Entwicklungsdiktatur und nationale Integration

Islamismus, Demokratie und Emanzipation im Sudan und Eritrea

Jörn Schulz

Afrika - ein Kontinent ohne Zukunft? Abgehängt von der weltwirtschaftlichen Entwicklung und zerrissen von Bürgerkriegen sind immer mehr Länder abhängig von ausländischer Finanz- und Nahrungsmittelhilfe. Verschwinden damit die letzten Chancen auf eine selbstbestimmte Entwicklung? Diese, so der nigerianische Wissenschaftler Adebayo Olukoshi auf einer Forschungskonferenz über Fragen der nationalen Entwicklung in Guinea-Bissau, "erfordert unter anderem, daß der Staat sich die Entscheidungsgewalt in ökonomischen Angelegenheiten wieder aneignet, die gegenwärtig multinationale Finanzinstitutionen in Beschlag genommen haben."1

Das vorrangige Problem Afrikas ist die Rekonstruktion des Nationalstaates. Erst wenn eine gewisse Stabilität hergestellt und ein nationaler Minimalkonsens gefunden ist, wird es möglich, Entwicklungspolitik zu betreiben und sich mit ausländischen Geldgebern und -nehmern auseinanderzusetzen. In der Vergangenheit wurde meist versucht, nationale Einheit durch einen ideologischen Zwangsstaat zu erreichen. Das Motto der ehemaligen Einheitspartei Malis "Ein Volk, ein Ziel, ein Glaube" steht beispielhaft für diese Strömung, die heute vor allem durch die islamistische Bewegung vertreten wird. Die Mehrheit der afrikanischen Intellektuellen ist jedoch heute der Ansicht, daß der Staat die Pluralität der afrikanischen Gesellschaften anerkennen muß.

Deshalb, so unter anderem der zairische Forscher Mwayila Tshiyembe, entspricht nur der multinationale Staat der afrikanischen Realität. Es sei erforderlich, "die Multinationalität oder Multiethnizität zur Grundlage des neuen Staates zu machen und nicht die Nation, wie es der klassischen europäischen Staatstheorie entspricht. Die Pluralität oder Verschiedenheit muß das kulturelle Muster der neuen Zivilgesellschaft sein und nicht die Homogenisierung oder die ethnische Säuberung."2

Umstritten ist die Frage, welche Rolle die afrikanischen Traditionen dabei spielen können. Die heute übliche Unterscheidung zwischen "guten" und "schlechten" Traditionen ist nicht ganz unproblematisch, denn sie ist für viele Interpretationen offen und wird von außen an Gruppen herangetragen, die eine solche Unterscheidung nicht treffen wollen. Sie impliziert auch, daß eine "moderne" Gesellschaftsschicht die Führung im Entwicklungsprozeß übernimmt. Dies dürfte in der Tat unvermeidlich sein, und nach Lage der Dinge wird die Führung der Mittelschicht zufallen.

Der Kolonialismus zerstörte die alten Klassen- und Kastenstruktur in Afrika in ihren Grundlagen, während die "indirekte Herrschaft" sich bemühte, die Fassade zu renovieren und zu erhalten. Traditionelle Wertvorstellungen lebten fort, nicht zuletzt als Widerstandsidentität gegen den Kolonialismus. Die traditionellen Autoritäten blieben nach der Unabhängigkeit fast überall einflußreich, und sie konnten einer Modernisierung, die ihre Macht untergrub, wenig abgewinnen. Bis heute hat sich keine Klassenstruktur etablieren können. Bereicherung macht noch keine Bourgeoisie, und es gibt in Afrika heute mehr Straßenhändler als Industriearbeiter.

Die afrikanische Mittelschicht ist eine Bildungselite, deren Beruf und Einkommen nur selten ihrer Ausbildung und ihren Erwartungen entspricht. Sie verfügt über die notwendigen Fähigkeiten für die Staatsführung, und da in Afrika auch die Offiziere zur Bildungselite zählen, kontrolliert sie die Armee. Da wegen des geringen Niveaus politischer Organisierung und sozialer Interessenvertretung relativ kleine Gruppen das Schicksal ganzer Staaten bestimmen können, ist die Orientierung der Mittelschichten entscheidend für den Entwicklungsweg eines Landes.

Islamismus in Afrika

Vermutlich aus diesem Grund ist Afrika das wichtigste Feld islamistischer Außenpolitik. Während die Mehrheit der afrikanischen Muslime mit dem Islamismus wenig anzufangen weiß, könnte die frustrierte Mittelschicht der Städte für islamistische Ideologien empfänglich sein. Wenn es gelingt, wie im Sudan, die Staatsmacht zu erobern, kann mit deren Hilfe das "Haus des Islam" erweitert werden. Neben der Dawa (Ruf zum Islam) gilt dabei auch der Jihad als legitimes Mittel.

