Bemühungen um einen Perspektivenwechsel

Die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Monika Weimar/Böttcher (VI.)

Eva Horn

Am 5. Juni 1996 begann vor der sechsten Strafkammer des Gießener Landgerichts das Wiederaufnahmeverfahren gegen Monika Böttcher, geschiedene Weimar. Monika Weimar war im Januar 1988 nach neun Monaten Verhandlung vom Landgericht Fulda wegen Doppelmordes an ihren fünf und sieben Jahre alten Töchtern zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Verurteilung erfolgte aufgrund von Indizien. Sie selbst hat die Tat stets bestritten.

Wider einiges Erwarten sind die beiden amerikanischen Zeugen nun doch erschiehen; als erstes Raymond E., der geschiedene Mann von Brigitte E., der jüngeren Schwester der Angeklagten. Er war seinerzeit als Koch bei der US-Army in Bad Hersfeld stationiert und lebte mit seiner Frau im Hause der Großfamilie Böttcher. Brigitte E. war es auch, die am Montag, dem 4. August 1986, gegen Mittag die Vermißtenmeldung aufgegeben hatte.

"I don't recall." Ich erinnere mich nicht. Das ist mit fort schreitender Vernehmung im Gießener Wiederaufnahmeverfahren die immer häufiger werdende Antwort dieses Zeugen. Seit seiner Aussage vor dem Fuldaer Landgericht vor knapp zehn Jahren hat sich der heute 34 Jahre alte Mann, im jetzigen Beruf Waldarbeiter, stark verändert. Damals erschien der am Vorabend seiner Vernehmung in Fulda eingetroffene und noch sehr jung wirkende Zeuge mit etlichen Blessuren im Gesicht, und auf die Frage des Vorsitzenden, ob er alte Rechnungen beglichen habe, lautete seine knappe Antwort: "Nein, neue." Von dem damals spannungsgeladenen, wie auf dem Sprung wirkenden Jungen ist heute nichts mehr wiederzuerkennen. Auf die Frage des Staatsanwaltes, ob er seit seiner Ankunft in Deutschland mit Mitgliedern der Familie der Angeklagten gesprochen habe oder mit der Angeklagten selbst, antwortet er zunächst mit nein, erklärt dann aber, er habe versucht, bei der noch immer im Familienhaus in der Nippe wohnenden älteren Schwester von Frau Böttcher, vormals Weimar, die Adresse seiner Exfrau zu erfahren. Sie habe sie ihm aber nicht gegeben.

Es war vor allem dieser Raymond E. und seine Eheschließung mit Brigitte, die Reinhard Weimar, der geschiedene Mann der Angeklagten und Nebenkläger, im Auge hatte, als er damals bei seiner Vernehmung in Fulda dem Gericht erklärte, daß mit dem Tod seines Schwiegervaters im Jahre 1983 in der Familie alles den Bach runtergegangen sei. Zu dessen Lebezeiten hätte die (Brigitte) sich nie getraut, den Ami zu heiraten. Aus seiner subjektiven Perspektive hatte Reinhard Weimar mit dieser Einschätzung auch nicht ganz unrecht, denn als seine Frau, der ewigen Streitereien mit ihm überdrüssig, nach Ablenkung von der häuslichen Misere suchte, war es eben ihre jüngere Schwester, der sie sich anschloß. Von ihr wurde sie ins Bad Hersfelder Musikparadies, kurz MP genant, eingeführt. Und dort lernte sie schon sehr bald ihren späteren Freund und Liebhaber Kevin P. kennen. Den Mann, der dann einige Monate später das Tatmotiv für die Tötung ihrer Kinder abgeben sollte, ihre übergroße Liebe zu und ihre Abhängigkeit von ihm also. Das jedenfalls nahm die Fuldaer Staatsanwaltschaft an und auch das Gericht. Eindrücke von der Qualität der Beziehung zwischen Monika Böttcher, geschiedene Weimar, und Kevin P. konnte man dieser Tage bei der Verlesung einiger Telefonabhörprotokolle gewinnen, aber kehren wir zunächst einmal zurück zu Raymond E.

