Töchter in die Hände bekommt. Er steigt zum Chef der örtlichen Mafia auf und rächt sich für sein trauriges Leben an allem, was sich bewegt.

Was Su Tong in Reis der Reis, ist ihm in Die Opiumfamilie das ... richtig. Eine nicht weniger harte Geschichte, in schnellen Schnitten und explodierenden Bildern hervorragend erzählt. Die Bauern sind befreit, sie wissen nur nichts davon. Und leider vermiest die Befreierei ihnen den Opiumabsatz. Was zu verstärktem Eigengebrauch führt. Beim Einmarsch der Volksbefreiungsarmee entstehen neue Kräftegruppierungen im Dorf, die sich jedoch eher aus dörflichem Idiotismus und angestautem Hass als aus politischen Einsichten speisen. Erste Kampf-Kritik-Umgestaltungsaufblähungen gehen völlig ins Leere und münden in chaotischen Auseinandersetzungen darüber, wer wen gefickt und wer den Längsten hat. Die stumpfe, recht eigentlich tierische Fickerei – stets geht es dabei um Macht, Rangordnung, Gewalt und Brünstigkeit, nach Kuschelrock und Liebesmelodien wird man bei Tu Song vergeblich suchen – führt zu unübersichtlichsten Verhältnissen samt Vatermord und Ausradierung der führenden eingesessenen Opiumanbaufamilie.

Na gut, das ist jetzt Jahrzehnte her. Gehen wir in die Achtziger. Zwei mitteldicke Romane sind am Ende dieses Jahrzehnts angesiedelt. Der eine in der Stadt (Hei Ma, Verloren in Peking), der andere auf dem Land, Nordost-Gaomi, Landkreis "Paradies" (Mo Yan, Die Knoblauchrevolte). Der eine unter Intellektuellen, Schreibern, Dichtern, Übersetzern, Verlagsangestellten. Der andere unter Landarbeitern, Bauern und ihren lokalen Herren.

Die Verlagsangestellten wohnen im Siedlerheim und warten auf Wohnungen, die sie niemals bekommen werden, und auf die Zuzugsgenehmigungen nach Peking für ihre Frauen und Schwiegermütter. Oder sie heiraten irgendjemanden, damit sie ein Zimmer für sich bekommen, ansonsten ruhen sie in der "Eisernen Reisschüssel". Sie klauen sich gegenseitig die Töpfe, schiffen in die Gänge. Sie tricksen sich aus, wann immer es geht, und in melancholischen Stunden sitzen sie da und träumen vom Ausland. Peking haben sie geschafft, jetzt möglichst sofort Amerika oder Deutschland oder Australien. Die mit mehr Talent oder krankhaftem Ehrgeiz intrigieren und mobben sich in die besseren Abteilungen und Positionen, und bei Verlagsarbeiterinnen beflügelt die Karriere ein regelmäßiges Bearbeiten der  toten Hosen der verehrten alten Genossen Abteilungsleiter. Was literarisch produziert wird, möpselt in etwa wie die Gänge im Siedlerheim.

Mo Yans kleine und mittlere Bauern und arme Landarbeiter sollen Knoblauch anpflanzen, werden aber so ausgenommen und geleimt, dass sie in hilfloser Wut das Büro der Kreisverwaltung zerlegen. Da hat auch Gao Ma dabeigestanden, der die Unbotmäßigkeit nicht überleben wird, zumal er die Heiratspläne in kreisverwaltungsnahen Kreisen stört. Die Tochter eines Bauern möchte er und sie ihn, aber da ihr Bruder hinaufheiraten will, muss sie als Gegengabe einem Verwaltungskrüppel verschachert werden. Auch Liebchen und Leibesfrucht werden nicht überleben. Die andern Insurgenten werden in den Kerkern Kotze und Urin schlecken, und wer schon ein langes erfahrungsreiches Leben im ländlichen China hinter sich hat, wird nun zumindest den Vorteil haben, beim Verzehr von Läusen und Schaben nicht allzu sehr zu fremdeln – und dennoch nicht davonkommen.

Hei Ma ist entschieden der schlechtere Erzähler. Er weiß von all seinen Figuren, die da im Siedlerheim herumfaulen, einfach zu viel, was ruinös auf Kosten einer nachvollziehbaren Personenentfaltung geht. Er daddelt ein bisserl arg linear vor sich hin, allzu oft in der Art: Hei Ma, dessen Urgroßvater in Harbin Lastenträger gewesen war, bevor er in Changchun eine Hundebraterei eröffnete und dort seine Frau kennen lernte, die bei der Geburt seines Großvaters starb, worauf jener von einer wohlhabenden Tante in Peking adoptiert worden war, deren Mann als Halsnasenohrenarzt am Langen Marsch teilgenommen hatte, und so während der Kulturrevolution trotz bürgerlicher Abweichungen glimpflich davongekommen war, wendete die Leber.

Mo Yans Knoblauchrevolte (von ihm ist auch Das rote Kornfeld, zumindest als Film bei uns bekannt ) ist indes ein wahrhaft moderner Roman in perfekter, spannungsreicher Montage-Technik, mit großen poetischen Momenten. Beispielhaft das Hineinweben der aufmüpfigen Lieder und des gewaltsamen Endes des Straßensängers Zhang Kou.