Mit dem Sudan hat der Islamismus einen jener Sahel-Staaten erobert, die an der Schnittstelle zwischen arabisch-islamischer und schwarzafrikanischer Welt liegen. Es muß betont werden, daß es sich hier um eine ideologische Einteilung handelt, die der komplizierten gesellschaftlichen Realität im Sahel nicht gerecht wird. Doch nicht allein in den westlichen Medien, auch in islamistischen Kreisen oder unter schwarzen Intellektuellen3 wird der Bürgerkrieg im Sudan in diesen Kategorien gesehen.

Aus islamistischer Sicht handelt es sich darüber hinaus um einen Kreuzzug gegen den Islam.

Tatsächlich hat Clinton die Nachbarstaaten zu einer schärferen Gangart gegenüber dem Sudan gedrängt, Frankreich dagegen unterhält gute Beziehungen zum Sudan; ein "kritischer Dialog" auf französisch sozusagen. Und die "Kreuzzügler" wissen bis heute bemerkenswert wenig über einen Bürgerkrieg zu sagen, der mehr Menschenleben gekostet hat als jeder andere Konflikt in Afrika. Aktuelle Schätzungen liegen bei zwei bis zweieinhalb Millionen, das sind fast 10 Prozent der Bevölkerung. Die "Kreuzzügler" ziehen es jedoch vor, anderswo anzusetzen.

Der Sudan, so ihr Vorwurf, beherberge drei ägyptische Islamisten, die am Attentat auf ihren Staatschef Mubarak in Addis Abeba beteiligt waren. Im Dickicht propagandistischer Vorwürfe und geheimdienstlicher Desinformation ist die Realität schwer auszumachen. Zweifellos nutzen islamistische Gruppen den Sudan als Rückzugsraum, und es ist unwahrscheinlich, daß sie dort nur Tee trinken. Weit größere Bedeutung für die Bildung terroristischer Gruppen hatten jedoch die Kriege in Afghanistan und Bosnien, dies haben alle bisherigen Prozesse um islamistische Anschläge im Westen belegt. Da man darüber nicht gerne spricht, ist es natürlich bequem, alle Schuld auf "Schurkenstaaten" wie Iran oder Sudan zu schieben.

Dies bedeutet auch, gegenüber islamistischen Diktaturen eine Kampagne der Vorurteile einer politischen Argumentation vorzuziehen. Das sudanesische Regime kann sich jederzeit darauf zurückziehen, die Verdächtigen seien eben nicht auffindbar. Der Sicherheitsrat hat einen Schuldspruch verkündet, ohne Beweise vorgelegt zu haben. Für die westliche Öffentlichkeit mag das Stichwort Islamismus genügen, in der islamischen Welt dagegen führt diese Arroganz zu einer Solidarisierung mit dem Sudan weit über islamistische Kreise hinaus.

Dabei muß man nach guten Argumenten für einen Sturz des sudanesischen Regimes nicht lange suchen. Nur wenn der Sudan zu einer säkulären Gesetzgebung zurückkehrt und ein gleichberechtigtes Verhältnis der Regionen, Religionen und ethnischen Gruppen erreicht, kann der Bürgerkrieg beendet werden. Beides ist unmöglich, solange ein Regime an der Macht ist, das mittels der Sharia und der Armee das gesamte Land, Muslime wie Nichtmuslime, auf seinen islamistischen Modernisierungskurs zwingen will.

Die Dominanz des Nordens

Dieses Projekt stößt auf Widerstand auch in der traditionell orientierten muslimischen Bevölkerung, die in den Islamisten eine verwestlichte, weit von den islamischen Wurzeln entfernte Technokratie sieht. Nachdem die nordsudanesische Opposition sich kürzlich mit der südsudanesischen Guerillabewegung Sudanese People's Liberation Army (SPLA) verbündet hat und die südlichen Nachbarstaaten offen ihre Unterstützung für dieses Bündnis erklärt haben, ist der Sturz des Regimes nähergerückt. Allerdings kann die Opposition diesmal wohl nicht, wie in früheren Zeiten, auf Hilfe aus der Armee zählen.