Auf seine Vernehmung hatten Staatsanwaltschaft und Nebenklage besonderen Wert gelegt, denn zum einen erhoffte man sich von ihm Angaben darüber, ob und wie ausführlich innerhalb der Familie der Tod der Kinder und Spekulationen über den oder die Täter erörtert worden waren. Dazu allerdings konnte der Zeuge nur wenig sagen. Die Sprachschwierigkeiten waren so groß gewesen, daß die Gespräche über Belanglosigkeiten kaum hinausgingen.

Der andere Fragenkomplex betraf die Nacht, in der oder nach der die Kinder getötet worden waren. Denn dieser Zeuge war es, der nachts die kleine Karola hatte weinen hören und dann mit seiner Frau in die Wohnung der Weimars hinuntergegangen war, damit diese das Kind trösten und ihm das nasse Höschen wechseln konnte. Die Befragung dazu blieb aber eher unbefriedigend, die Erinnerungen des Zeugen waren vage und leicht erschütterbar. Wirklich sicher ist er sich lediglich, daß er Melanie, das ältere Mädchen, mit den Zähnen hatte knirschen hören. Das war ihm im Fuldaer Verfahren von der Verteidigung ausgeredet worden, jetzt aber besteht er auf dieser Angabe.

An Kevin P. erinnert er sich, auch daß dieser ein paarmal oben "bei uns" war.

Vom Beisitzer und Nebenkläger wird Raymond E. mehrfach gefragt, ob er denn wissen wollte, was eigentlich los sei, als die Kinder "verschwanden", und ob er selbst zum Zeitpunkt der Suchaktion glaubte, daß die Kinder noch lebten, und ob er solche Fragen gestellt habe. Aus dem penetranten "I don't recall" kann man durchaus den Schluß ziehen, daß einer sich deswegen nicht erinnert, gefragt zu haben, weil er eben nicht gefragt hat. Und wenn er nicht gefragt hat, gibt es dafür verschiedene Erklärungen: vielleicht hat es ihn nicht interessiert. Vielleicht brauchte er aber auch nicht zu fragen, weil er ohnehin wußte, was geschehen war.

Als er später noch einmal auf die Vorgänge in der Nacht und ihren zeitlichen Ablauf angesprochen wird und darauf, ob in der Familie darüber gerätselt wurde, wie man das Weinen der Karola oben hatte hören können, fügt er dem stereotypen "Ich erinnere mich nicht" noch hinzu, "ich versuche eigentlich, mich an gar nichts zu erinnern". Verblüfft will daraufhin der Staatsanwalt wissen, warum. Worauf der Zeuge davon spricht, wie schrecklich er die Situation empfunden habe, die Kinder hätten ihm nahegestanden, er habe sie in englisch angesprochen und sie hätten ihm auf deutsch geantwortet.

Im Zusammenhang mit der Vernehmung des Kevin P. gab es ebenfalls einiges, was verblüffte. Vorangegangen war die Befragung jenes Mitarbeiters von Spiegel-TV, der im Sommer letzten Jahres in den USA das Interview mit ihm gemacht hatte. Dieser Mann erzählte von den Geldforderungen, die Kevin P, für das Interview stellte (8.000 Dollar) und meinte, man habe sich schließlich auf 10.000 Dollar (!) geeinigt, dafür aber Exklusivität für ein Jahr vereinbart. Sie endet im Juni 97. Das schließe aber selbstverständlich nicht aus, so der Zeuge, daß Kevin P. hier vor Gericht aussagt. Die Zuhörer waren dankbar für so viel Großzügigkeit. Eine gewisse Aufwertung erfuhr dieses "Entgegenkommen" dann noch durch die Bemerkung des Oberstaatsanwaltes, als dieser im Hinblick auf Kevin P. meinte, er sei ja bereits im Sommer (gemeint war das Interview) vernommen worden. Auf das Gelächter im Saal hin schob er dann nach, "ohne Belehrung" (womit er die Belehrung von Zeugen über ihre Rechten und Pflichten meinte). Wenn solche Äußerungen keineswegs ironisch wirkten, kann man sich schon fragen, ob der Oberstaatsanwalt die Privatisierungsbestrebungen im öffentlichen Dienst nicht etwas zu weit treibt. Vielleicht schätzt er aber auch einfach nur die Ermittlungstätigkeiten von Spiegel-TV höher ein als seine eigenen.

