Gibt es den Club der toten Revolutionäre von 1968?

Waffen-SDS, Nationalrevolution, Horst Mahler und Bernd Rabehl

Peter Mosler

Rudi Dutschke ist auf dem St.-Arnim-Friedhof in Berlin-Dahlem begraben. Irgendwo im gleichen Stadtviertel trifft sich ab und zu der "Club der toten Revolutionäre von 1968" zu einer geselligen Weinrunde, gestandene Professoren im fortgeschrittenen Alter, unter ihnen auch der Rechtsanwalt Horst Mahler. Er bestand vor einem dreiviertel Jahr darauf, daß man, jenseits aller Kamingespräche über die Vergangenheit, doch mal über die Zukunft nachdenken sollte. Auf einem Schiff am Urban-Hafen fanden verschiedene Diskussionen und Gespräche statt. Die Alt-68er nannten den rostigen Kahn in einem wehmütigen Gefühl "Potjemkin", und im Juli 1998 fand dort eine Veranstaltung zur Parlamentarismuskritik statt. Mahler sprach eine neue nationale Sammlungsbewegung an. Dann kam eine Einladung der Burschenschaft "Danubia", ein Forum zum Thema "Mythos 68". Mahler wollte über Terrorismus sprechen, Peter Furth über Parlamentarismuskritik, Bernd Rabehl über die nationalrevolutionäre Frage, und Tilman Fichter sollte das Problem der nationalen Identität bei Kurt Schumacher abhandeln. Fichter war der klügste unter den Referenten bei der schlagenden Verbindung "Danubia". Er kam nicht.

Mahler (Berlin), Maschke (Frankfurt) und Oberlechner (Hamburg) entwarfen 1999 als selbsternannte Kirchenfürsten eine "Kanonische Erklärung zur Bewegung von 1968". Wer sie liest, denkt: Haben die drei schon das kanonische Alter (achtundsechzig Jahre!) erreicht, das sie befähigt, eine Kanonische Erklärung zu erlassen...? Und die klassische Frage: Was tun? Antwortet man mit einer Glosse, Parodie oder Groteske? Artikel 5 lautet: "Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) spielte eine der Jenenser Urburschenschaft vergleichbare Rolle als nationalrevolutionärer Initiator. Der zu Beginn der siebziger Jahre sich bildende Waffen-SDS (Rote-Armee-Fraktion) setzte die Tradition eines Karl Sand, eines Major von Schill und eines ernsthaften Waffenstudententums fort. In der tragischen Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer traf der Waffen-SDS einen SS-Mann, der die Position der nationalrevolutionären Volksgemeinschaft zugunsten derjenigen des Anführers eines Klassenkampfverbandes verraten hatte." Bei den Dokumenten der RAF hatten wohlmeinende Zeitgenossen immer schon auf die besonderen Bedingungen ihrer Entstehung in der Isolationshaft hingewiesen, die einen kohärenten Text quasi unmöglich mache. Aber jetzt ...? Mahler ist 1980 aus der RAF entlassen worden, er arbeitet als Rechtsanwalt in seiner Berliner Kanzlei. "Ein Hirngespinst geht um in Europa", schreibt die FAZ, aber Mahler meint es ernst: Der 63jährige steht am Montag, dem 1. März 1999, in strömendem Regen unter dem Transparent "Doppelpass: NEIN" auf dem Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte und ruft den vorbeirennenden Passanten nach, daß sie bald "Ausländer im eigenen Land" sind. Im Mai beabsichtigt Mahler, vor der NPD-Versammlung in Frankfurt eine Rede zu halten.

 

Ich habe am 8. März mit Bernd Rabehl ein Gespräch geführt, dessen Name häufig im Zusammenhang mit Mahler in der Presse genannt wird. Rabehl: "Ich habe mit Horst Mahler vor einer Woche gesprochen, nach langer Zeit übrigens, und ich fragte ihn auch, warum er auf die rechte Seite gegangen ist, und er antwortete: Es gibt nicht mehr rechts und links. Das seien Sprengsätze eines vergangenen Bürgerkrieges. Er sei weder rechts noch links. Er versucht, die Probleme der deutschen Nation auszusprechen, und er ist überzeugt, daß die Parteien zusammenbrechen würden, wie in Italien, und daß der subjektive Faktor eine objektive Bedingung ist, daß sozusagen das Volk wissen muß, daß er jeden Montag ,Montagsdemonstrationen` macht, daß die Beleidigten und Erniedrigten sich dort sammeln können, er will eine Volksbewegung in Gang setzen. - Ich sagte: ,Und was ist, wenn du dich irrst, wenn du scheiterst...? Mahler: ,Mein letztes Scheitern hat mir zehn Jahre Knast eingebracht. Ich hoffe, daß es diesmal nicht soviel werden.`"