Vor dem islamistischen Putsch im Jahre 1989 war jeder Machtwechsel im Sudan eine Mischung aus Volksaufstand und Militärrebellion. 1964 weigerten sich die Soldaten, auf regimefeindliche Demonstrationen zu schießen und stürzten statt dessen die Diktatur. Die Truppen Oberst Nimeiris umstellten den Präsidentenpalast, während ein junger Professor namens Tourabi zu den wichtigsten Führern der zivilen Opposition zählte. Bereits damals spielte die Muslimbruderschaft, zu deren Generalsekretär Tourabi im gleichen Jahr gewählt wurde, eine wichtige politische Rolle.

Die meisten Muslime folgten jedoch damals wie heute den Sufi-Bruderschaften, die im Sudan einen konservativ-traditionalistischen Islam vertreten. Die beiden größten Bruderschaften werden von der Stammesaristokratie geführt, sie sind jeweils einer "modernen" Partei verbunden, in der Angehörige der Mittelschichten dominieren. So unterhält die Democratic Unionist Party (DUP) enge Beziehungen zur Khatmiyya-Bruderschaft, während die Umma-Partei mit den Ansar verbunden ist. Insofern hatte der Sudan nie eine rein säkuläre Gesetzgebung, das Strafrecht allerdings folgte eher britischem als koranischem Vorbild.

Die Umstände der Kolonisierung des Sudan hatten dazu geführt, daß der muslimische Norden zum politischen Machtzentrum wurde. Der Süden, wo Christentum und traditionelle Religionen dominieren, wurde kulturell abgeschottet, hier war die Ausübung der islamischen Religion lange Zeit verboten. Die britische Kolonialmacht faßte ein Gebiet zusammen, das nie zuvor eine politische oder kulturelle Einheit gebildet hatte, und tat noch einiges, um die Spaltung zu vertiefen. Als Großbritannien in den 50er Jahren den Rückzug vorbereitete, wuchs der Unmut im Süden.

Die Elite des Nordens zeigte keinerlei Bereitschaft, den Süden gleichberechtigt an der politischen Macht zu beteiligen. Bereits 1955, ein Jahr vor der Unabhängigkeit, begann der Aufstand der Anyanya-Bewegung. Die Motive waren vorrangig politischer und sozialer Natur, der Aufstand richtete sich gegen einen "inneren Kolonialismus", der dem Süden auferlegte, Ressourcen für den Norden bereitzustellen. Das Streben der islamischen Kräfte nach kultureller Hegemonie und eine im Norden weit verbreitete überhebliche, oft auch rassistische Haltung gegenüber dem Süden spielten allerdings immer eine Rolle.

Um einen allgemeinen Konflikt zwischen schwarzafrikanischer und islamischer Kultur handelte es sich jedoch nie. Das politische Machtzentrum umfaßt nicht den ganzen geographischen Norden des Landes. Die Beja im Nordosten beispielsweise sind, obwohl arabische Muslime, nicht Teil des "politischen Nordens". Ähnliches gilt für ethnische Gruppen im Westen des Landes. Neben islamischen Parteien gab es im Norden auch lange Zeit eine bedeutende säkuläre Linke, deren Einfluß allerdings immer auf einige Großstädte beschränkt blieb.

Mit ihrer Hilfe übernahm Nimeiri, mittlerweile General, 1969 die Macht. Zunächst ein Vertreter linksnationalistischer Ideen wie Nasser und Gaddhafi, vollzog er schnell eine politische Wende und schloß sich dem ägyptischen Weg, der Politik Sadats an: Ausschaltung der Linken, Islamisierung von oben und Hinwendung zum Westen und zu den Golfmonarchien. Nimeiri ersuchte Ägypten auch um militärischen Schutz. Zweimal, 1971 und 1976, intervenierten ägyptische Truppen, um seine Herrschaft zu retten.

Der Zweite Bürgerkrieg

Nimeiri schloß Frieden mit dem Süden. 1972 wurde ein Autonomieabkommen unterzeichnet, das dem Süden eine Regionalregierung zustand und die Anyanya-Guerillas in die nationale Armee integrierte. Etwa zur gleichen Zeit begann die Islamisierungspolitik. Sie war ein gemeinsames Anliegen aller politischen Kräfte des Nordens, mit Ausnahme der illegalisierten säkulären Linken. Allerdings gab es recht verschiedene Vorstellungen darüber, was unter der Sharia zu verstehen sei. Für die Khatmiyya bestand sie in erster Linie in der Verteidigung der alten Sozialordnung, auch gegen die ihrer Ansicht nach verwestlichte Muslimbruderschaft. Die Ansar wollten die Tradition der Rechtsschulen überwinden und die Sharia modernisieren. Dies wollte auch die Muslimbruderschaft, die jedoch zugleich auf buchstabengetreuer Anwendung koranischer Gebote bestand.