Was dann während der eigentlichen Vernehmung des Kevin P. verblüffte, war der Facettenreichtum der Beziehung zwischen ihm und Monika Weimar, der bei der Verlesung der drei Protokolle der Telefonüberwachung deutlich wurde. Die Gespräche waren in der Zeit vom Sept./Okt. 1986 geführt worden, also in jener Spanne vor Monika Weimars Verhaftung am 27. Oktober. Wegen der zahlreichen Widersprüche war sie immer stärker in den Verdacht der Täterschaft geraten und Kevin P. lief Gefahr, in diesen Verdacht mithineingezogen zu werden. Ihm machte die Armee zu dieser Zeit Druck, er durfte sich nicht mehr mit Monika Weimar treffen oder überhaupt die Kaserne verlassen. Man drohte ihm mit Sanktionen. Mit zum Teil erstaunlicher Langmut versuchte er ihr am Telefon klarzumachen, daß er sich, trotz ihres Drängens, nicht mit ihr treffen könne, worauf sie teilweise mit Verständnis, vorwiegend aber mit Mißtrauen oder Ignorieren seiner Erklärungen reagierte. Immer wieder beschwört er sie, "das mußt du doch verstehen". Sie verstand aber, zum Teil wohl auch aus sprachlichen Gründen, eher wenig. Trotzdem rief er immer wieder an. Da beginnt man zu ahnen, daß die Abhängigkeit , die das Fuldaer Gericht als einseitige konstatierte, eher wechselseitig war.

Und noch etwas verblüffte. Die Kargheit, mit der er auf Befragen der Nebenklage, die einzelnen Familienmitglieder beschrieb, stand in starkem Gegensatz zu der Vehemenz, mit der er die Innigkeit seiner Beziehungen zur Großfamilie (außer Reinhard Weimar) beschwor. Wie ein Vater habe er sich den Kindern gegenüber empfunden. Gleich darauf verwechselte er die hervorstechenden Eigenschaften von Karola und Melanie.

Peinlich wirkten seine Äußerungen über die sexuelle Beziehung der Eheleute Weimar und die Rolle, die er sich selbst bei der Behebung dieser Schwierigkeiten zuschrieb. Als er von einer Szene erzählte, in der er selbst sich dem vor Zorn brüllenden Reinhard Weimar entgegenstellte, kam unwillkürlich die Erinnerung an eine Formulierung, die Reinhard Weimar seinerzeit bei seiner polizeilichen Vernehmung gebraucht hatte. Damals sagte er sinngemäß: Wenn ich es getan (die Kinder getötet) habe, dann muß es in einem Black-out gewesen sein. Daß dieser Mann beim Anblick des Liebhabers seiner Frau oder dem bloßen Gedanken an ihn nur noch rotgesehen hat, wird nach dieser Vernehmung zumindest nachvollziehbar. Denn Kevin P. stellte sich in Gießen dem Tenor nach als derjenige dar, der Rechte auf Frau Weimar und die Kinder zu vertreten hatte und den Ehemann und Vater als Störenfried empfand.

Die Vernehmung des Kevin P., der aus gesundheitlichen Gründen nur bedingt belastbar ist, wird fortgesetzt.