Wohin geht die Reise?

Die Deutsche Bahn zwischen Krise und Unternehmen Zukunft

Albert Schmidt / Karl-Heinz Rochlitz

Auch nach gut 100 Tagen Rot-Grün produziert die Deutsche Bahn (DB AG) weiterhin Negativ-Schlagzeilen: Mangelnde Pünktlichkeit, Angebotskürzungen und Querelen um die Führungsspitze. Plötzlich taucht mit einer Häufung von Unfällen auch die Frage nach der Sicherheit der Bahn auf, obwohl die Schiene bisher zu Recht als das mit Abstand sicherste Verkehrsmittel gilt. Und gerade folgt noch die Forderung der DB AG, Mehrkosten durch die Ökosteuer müßten auf die Fahrpreise aufgeschlagen oder von den Ländern aus den Regionalisierungsmitteln erstattet werden – obwohl der Stromsteuersatz dank bündnisgrünen Engagements in letzter Minute halbiert worden ist. Offensichtlich reagiert die DB AG in diesem Punkt immer noch mehr wie eine Behörde denn wie ein innovatives Unternehmen, das geringfügig höhere Kosten durch höhere Effizienz im Gesamtbetrieb ausgleicht. "Unternehmen Zukunft" – folglich Fehlanzeige?

 

Die Bahnreform hat zur Aufteilung des Unternehmens in die Geschäftsbereiche für Fernverkehr, Nahverkehr, Güterverkehr, Netz und Bahnhöfe geführt, die voraussichtlich im Sommer 1999 eigenständige Aktiengesellschaften werden. Damit ergibt sich die Frage, wie diese neuen Bahnunternehmen unter veränderten politischen Rahmenbedingungen, aber auch aus eigener Kraft für eine Trendwende zugunsten der Schiene sorgen können.

 

Fernverkehr – Angebot und Marketing müssen stimmen  

Insider wissen es seit Jahren: Der InterRegio (IR), neben dem ICE und dem IC/EC eine der drei Säulen des Fernverkehrs, ist bei den Entscheidungsträgern der Deutschen Bahn AG (DB AG) wenig beliebt und soll dem angeblichen "Wachstumsträger ICE" weitgehend geopfert werden. Gleichwohl ist der InterRegio die Zuggattung, welche die augenblickliche Krise im Fernverkehr nicht mitmacht und statt dessen noch erhebliche Wachstumspotentiale bietet. Der ICE hingegen profitierte selbst in früheren Jahren primär von der Eröffnung neuer Strecken und von der "Kannibalisierung" längst bestehender Inter-City-Linien, war also weniger erfolgreich als gemeinhin dargestellt wird.

Bis heute ignorieren die Marketingfachleute der künftigen Reise und Touristik AG eine 1996 im Auftrag der DB AG erstellte Studie, deren Ergebnisse sich bemerkenswert deutlich mit allgemeinen Erfahrungen decken: Der Preis einer Bahnverbindung ist für Normalbürger weit wichtiger, als das Optimum bei der Zeit herauszuholen. Selbst bei der Gruppe der "non-user" der Bahn, also bei allen potentiellen Bahnkunden, dominieren die Preissensiblen mit 63 Prozent Anteil ganz klar vor der 7-Prozent-Klientel der Zeitsensiblen. Mit ihrem fast ausschließlichen Engagement für den 250 bis 280 Stundenkilometer (km/h) schnellen ICE hat die Bahn also jahrelang ein Stück weit am Markt vorbeiproduziert – zumal sämtliche ICEs in Deutschland gerade einmal ein Durchschnittstempo von knapp 130 km/h erreichen. Hochgeschwindigkeits-strecken sind in Deutschland nur fragmentarisch vorhanden, und was der ICE auf relativ wenigen Abschnitten mit Tempo 250 und mehr an Zeit herausholt, verbummelt er oft anschließend gleich wieder, wenn er mit minutenlangen Verzögerungen in den nächsten größeren Bahnhof einfährt. Deutschland hat, anders als Frankreich oder Japan, das teuerste, aber auch das langsamste Hochgeschwindigkeitssystem der Welt. Wichtiger als Höchstgeschwindigkeit ist allemal die Systemgeschwindigkeit, also die Fahrzeit von Tür zu Tür.