Die "Kanonische Erklärung" von Horst Mahler et allii ist intellektuell quasi nicht satisfaktionsfähig. Anders Bernd Rabehl. Er fuhr im Dezember ahnungslos nach München zur Verbindung "Danubia" - "eigentlich in der Überzeugung, daß es eine Veranstaltung ist, die außen kaum zur Kenntnis genommen würde". Rabehl sprach frei vor den Verbindungsbrüdern. Mahler ließ jedoch ein Tonbandgerät mitlaufen und sagte nachher, die Rede sei sehr interesssant gewesen, und er wolle sie von seiner Tochter abschreiben lassen. Rabehl widersprach und versuchte, in Berlin anhand seiner Notizen die Rede zu rekonstruieren. Er schickte sie Mahler zu, "mit der Hoffnung, daß er mir Hinweise geben würde, was fehlt, was richtig ist, was übertrieben ist usw. Das hat er überhaupt nicht verstanden, sondern er hat sie sofort weitergegeben, und so erschien sozusagen ein eher intimer Text, der noch nicht fertig ist". Erschien in der Jungen Freiheit, dem Leib- und Magenblatt der "Neuen Rechten", in dem natürlich eine Veröffentlichung von Rabehl, dem Linken aus dem engsten Kreis um Dutschke, ein öffentliches Skandalon war. Aufschrei in der SDS-Homepage im Internet (www.partisan.net/sds/), zynischer Abgesang in den Printmedien, und dann sollte der Täter sich dem "Gericht der Linken" stellen. Es war Anfang März, als Rabehl in Berlin einem strengen Verhör unterzogen wurde, "ob er nicht wüßte, daß Verbindungen der Danubia zur FPÖ, zu Haider bestünden, und daß die Danubia enge Beziehungen zur NPD habe". Rabehl machte keine gute Figur, als er kleinlaut antwortete: "Ich muß sagen, das habe ich nicht gewußt." Die aggressive Stimmung wurde immer bedrohlicher, und Rabehl dachte, daß ihm gleich eine Bierflasche auf den Kopf fliegt. Er fragte Rainer Langhans, auch im Raum, warum er sich nicht zu Wort gemeldet habe, und der Ex-Kommunarde sagte: "So eine aggressive Stimmung schnürt mir den Hals zu." Rabehl hatte das Gefühl, hier werde ihm ein stalinistischer Schauprozeß gemacht. Er fuhr danach mit dem Rad von der Inquisitionsveranstaltung nach Hause und traf in seiner Straße in Kreuzberg auf einen alten Mann, der ihm sagte: "Mit dem Rad, bei dem Regen? Du bist doch auch Rentner, oder...?" Rabehl hörte es und dachte erleichtert: "Das ist der erste Mensch, den ich heute treffe."

 

War es rechtsradikales Dynamit, das Rabehl mit seinem Vortrag ("Nationalrevolutionäres Denken im antiautoritären Lager der Radikalopposition zwischen 1960/1980") in der Tasche hatte? Die ersten Seiten handeln von der Migration allgemein. Rabehl behauptet: "Es ist nicht primär der deutsche Fremdenhaß oder die Angst vor Veränderung und Umwälzung, die die deutschen Vorbehalte gegen die ,Fremden` schüren, sondern deren Verhalten und Demonstration, die deutsche Gesellschaft für private oder gruppenspezifische Sonderinteressen jeweils nur zu nutzen, trägt bei zur inneren Spaltung der Gesellschaft." Er behauptet weiter, daß religiös oder politisch fundamentalistisch ausgerichtete Gruppen die Gastländer als strategisches Rückzugs- und Versorgungsgebiet nutzen, wo Steuern eingetrieben, Rekruten ausgehoben werden und Kämpfer sich erholen können - kurz: Die Kriege aus den Herkunftsländern werden nach Europa importiert. Danach ist in dem Vortrag die Rede von dem nationalrevolutionären Impuls, den es in der Studentenrevolte, bei Rudi Dutschke, gegeben haben soll. "Für Dutschke", sagt Rabehl, "bestand kein Zweifel, daß die Radikalopposition eine grundlegende Niederlage erfahren hatte, unter anderem auch deshalb, weil nationalrevolutionäre Ziele aufgegeben worden waren." Gretchen Dutschke meldete sich in der SDS-Homepage zu Wort, Wolfgang Kraushaar am gleichen Ort. Ehemalige SDS-Mitglieder wehrten sich empört dagegen, daß der Revolte "ein ,nationalrevolutionärer` Charakter angedichtet werden soll". "Die Bewegung", schreiben sie, tief Atem holend, "verstand sich als zutiefst internationalistisch und egalitär." Bommie Baumann behauptete in einem Interview in der Jungen Welt, der Konsens "Nie wieder Faschismus" werde von Mahler und Rabehl aufgekündigt. - Ich glaube, daß die Aufregung der Diskussion etwas zurückgenommen werden sollte. Es gab einen "nationalrevolutionären" Impuls in der Revolte, jedoch nur in Berlin  und vor allem bei SDS-Mitgliedern, die aus der DDR kamen - ob sie Dutschke, Rabehl, Mahler oder Oberlechner oder anders hießen.

