Kolumne:

Über Neoliberalismus

Roland Schaeffer

Der Feind hat wieder einen Namen. Der Neoliberalismus, so der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu, wirke auf die europäischen Gesellschaften ähnlich zerstörerisch wie Faschismus oder Stalinismus. Schröder ist nach Meinung der Jusos ein Neoliberaler, und wenn eine grüne Ministerin bei der Vergabe eines öffentlichen Auftrags patzt, ist für Micha Brumlik in der taz klar, woran das liegt: am Neoliberalismus.

Es geht also, hundertfünfzig Jahre nach dem Manifest, ein neues Gespenst um: der Neoliberalismus. Wie es sich für das Böse gehört, steckt er seine kalten Finger überall hinein und keiner von uns ist ganz frei davon. Um so größer das Bedürfnis nach Abgrenzung: Wenn die Zahl der Arbeitslosen auf 5 Millionen und zugleich der Dax auf <%10>5<%0>000 Punkte steigt, muß der Neoliberalismus auf die Anklagebank. 16 Jahre neoliberale Wirtschaftspolitik in Deutschland, das sei genug, hört man von SPD, Grünen und PDS. Schon Ludwig Erhard sei ein Neoliberaler gewesen, und jene, die die soziale Marktwirtschaft jetzt ihres schmückenden Adjektivs berauben wollen, erst recht. Noch einmal dürfen wir uns warm vereint gegen "adie da oben" fühlen.

Daß die deutsche Linke bei der fälligen wirtschaftspolitischen Grundsatzdebatte besondere Verständnisschwierigkeiten hat, hängt dabei nicht zuletzt mit der Tatsache zusammen, daß der Begriff Neoliberalismus hierzulande zwei sich widersprechende Bedeutungen hat. Als "aNeoliberale" bezeichneten sich selbst die Erfinder der sozialen Marktwirtschaft, von Ludwig Erhard bis zu ihren theoretischen Begründern, den "aFreiburger" Ordoliberalen um Franz Böhm, Walter Eucken, Wilhelm Röpcke und anderen. Das "aNeo" steht dabei für die soziale Verantwortung ihres Liberalismus und für die Abgrenzung gegen die "afreie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums" (Erhard).

Heute hingegen wird unter Neoliberalismus in Deutschland die genau entgegengesetzte Position des - ebenfalls - Freiburger Professors Friedrich A. Hayek verstanden, die am ehesten der im international üblichen Verständnis des Wortes gemeinten Bedeutung nahekommt, jener von Milton Friedman und den "aChicago-Boys" propagierten Konzeption der Zurückdrängung des Staates zugunsten des Marktes. Am treffendsten wird diese Auffassung durch Hayeks Bemerkung charakterisiert, er könne nicht sozial denken, er wisse nämlich gar nicht, was das sei.

Die praktischen Wirkungen dieser Ideologien stehen auf einem ganz anderen Blatt. Den Spruchweisheiten der Partei der Besserverdienenden zum Trotz hat es eine neoliberale Politik, die mit den ökonomistischen Kreuzzügen in Reagans Amerika und Thatchers Großbritannien vergleichbar wäre, in Bonn nicht gegeben. Die Ausnahme ist ein Vorhaben, das von einem christlich-sozial sich nennenden Politiker vertreten wird und bisher von antineoliberaler Kritik weitgehend verschont blieb: die Gesundheitsreform.

Der Schluß von den Wirkungen - Arbeitslosigkeit und verschärfte soziale Spaltung - auf eine zugrunde liegende gemeinsame geistige Ursache namens Neoliberalismus hält insofern einer Prüfung nicht stand. Die Bonner Politik hat angesichts des Wachstums der Arbeitslosigkeit nicht neoliberal, sie hat gar nicht gehandelt. Von Marx wäre immerhin so viel zu lernen, daß größere wirtschaftliche Umbrüche nur selten im Bereich der Ideen ihre Ursache haben, viel häufiger dagegen in der Entwicklung der Produktivkräfte. Parallel zur Durchsetzung der neoliberalen Position in den Wirtschaftswissenschaften hat der Übergang zur Informationsgesellschaft nicht nur neue Stufen der materiellen Produktivität ermöglicht, er hat auch die Formen verändert, in denen gesellschaftliche Macht organisiert und Institutionen gesteuert werden. Welche systemsprengende Dynamik in diesem Prozeß steckt, zeigt die Ankündigung der chinesischen Führung, sie wolle die Staatsbetriebe an moderne Produktivitätsstandards heranführen und dafür die Hälfte der 70 Millionen Beschäftigten dieser Betriebe entlassen.

Daß die quasireligiöse Propaganda der Marktgesetze als Begleitmusik bei der Verwirklichung solcher Programme die Schmerzen übertönt und den Betroffenen ausgesprochen zynisch begegnet, kann nicht bestritten werden. Die Ursache des Elends liegt trotzdem nicht in der Anwendung einer moralisch defekten Wissenschaft, und die Behebung des moralischen Defizits würde uns nicht vor dieser Art Probleme bewahren können. Wenn die Wirtschaft aufgrund der Entwicklung der Produktivität auf absehbare Zeit auch in den Industrieländern nicht mehr in der Lage ist, jedem Menschen einen Job anzubieten, der ihn ernähren kann (übrigens auch in den USA nicht), und wenn die Menschen vor Ort für die zu besetzenden Stellen nicht geeignet sind, dann hilft keine moralische Aufrüstung, weder die antisoziale des neoliberalen Individualismus noch die nostalgische der Restauration von Vorstellungswelten, die ihre ökonomische Basis längst verloren haben.

Die Diskussion um die Gesellschaft der Informationsgesellschaft hat gerade erst begonnen. Daß mit dem "aNeoliberalismus-Verdacht" eine intellektuelle Blockade aufgebaut wird, die den "aneoliberalen" Werkzeugkasten von marktwirtschaftlichen Steuerungsverfahren a priori tabuisieren soll, ist dabei wenig hilfreich. Um ein Beispiel zu nennen: Verbesserte Rahmenbedingungen für Selbständigkeit werden gewiß nicht genug Arbeitsplätze für alle Arbeitslosen schaffen können. Aber sie können vielleicht einen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit leisten, und das wäre zu erproben, nicht zu behindern. Ohnehin liegen die derzeit diskutierten Reformansätze fast alle im Innern des auch von Neoliberalen maßgeblich beackerten intellektuellen Feldes: Weder die soziale Grundsicherung noch der marktkonforme Innovationsanreiz einer Benzinpreiserhöhung gehören in die alte, industriegesellschaftliche Denkweise. Und wer für staatliche Verwaltungen Verantwortung übernimmt, muß dort bei Gefahr des Scheiterns die Modernisierung und damit die Informationsrevolution voranbringen - mit allen Konsequenzen, auch für die Arbeitsplätze. Denn nur wenn er in puncto Effizienz gleichzieht, ist der Staat in der Lage, das dringlich erforderliche Gegengewicht zu einer mobiler und schneller gewordenen Wirtschaft zu bilden.

Man wird eher darauf achten müssen, daß die Innovation einen demokratischen, intelligenten, sozial und ökologisch verantwortlichen Staat hervorbringt und nicht die alte Obrigkeitsbürokratie perfektioniert, die die Menschen entmündigt. Moderne Gesellschaften bedürfen offenbar der staatlichen Gestaltung. Staatliche Bevormundung brauchen sie nicht.