Nimeiri betrieb eine recht geschickte Integrationspolitik gegenüber den Parteien. Er gestattete ihren Führern den Eintritt in seine Einheitspartei Sudanesische Sozialistische Union (SSU), wo sie alsbald um lukrative Posten zu intrigieren begannen. Nur bei den Islamisten versagte dieses System. 1978 bot Nimeiri der Muslimbruderschaft eine Beteiligung an der Regierung an, bestand aber darauf, daß sie ihre Organisation auflösten und in die SSU eintraten. Tourabi ging dieses Risiko ein und gewann. Der Zusammenhalt seiner Kaderorganisation war stärker als die Integrationskraft der SSU.

1983 führte das Regime die Sharia ein. Konkret bedeutete das Vernichtung sämtlicher Alkoholvorräte in den nördlichen Provinzen und massive Anwendung koranischer Körperstrafen. Im gleichen Jahr flammte der Bürgerkrieg wieder auf. Der Aufstand des Südens geht nicht in erster Linie auf die Einführung der Sharia zurück, die nur einmal mehr bewies, daß das Regime nicht zu einer Politik der Gleichberechtigung bereit war. Das Autonomieabkommen war bereits vorher gescheitert. Die Regionalregierung des Südens hatte keinerlei Einfluß auf wirtschaftliche Fragen, war abhängig von Subventionen der Zentralregierung und deren ständigen Interventionen ausgesetzt. Im Bildungsbereich und im Staatsdienst blieb der Süden diskriminiert, noch dazu hatte das Regime 1980 begonnen, SüdsudanesInnen aus der Region Khartoum zu vertreiben.1983 teilte Nimeiri den Süden in drei Provinzen auf und nahm so der Regionalregierung die letzte politische Macht.

Als nun noch südsudanesische Einheiten in den Norden verlegt werden sollten, rebellierten die betroffenen Soldaten in Bor. Andere Garnisonen schlossen sich an, die Führung übernahm ein Oberst namens John Garang. Aus dieser Militärrebellion entstand die SPLA, der es schnell gelang, einige spektakuläre Erfolge zu erzielen. Erstes Angriffsziel waren die Baustelle des Jonglei-Kanals, der große Teile des südsudanesischen Sudd trockengelegt hätte, um im Norden und in Ägypten mehr Land bewässern zu können, und die Bohrstelle des Ölkonzerns Chevron.

Ohnehin brachte es das Regime auf einen auch für klientelistische Diktaturen ungewöhnlichen Grad an Mißwirtschaft. Der Bürgerkrieg verstärkte die wirtschaftliche Talfahrt, und 1985 hätte der Schuldendienst 200 Prozent der sudanesischen Exporterlöse erfordert. Auch im Norden hungerten die Menschen. Nimeiri versuchte sich in immer neuen politischen Manövern. Er brach sein Bündnis mit der Muslimbruderschaft und ließ deren Führer verhaften. Das war Glück für Tourabi, denn als Nimeiri zwei Wochen später gestürzt wurde, konnte er als politischer Gefangener jede Verantwortung für die Diktatur von sich weisen.

Wiederum hatte der Machtwechsel mit regimefeindlichen Massendemonstrationen begonnen. Die Führer der Gewerkschaften und Parteien erwiesen sich jedoch als unfähig, den Sturz des Regimes zu organisieren. Ein Teil von ihnen forderte die Armee zum Eingreifen auf, und das Oberkommando entschloß sich, die Macht zu übernehmen. Nimeiri fügte sich in sein Exil, und tatsächlich übergaben die siegreichen Offiziere die Macht an eine zivile Regierung. In den folgenden Jahren hatte die alte Elite noch einmal Gelegenheit, ihre Unfähigkeit zu beweisen. Sämtliche Regierungen der Dritten Republik (1985-1989) weigerten sich, die Sharia abzuschaffen. Der Krieg gegen den Süden wurde fortgesetzt.