Rabehl behauptet, daß 30 bis 40 Prozent der Mitglieder im SDS Berlin aus dem Osten gekommen seien. Noch innerhalb der subversiven Aktion schrieb er einen Brief an Kunzelmann, in dem er die Wiedervereinigung ansprach - was Kunzelmann empört zurückwies. Kraushaar weist auf Dutschkes Idee hin, West-Berlin aus dem kapitalistischen System herauszubrechen, es unter internatinaler Garantie in einen antiautoritären Freistaat umzuwandeln und damit "einen strategischen Transmissionsriemen für eine künftige Wiedervereinigung Deutschlands" zu gewinnen. Solche Gedanken hat es in der Studentenbewegung gegeben - doch sie blieben auf Berlin beschränkt und insgesamt marginal. Weder waren sie je Thema auf SDS-Konferenzen noch wurden sie in der theoretisch-politischen Zeitschrift neue kritik publiziert oder zum Beispiel in Frankfurt/Main und Heidelberg diskutiert.

 

In Rabehls Referat vor der "Danubia" fehlt es nicht an Worten wie "Überfremdung", "nationale Identität", "Volk und Kultur" et cetera, die der Autor als fragwürdigen "Wortschatz der LTI" bezeichnet, die ich, der Klarheit willen, lieber rechte Kampfbegriffe nenne. In dieser Sprache hat Rabehl vor "Danubia" gesprochen. Das ist keine Provokation, sondern situationsangepaßter Opportunismus. Am Otto-Suhr-Institut (OSI) würde er weder diesen Begriffsapparat verwenden noch die Rede von München halten. Rabehl: "Das ist richtig. Ich würde diese Rede weder vor Böckler-Stipendiaten halten noch vor dem OSI, noch vor dem ehemaligen SDS, sondern ich habe sie vor ,Danubia` gehalten. Du sagst: Opportunismus. Ich empfand mich als besonders schlau, mich auf deren Denkformen einzulassen - ohne diese zu reproduzieren, das war meine Überzeugung." Wenn das so ist, frage ich mich, welche Funktion heute, nach der Wiedervereinigung, eine "nationalrevolutionäre Bewegung" haben soll. Und sollte man, statt von Nation, heute nicht eher von dem System der EU und einer postnationalen Konstellation (Habermas) sprechen? Ist es wissenschaftlich seriös, darauf zu verzichten? Rabehl: "Stimmt. Es ist nicht seriös. Ich wollte darauf eingehen, daß nach der Besatzung durch die Alliierten jetzt eine zweite, subtile Besetzung erfolgt, durch die unterdrückten Völker der Welt. Von daher wollte ich die nationalrevolutionäre Problematik ableiten. Sie war in der Vergangenheit, innerhalb des SDS, bei Dutschke, ein Kampf gegen den US-Imperialismus und ein Kampf gegen den Sowjetimperialismus. Da dieser Kampf nicht aufging, empfand er die Bewegung von 68 als Niederlage und wollte eine neue Partei begründen, eine grüne Partei, die diese nationalrevolutionäre Tradition aufnimmt. - Ich glaube, daß man heute an diese nationalrevolutionäre Fragestellung nicht anknüpfen kann. Das heißt, es gibt eine Renaissance des Nationalismus in Ost- und zum Teil auch in Westeuropa, nicht aber in Deutschland, weil der Nationalismus durch den Nationalsozialismus wahrscheinlich weitgehend zerstört ist. Man müßte überlegen, daß die europäischen Nationen eine Tradition und eine Kultur bilden, die man als Einheit betrachten muß."