Guanlong Cao ist 1987 aus China herausgekommen. Er lebt in den USA und hat mit Lange Schatten einen stark autobiographischen Roman geschrieben. Der Vater war Grundbesitzer gewesen, und die Familie hatte in den Zeiten der Kulturrevolution mit der Willkür der Revolutionäre und nur zu berechtigten Ängsten zu kämpfen. Auf einem Dachboden in Shanghai versucht die sechsköpfige Familie mit Hilfe einiger Decken und Matratzen das Leben zu organisieren. Dicht an dicht gelagert wird die runde Mutter zum haptischen Erkundungs- und Wonnefeld des kleinen Guanlong. Guanlong Cao legt großes Gewicht auf die scheinbar unspektakulären, aber unter den obwaltenden Verhältnissen ungeheuer mühevollen Verrichtungen des Alltags. Wie man aus stinkenden Schafsresten stinkende Seife köchelt, wie man die Reisschüssel einigermaßen voll bekommt, bei der ganzen schikanösen Markenwirtschaft. Wie man bei aller Bedrückung sich ein Rückzugsgebiet bewahren oder erkämpfen kann, jedenfalls bis zum nächsten Desaster. Und dann, wie er die Schwester aus dem Kautschukeinsatz im Süden herausholt – wo schon der Lärm des Vietnamkriegs anhebt – und aus den Händen der Aufseher und bewachenden Militärs, die sich an den Brustlätzen und unter den Röcken der Arbeiterinnen zu schaffen machen und öffentliche Abtreibungen veranstalten. Guanglong führt Laugenexperimente am eigenen Körper durch, die ihm ein Zehlein verstümmeln, der Schwester bei der praktischen Anwendung unten im Kautschukdschungel beinahe das Leben kosten. Aber verkrüppelt kann sie zurückkehren. Ein Bruder auf dem Weg in die Partei, ein Bruder im Gefängnis fertig gemacht, die Schwester verstümmelt, der Vater tot, die Mutter im Rollstuhl, Frau und Kind zurückbleibend: "Du kennst die Lage besser als ich. Sie kann sich jederzeit ändern ... Geh fort, verschwinde so schnell wie möglich!", so der dringende Rat der Schwester, die ihm ihr Gespartes rüberreicht, als er ein Stipendium des Middlebury-College in Vermont erhält und tatsächlich eine Ausreisegenehmigung.

Cao setzt nicht auf die blutvollen und spermasatten Sex-and-Crime-Geschichten wie seine Kollegen, er fängt die Fiesheiten des zerstörerischen Alltags eines unterentwickelten Landes bei hoch entwickeltem Unterdrückungsapparat ein und vermittelt eine Ahnung von der Sisyphusarbeit, brauchbare Überlebenstechniken zu kreieren. Beides in großer, schwer unterkühlter, manchmal komischer Lakonie. Plötzlich schneidet er ein Kapitel, "Die Kultur des Tötens", dazwischen, bei dem es den Leser wirklich hart ankommt, aber das dazugehört zum Befund und von würgender Aussagekraft ist: "Es gibt wahrhaftig keine Tabus auf der Skala chinesischen Essens. Fast alles kann in eine Delikatesse verwandelt werden. Flugzeuge sind die einzige Ausnahme unter fliegenden Wesen. Unter Vierbeinern wird nur Bänken Gnade gewährt. Wir essen nicht nur alles, sondern wir essen es auf einzigartige Weise." Und dann erzählt er uns, wie Affen bei lebendigem Leibe der Schädel geöffnet und das Hirn gelöffelt wird, das "Brechen der weißen Jade", wie die höchste Kunstentfaltung Fische filetiert, aber mit noch pumpenden Kiemen auf den Tisch zaubert, wie bei lebendigem Leibe gebrüht und gehäutet und gepfählt wird, wie winzige Mäusekinder am Spieß sich selbst in die köstlichsten Dips winden und wie enthäutete Hunde wahnsinnig in Erdgruben kreisen, damit die Muskeln das Gute im Blut ausfiltern und halten können und es nicht etwa wegflösse, schnitte man den Kötern die Kehlen durch. Ich weiß schon, was jetzt eingewendet wird: Massentierhaltung, Schweinchenholocaust. Aber hier handelt es sich nicht um die traurigen Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Warenproduktion, sondern um Verfeinerung, Veredelung, Spitzen- vielleicht schon gar Erlebnisgastronomie.