Mit Sardinen für die Sharia

1986 fanden Wahlen statt, an denen die Muslimbruderschaft als Nationale Islamische Front (NIF) teilnahm. Das Wahlgesetz enthielt eine seltsame Regelung: 28 Parlamentsabgeordnete wurden ausschließlich von Absolventen höherer Schulen und Universitäten gewählt. Hier errang die NIF mit 23 Sitzen eine überwältigende Mehrheit, bei den allgemeinen Wahlen kam sie auf knapp 10 Prozent. Im Wahlkampf hatte die NIF Tomaten und Sardinen verteilt, für die meisten SudanesInnen Luxusgüter. "Die Muslimbrüder handeln mit der Religion" wurde daraufhin gespottet. Die Bevölkerungsmehrheit folgte weiterhin den traditionellen Parteien, allein die Bildungselite stand hinter der NIF. Vermutlich sah Tourabi sich durch das Wahlergebnis in seiner Linie der Islamisierung von oben bestätigt, denn nichts sprach dafür, daß sich die Mehrheitsverhältnisse ändern würden, mochte die NIF noch so viele Tomaten und Pamphlete verteilen.

Die Muslimbruderschaft hatte die Zeit ihres Bündnisses mit Nimeiri genutzt, um zahlreiche Kader in Verwaltung und Armee einzuschleusen. Die Armeeführung ließ das auch nach 1985 zu. Tourabi verfolgte eine Doppelstrategie. Die NIF setzte die Unterwanderung des Staatsapparates fort und beteiligte sich zugleich an der parlamentarischen Politik. Sadiq al-Mahdi, der Führer der Umma-Partei, regierte mit wechselnden Koalitionen, zuletzt mit der NIF, bis 1989 das Militär unter General Beshir putschte.

Bald stellte sich heraus, daß hinter dem Militärregime die NIF stand. Tourabi hatte sein Ziel erreicht, aber die Macht hat ihren Preis. Die Konzentration auf die Unterwanderung des Staatsapparates brachte es mit sich, daß die Basisarbeit vernachlässigt wurde. Die NIF hat keine gesellschaftliche Hegemonie, auch nicht im Norden, wo weiterhin die alteingesessene Macht der "großen Familien" gegen die "verwestlichte" islamistische Technokratie steht. Im Unterschied zum Iran ist der Islamismus im Sudan keine revolutionäre Bewegung, die Strategie der NIF entspricht eher dem Putschismus der Bath-Parteien in Syrien und im Irak. Dementsprechend gering ist die Mobilisierungsfähigkeit, zumal das Regime nicht in der Lage ist, aus Öleinnahmen wenigstens Teile der Bevölkerung ökonomisch zufriedenzustellen.

Tourabi trat immer als Scharfmacher gegenüber dem Süden hervor. Da die Islamisten einer Teilung des Sudan nicht zustimmen können, muß das nichtmuslimische Drittel der Bevölkerung unterworfen werden. Als Dhimmis, Schutzbefohlene nach den Richtlinien der Sharia, wäre ihr Status als Bürger zweiter Klasse rechtlich verfestigt. Die Sharia dient aber auch dazu, die muslimische Bevölkerung den islamistischen Staatszielen zu unterwerfen, und so verlor das Regime die Gefolgschaft auch der meisten muslimischen Regionen. Der Westen, im ersten Bürgerkrieg noch regimetreu, steht heute mehrheitlich auf seiten der SPLA. Von Eritrea aus operiert die muslimische Nationale Demokratische Allianz (NDA) im Nordosten. Im Süden ist die SPLA auf dem Vormarsch.

Auch Tourabi sammelt seine Truppen. Natürlich läßt sich die innenpolitische Isolation nur begrenzt durch außenpolitischen Aktivismus ausgleichen, aber Tourabi hat es durch rührigen Lobbyismus verstanden, die sudanesische Frage zu einem der zentralen Themen der islamistischen Bewegung zu machen. Er veranstaltete eine Reihe von Konferenzen islamistischer Gruppen und Theoretiker, seine Rechtsgelehrten konferierten auch mit der schiitischen Konkurrenz über eine gemeinsame Interpretation der Sharia.

Machtpolitisch bedeutsamer wäre ein Ausgleich mit den "gemäßigten" arabischen Staaten, vor allem Ägypten. Für Ägypten ist der Sudan so etwas wie ein kleiner Bruder, dessen Eskapaden man mit Nachsicht betrachtet, über den man aber auch Autorität beansprucht.4 Mehrfach hat Kairo signalisiert, daß der Sudan das ägyptische Wohlwollen zurückgewinnen kann, wenn das Regime die ägyptischen Interessen respektiert.