 

Ich entdecke in dem Vortrag drei Denkfehler: 1. Gibt es keine Großstadt, kein hochindustrialisiertes Land ohne Zuwanderung. 2. beschreibt Rabehl den Zustand ungeregelter Zuzugsaktivität, wie er bei uns existiert - doch er kritisiert nicht das Fehlen von Regelungen, sondern die Zuwanderung selbst. 3. Gäbe es ein Bundesamt für Migration und Integration, wären zum Beispiel "Integrationskurse" denkbar, Erwerb der deutschen Sprache etc. (Was mit Arbeitserlaubnis quittiert werden könnte). Dabei ist natürlich ein Zuzug von politischen oder religiösen Fundamentalisten nicht auszuschließen - aber das ist das Risiko einer offenen Gesellschaft. Rabehl: "Ich habe lange in Brasilien gelebt. Das ist eine scheinbar multikulturelle Gesellschaft. Wenn man dahinterschaut aber eine rassistische Gesellschaft. Das Elend ist indianisch, das Elend ist schwarz, und der Reichtum ist weiß. Der Bürgerkrieg findet dort tagtäglich statt: Jede Straße ist bewacht, jedes Haus ist bewacht. Das heißt, die ganze Gesellschaft ist zerrissen, pauperisiert und verelendet, und mein Eindruck ist, daß hier bei uns eine ,Brasilianisierung` stattfindet. - Nach meiner Überzeugung muß man eine Friedenspolitik entwickeln, das heißt gezielte Entwicklungspolitik in diesen Ländern, damit sie zumindest zu einem normalen Auskommen gelangen. Ein Beispiel: Man hat die bosnische Bevölkerung evakuiert, und die Bundesrepublik Deutschland hat pro Haushaltsjahr 20 Mrd. DM für Flüchtlinge ausgegeben. Wenn man zusammenzählt, vier mal zwanzig sind 80 Milliarden DM, und dieses Geld investiert hätte in die Region, so hätte man dem Volk faktisch geholfen, diese Kriege zu beenden. Man hat diese Leute zusammen. "Jetzt kommen, seit längerer Zeit, ,unsere Leute` an die Macht, Grüne und Sozialdemokraten, die man zum Teil persönlich kennt. Das hat mich tief beunruhigt, weil ich den Eindruck habe, alle stellen keine Alternative dar, sondern sind hoffnungslose Konservative, die den Sozialstaat der sechziger, siebziger Jahre retten wollen, aber letztlich keine Antwort wissen. Was mich bei den Grünen besonders entsetzt, ist, daß sie die amerikanische NATO-Politik vollziehen. Ich habe den Eindruck: Kohl geht - und jetzt kommen die Kohl-Jünger, die in meinem, in unserem Namen, alles viel schlimmer machen."

 

 

Am Schluß des Gesprächs habe ich Bernd Rabehl gebeten, den von mir vorgegebenen Satzanfang spontan zu ergänzen.

Wenn Rudi Dutschke noch leben würde...

Rabehl: ... wäre er kein Außenminister. Er wäre wahrscheinlich Wissenschaftler, und - würde er mit mir schelten...? Nein. Er würde sagen: Bernd, du hast dich verrannt, aber im Grunde ist es eine richtige Idee.

 

Es gibt zwischen Staaten vielfältige politische und ökonomische Verflechtungen. Die Nation ist heute...

Rabehl: ...in Auflösung begriffen. Die Nation wird regionalisiert. Heute gehören die südlichen Regionen eher zusammen als die Nationen.

 

Horst Mahler ist ein völkischer Aktivist gegen den Doppelpaß. Ich hoffe...

Rabehl: ..., daß er das Thema aktualisiert und es im Sinne einer sinnvollen Einwanderungspolitik gelöst wird.

 

Ausländer kommen nach Deutschland, weil...

Rabehl: ...sie besser leben wollen.

 

Volk wird von der "Neuen Rechten" als Bluts- und Schicksalsgemeinschaft verstanden, und ich glaube ...

Rabehl: ..., daß das nicht so ist, sondern die deutsche Geschichte ist verwoben mit einer Widerstandsgeschichte, Arbeitergeschichte und natürlich auch mit der Kriegsgeschichte.