Jüngst ist Der Mann, der sein Blut verkaufte von Yu Hua, freier, in China lebender Autor, erschienen. Darin wird erzählt, wie ein Transportarbeiter durch den Verkauf seines Blutes Schicksalsschläge zu steuern versucht, wie die Bestechungsvorgänge bei den Chefs der Blutbanken in den verschiedenen gesellschaftlichen Epochen angelegt werden müssen, um zur Ader gelassen zu werden, und wie am Ende sich Xu fast ausbluten lässt, um die Krankenhausbehandlung seines untergeschobenen Ältesten zu finanzieren. Ehedramen spielen sich um jenen Bankert ab, die einmal mehr die trostlose Lage der Frauen in China bespiegeln. Und die nach wie vor – der Roman zieht sich bis weit in die zweite Hälfte des soeben vergangenen Jahrhunderts hinein – barbarischen Formen des Umgangs der Menschen miteinander: Xu, der Spender, beispielsweise, lässt seine beiden leiblichen Söhne schwören, dass sie zur Rache an dem Manne, der ihn gehörnt, beizeiten dessen beide Töchter vergewaltigen werden.

Yu Huas deprimierend realistischer Roman verstärkt seine Wirkung durch einen schlichten Stil, in dem Geschwätz so oft in beinahe gleichen Worten erzählt wird, bis es durch die ganze Gemeinde ist. Das erinnert an die hypnotische Sprache unserer grausamen Märchen. Doch leider haben hier nicht die Gebrüder Grimm halb hingehört und gut zu Ende erfunden.

China gibt es nicht, sagte ich. Die Wahrscheinlichkeit, dass die fritzispritzi Wirtschaftssonderwunderzonen dieses Großreich nicht werden füttern können, eher seine flächenmäßige Verrottung oder Explosion zu beschleunigen in der Lage sind, ist ziemlich groß. Aus dem, was man China nennt, so viel ist sicher, werden uns noch bittere und grausame Gesänge erreichen.

Lao She, Vier Generationen unter einem Dach. Roman, Zürich (Unionsverlag) 1998 (1102 S., 68,00 DM)

Su Tong, Reis. Roman, Reinbek (Rowohlt Verlag) 1998 (281 S., 38,00 DM)

Su Tong, Die Opiumfamilie. Roman. Reinbek (Rowohlt Verlag) 1998 (141 S., 32,00 DM)

Hei Ma, Verloren in Peking. Roman. Frankfurt am Main (Eichborn Verlag) 1996 (400 S., 44,00 DM)

Mo Yan, Die Knoblauchrevolte. Roman. Reinbek (Rowohlt Verlag ) 1997 (384 S., 42,00 DM)

Guanlong Cao, Lange Schatten. Roman, Salzburg/Wien (Residenz Verlag) 1998 (268 S., 40,80 DM)

Yu Hua, Der Mann, der sein Blut verkaufte. Roman. Deutsch von Ulrich Kautz, Stuttgart (Klett-Cotta ) 2000 (260 S., 36,00 DM)

 

Kina Kina

Eine gute Ergänzung zu den schwerblütigen Romanen echter Chinesen ist das vom munteren Schweizer Forelle beziehungsweise Libelle Verlag neu aufgelegte Buch (erstmals 88 bei Haffmans) des später als Herausgeber der "Klassischen Sau" reüssierenden Hermann Kinder Kina Kina. Kinder, 86 in Shanghai arbeitend, schickt sein alter ego J. Andermatt im akademischen Austauschdienst an die Wandtafeln chinesischer Germanistikstudenten. Unbildbare, desinteressierte, in die Gitter der öffentlichen Parolen gezwängte Unglückliche, bei denen jede wissenschaftliche Diversifikation, jede aufgeklärte Themenstellung Kichern oder Tiefschlaf hervorruft. Die Fortschrittlicheren in ihren trüben Kellerlöchern interessiert immerhin noch, ob die Studenten in Deutschland wirklich wichsen. Und auch die Annäherung an den sanft beaufsichtigenden chinesischen Kollegen beschränkt sich auf ein für Andermatt, aus Angst, Fehler zu machen, schweißtreibendes Essen in Wangs beengter Behausung. Eine herausgenommene Privatheit, die für Wang, so lässt der Text samt im Handumdrehen erfolgter Abschiebung Andermatts schließen, nicht ohne Folgen bleibt.

Kinders Buch hat bei seinem Erscheinen eine heute höchst merkwürdig oder lustig anmutende Kritik erfahren, Denunziation der Gastgeber, rassistischer Eurozentrismus, imperialistische Überheblichkeit wurden ihm – kurz gefasst – vorgeworfen. Und dahinter immer die ja auch aus anderen Konflikten bekannte Weißwäscherei und Versöhnlerei mit den Mächtigen der in Unterentwicklung gehaltenen Völker, es handle sich eben um das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen. Das ist nicht die Wahrheit. Es handelt sich fast immer um das Aufeinanderprallen von Zivilisation in ihrer individualistischen Verblühblüte und der in weiten Teilen der Welt an den Völkern verübten Barbarei mit ihren entsetzlichen Folgen. Kinder/Andermatt haben – lesen wir die Romane der chinesischen Autoren dazu – gut beobachtet. Nur bei der alles niederlachenden Verlegenheitsgeste der Chinesen haben sie sich verhört: Niemals lachen die "haha". "Hoho" muß es heißen. Allerhöchstens "hihi".

Hermann Kinder, Kina Kina. Reiseerzählung, Lengwiel am Bodensee (Libelle Verlag) 1999 (171 S., 32,00 DM)