Tourabi muß daran interessiert sein, den sudanesischen Bürgerkrieg als Angriff auf die arabisch-islamische Kultur darzustellen. Die Flucht Sadiq al-Mahdis, des wichtigsten nordsudanesischen Oppositionsführers, und das Bündnis zwischen nordsudanesischer Opposition und SPLA war deshalb ein schwerer Schlag für das Regime. Ob damit eine wirkliche Bereitschaft der Elite des Nordens verbunden ist, den Süden als gleichberechtigten Partner zu akzeptieren, muß sich allerdings erst noch erweisen. Sharia und Bürgerkrieg gehen ja nicht allein auf das Konto der Islamisten, Sadiq al-Mahdi trägt persönliche Mitverantwortung für beides, und er hat sich erst jetzt, nachdem klar wurde, daß die nordsudanesische Opposition das Regime aus eigener Kraft nicht stürzen kann, zu diesem Schritt durchgerungen.

Die NIF, so die allgemeine Einschätzung, hat die Armee unter Kontrolle gebracht. Verdächtige Offiziere wurden entlassen, die Truppe wird durch Politkommissare überwacht. Falls das nicht genügt, verfügt das Regime noch über eine Miliz, die nicht dem Armeekommando untersteht. Die nordsudanesische Opposition kann jetzt nicht mehr auf einen Putsch setzen, und ohne die Truppen Garangs kann die NDA nicht viel ausrichten. Vermutlich aus diesem Grund ist Sadiq al-Mahdi jetzt ernsthaft an einem Bündnis mit der SPLA interessiert.

Eritrea nach der Unabhängigkeit

Tourabi versucht nun, den Druck auf die Nachbarstaaten zu verstärken. Seit Jahren bewaffnet das Regime diverse Guerillagruppen, was die Spannungen unter anderem in den Grenzregionen Ugandas beträchtlich erhöht hat. Dies ist verbunden mit einer islamistischen Polarisierungsstrategie, die auf unzufriedene muslimische Bevölkerungsgruppen in den südlichen Nachbarländern zielt. So versucht man, den Konflikt zwischen traditionell orientierten muslimischen Bevölkerungsgruppen im Westen Eritreas und der sozialreformerischer Regierung als Angriff auf die islamische Kultur darzustellen.

Selbst in Eritrea, das zu Recht als Beispiel für gelungene nationale Integration gilt, gibt es also Probleme. Das Ungewöhnliche an der eritreischen Unabhängigkeitsbewegung war ja, daß es so etwas wie ein eritreisches Volk im ethnischen Sinne nicht gibt. Der Befreiungskampf5 vereinigte neun ethnische Gruppen und zwei Religionen, wobei die religiöse Vielfalt in Wahrheit noch größer ist, da sich das Christentum in mehrere Konfessionen teilt und traditionelle Glaubensvorstellungen auch eine Rolle spielen. Christliche Tigrinja waren allerdings in der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF, heute umbenannt in Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit, PFDJ) überrepräsentiert, und es gab in den späten 70er und frühen 80er Jahren einen Bürgerkrieg im Befreiungskampf, der mit der militärischen Zerschlagung der Eritreischen Befreiungsfront (ELF) durch die EPLF endete.

Die Auseinandersetzung war politischer Art. Die EPLF vertrat ein sozialrevolutionäres, die ELF ein konservatives Programm. Allerdings war die ELF vor allem im Westen verwurzelt und bestand überwiegend aus Muslimen, während die EPLF ihre Hauptbasis im überwiegend christlichen Hochland hat. Aus den Überresten der ELF ging der "Eritreische Jihad" hervor, die Organisation hat allerdings bisher keine allzu große Bedeutung. Bei Teilen der muslimischen Bevölkerung im Westen des Landes gibt es Ressentiments gegen die neue Ordnung, die als Angriff auf die traditionelle Kultur empfunden wird. Es wäre sicherlich nützlich, offen über den Bürgerkrieg im Befreiungskampf zu sprechen, statt das Thema zu tabuisieren, wie es bisher geschieht. Ansonsten ähneln die Konflikte im Westen den Spannungen, die überall im Land zwischen traditionell orientierten Gruppen und Regierung bestehen.

Eritrea versucht, die Erfahrungen des Befreiungskampfes auch entwicklungspolitisch zu nutzen. Man setzt auf Selbsthilfe, Subsistenz und kleinindustrielle Projekte, deren Wurzeln in der Kriegszeit liegen. Damals stellten die geheimen Werkstätten der EPLF Munition, Ersatzteile und Radios, aber auch Medikamente, Prothesen und Damenbinden her. Auf dem Weltmarkt sind diese Produkte allerdings nicht konkurrenzfähig, und unter dem Druck ausländischer Geldgeber beginnt sich die Haltung der Regierung zu wandeln. Weiterhin läßt man sich nicht jedes Großprojekt aufschwatzen, für den Wiederaufbau sind ausländische Finanzmittel jedoch unerläßlich, und es ist zu befürchten, daß Eritrea die gerade gewonnene Entscheidungsgewalt über ökonomische Angelegenheiten bald wieder verliert.

Der Befreiungskampf hinterließ eine Schicht von Menschen, die lange Jahre außerhalb der traditionellen Sozialbeziehungen lebten und neue Werte annahmen; Eritrea wird also von einer "Mittelschicht" ganz besonderer Art regiert. Weiterhin wird hier eine sozialreformerische Orientierung vertreten. Besonderen Wert legt man auf Gesundheitsfürsorge und Bildung. Es gibt zwei Amtssprachen (Tigrinja und Arabisch), aber es gibt auch zahlreiche Menschen, die keine dieser Sprachen beherrschen. Schulunterricht wird grundsätzlich in der Muttersprache erteilt, in den höheren Klassen dann in Englisch.

Eritrea betreibt eine aktive Politik der Frauenförderung. Knapp ein Drittel der EPLF-Guerillas waren Frauen. Zu den Kriegsfolgen gehört, daß fast ein Drittel aller Haushalte von alleinerziehenden Frauen geführt werden. Ein statistisch nicht erfaßter, aber großer Teil von ihnen lebt ohne Einbindung in eine Großfamilie. Diese Gruppe, so Stefanie Christmann, biete "gerade durch ihre Losgelöstheit aus traditionellen Hierarchien ein enormes Entwicklungspotential. Die entscheidende Frage ist, ob diese Frauen zum Sozialfall von Nachbarschaftshilfe werden oder durch gezielte Förderung ihrer Startchancen zu einem wichtigen Entwicklungspotential des Landes."6

Demokratie oder Emanzipation?

Theoretisch gehört dies zu den Zielen der Regierung. Als "role model" sollen die ehemaligen Kämpferinnen, ausgebildet in modernen Berufen, ein anderes Rollenverständnis in die traditionellen Gesellschaften tragen. Dabei können sie sich auf eine fortschrittliche Gesetzgebung berufen. Polygamie, Brautpreis und Frauenbeschneidung sind verboten, die Gleichberechtigung ist in der Verfassung festgeschrieben, und es gibt für viele Bereiche eine Frauenquote. Die Praxis allerdings sieht anders aus. Familienrecht wird meist von traditionellen Autoritäten gesprochen, und die PFDJ agiert hier so vorsichtig, daß ihr oft Kapitulation vor den Traditionalisten vorgeworfen wurde. Die Regierung setzte durch, daß Frauen bei der Landverteilung in den Dorfgemeinschaften berücksichtigt werden, scheut jedoch den Konflikt in gesellschaftlichen Fragen. Für solche Vorsicht gibt es gute Gründe.

Der Konservatismus der Landbevölkerung hat ja eine gewisse Berechtigung. Wo eine Mißernte den Hungertod bedeuten kann, will jede Veränderung wohlüberlegt sein. Die bäuerliche Bevölkerung hält deshalb an ihren Anbaumethoden ebenso fest wie an ihren Gesellschaftsstrukturen, die als notwendig für das Überleben der Gemeinschaft angesehen werden. Niemand ist ohne weiteres bereit, auf fremde Ratschläge zu hören, auch wenn diese im Fall Eritreas von BefreiungskämpferInnen kommen statt von Technokraten.

Das Beispiel Afghanistans hat bewiesen, welche verheerenden Folgen der Versuch haben kann, gesellschaftlichen Fortschritt militärisch zu erzwingen. Es ist völlig richtig, daß die eritreische Regierung darauf verzichtet, Reformen und fortschrittliche Gesetze mit Zwangsmaßnahmen durchzusetzen. Polizeilich gegen die Frauenbeschneidung vorzugehen würde bedeuten fast die gesamte bäuerliche Gesellschaft zu kriminalisieren. Das muß allerdings nicht bedeuten, auf jede Einflußnahme zu verzichten. Und auch außerhalb des traditionellen Bereichs werden Frauen benachteiligt. Mit der Demobilisierung ist der Frauenanteil in der eritreischen Armee auf unter 10 Prozent abgesackt, Frauen in Führungspositionen sind eine Seltenheit. Dennoch muß anerkannt werden, daß Eritrea große Fortschritte erzielt hat.

Christmann schätzt das Verhältnis von Progressiven zu TraditionalistInnen in Eritrea auf 1:83. Genaugenommen ist die fortschrittliche Gesetzgebung also undemokratisch. Ist die Entwicklungsdiktatur vielleicht doch keine so schlechte Sache, wenn sie nur durchdacht ist und nicht allzu rabiat durchgeführt wird? Bisher ist noch keine Diktatur dem Bürokratismus und dem Patriarchat entkommen, auch in Eritrea werden sich die Fortschritte nicht lange halten lassen, wenn die PFDJ nicht in absehbarer Zeit ernst macht mit der demokratischen Öffnung.

Mit der Zulassung eines Mehrparteiensystems ist es jedoch nicht getan. 90 Prozent der Bevölkerung leben von der Subsistenzwirtschaft, 70 Prozent der Männer und 90 Prozent der Frauen (aber nur 15 % der ehemaligen EPLF-Kämpferinnen) sind analphabetisch. Ohne gezielte Förderung benachteiligter Gruppen, ohne Dezentralisierung der Macht und basisdemokratische Organisationsformen bleibt diese Bevölkerungsmehrheit ausgeschlossen, auch wenn es, wie in Zaire, 400 Parteien gibt. Natürlich müssen freie Wahlen nicht warten, bis jede afrikanische Familie ihr Auto vor der Tür stehen hat. Wo allerdings sämtliche Voraussetzungen fehlen, die in der westlichen Soziologie als unerläßlich für eine stabile Demokratie gelten, wird man neue Wege gehen müssen.

1 Zitiert nach Le nouvel afrique-asie, Juli/August 1996.

2 Ebenda.

3 Hier hat besonders das Wiederaufleben der Sklaverei zu heftigen Reaktionen geführt. In seiner Bedrängnis hatte das Regime Sadiq al-Mahdis ab 1986 arabische Stammesmilizen bewaffnet, die schnell begannen, Privatkriege zu führen. Heute gibt es wieder regelrechte Sklavenjagden im Sudan. Die Auseinandersetzung zwischen Afrikanismus und Islamismus wird aber auch auf ganz anderen Feldern geführt. So pocht die afrozentristische Geschichtsschreibung auf die Eigenständigkeit der afrikanischen Hochkulturen, während iranische Historiker den prägenden Einfluß der Handelskontakte zwischen Ostafrika und dem Persischen Golf betonen.

4 Zwischen beiden Ländern gibt es einen Vertrag, der den Sudan zur Lieferung einer bestimmten Menge Nilwasser verpflichtet. Sollte der Sudan versuchen, seine Bewässerungswirtschaft so weit auszudehnen, daß für Ägypten nicht genügend Wasser bleibt, wäre das ein Kriegsgrund.

@FUSSN.-ZAHL = 5

@FUSSN.-TEXT = Die ehemalige italienische Kolonie Eritrea wurde 1952 als autonomes Gebiet Äthiopien angeschlossen. Äthiopien mißachtete die Autonomiebestimmungen, und schon bevor Eritrea 1962 offiziell annektiert wurde, stand das Land faktisch unter Besatzungsrecht. Ende der 50er Jahre entstand eine Unabhängigkeitsbewegung, 1961 begann der bewaffnete Kampf, der erst 1991 mit dem Sieg der EPLF endete. Beim Referendum von 1993 stimmten 98 % für die Unabhängigkeit. In Äthiopien wurde der Befreiungskampf vor allem von einer Region getragen. Die Tigreische Volksbefreiungsfront (TPLF) dominiert heute die äthiopische Politik. Einen nationalen Konsens wie in Eritrea gibt es hier nicht, besonders unter den Amharis, dem ehemaligen "Staatsvolk" und unter den Oromos, der größten ethnischen Gruppe, ist der Widerstand gegen die Dominanz der TPLF weit verbreitet. Die Regierung geht mit Massenverhaftungen gegen die Opposition vor, zahlreiche Aktivisten sind "verschwunden" oder auf verdächtige Weise ums Leben gekommen. Allerdings ist auch die Haltung der Opposition nicht unproblematisch. Hinter der amharischen Opposition steht vielfach der Wunsch, verlorengegangene Privilegien zurückzugewinnen. Nicht selten werden auch revanchistische Ansprüche auf Eritrea formuliert, dessen Unabhängigkeit als Verrat der TPLF gewertet wird. Seitens der Oromo Liberation Front (OLF) ist wenig über die Rechte anderer ethnischer Gruppen zu hören. Ein geschlossenes Siedlungsgebiet der Oromos gibt es nicht, die Ausrufung eines Oromo-Staates würde höchstwahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg führen.

@FUSSN.-ZAHL = 6

@FUSSN.-TEXT = Stefanie Christmann: Die Freiheit haben wir nicht von den Männern. Frauen in Eritrea, Bad Honnef 1996, S. 37.