Das InterRegio-Desinteresse beim Fernverkehr der DB AG hatte immerhin auch sein Gutes: Denn erstmals wurde deutschlandweit einer breiteren Öffentlichkeit deutlich, daß wir keine Schrumpfbahn als "kleine, vielleicht feine Bahn" brauchen – ICE und InterCity haben zusammen gerade einmal 80 Stationen –, sondern eine Bahn in der Fläche. Der InterRegio liefert dafür im Fernverkehrsbereich ideale Voraussetzungen: Mit 320 Systemhalten ist er der ideale Fernzug in der Fläche – schnell, aber trotzdem leicht aus den Regionen erreichbar, und kostengünstig für die Fahrgäste, die keine Zuschläge zahlen müssen. Nicht abbauen, sondern das Angebot ausbauen, müßte die Devise des DB Fernverkehrs lauten.

Der Fernverkehr kann auf Dauer nur mit einem offensiven Marketingkonzept Erfolg haben. Wichtig ist nicht nur die selbstkritische Nachfrageüberprüfung zu Preis- und Zeitsensibilität, sondern auch die Pflege und Weiterentwicklung aller Zuggattungen als "Markenartikel" mit Corporate Design und speziellen Service- sowie Kommunikationsstrategien. Für den InterRegio heißt das: Immer mit Bistro, mit attraktivem, gleichwohl aber kosteneffizientem Zugmaterial und auf modernen Strecken, die nicht wie häufig im Osten der Republik nur mit Durchschnittstempo 50 bis 75, sondern mit bis zu 160 oder 200 km/h befahren werden können (angestrebte Durchschnittsgeschwindigkeit des InterRegio insgesamt, einschließlich der Halte: 100 bis 110 km/h).

Der ICE kann demgegenüber das wichtigste Produkt für den zeitsensiblen Geschäftsreisenden bleiben und darf dann bei entsprechenden Leistungen durchaus etwas mehr kosten; er sollte aber im wesentlichen auf Strecken zum Einsatz kommen, auf denen er seine Geschwindigkeit ausfahren kann. Wenig sinnvoll ist der Einsatz der demnächst eingesetzten ICT ("Neige-ICE") mit ICE-Fahrpreisen auf Strecken, die gerade einmal Tempo 80 bis 120 erlauben.

Regelprodukt des schnellen Fernverkehrs über weite Strecken bleibt schließlich der InterCity, bei dem allerdings endlich die Zuschläge abgeschafft werden sollten. Bei 7 DM Zuschlag plus 5 DM für die Reservierung ergibt sich zusätzlich zum Fahrpreis (27,2 bzw. 13,6 Pfennig mit BahnCard) auf einer 100 Kilometer langen Strecke eine Zusatzbelastung von 12 Pfennig pro Kilometer: Da steigt kein Autofahrer, der ohnehin meist nur die variablen Kosten seines Autos (13 bis 18 Pf/km) in den Preisvergleich einbezieht, auf die Bahn um.

 

Kernproblem Netz –  an den richtigen Stellen beschleunigen  

Ein effizienter Fernverkehr auf der Schiene hängt eng zusammen mit einem sinnvollen Ausbau der Infrastruktur. Viel zu einseitig wurden Mittel für Schieneninvestitionen, die zudem im Vergleich zu den Straßenbaumitteln unter Verkehrsminister Wissmann immer weiter reduziert wurden, in unwirtschaftlichen Prestigeprojekten verplant: Neubaustrecke Ingolstadt – Nürnberg, Stuttgart 21, Transrapid. Die Fixierung auf Höchstgeschwindigkeiten beim bisherigen Streckenbau ignoriert das Gesetz vom abnehmenden Ertragszuwachs: Trotz wachsender Geschwindigkeiten verringert sich der relative Reisezeitgewinn – bei explodierenden Investitionskosten. So bringt eine Erhöhung der Streckengeschwindigkeit von 100 auf 150 Stundenkilometer auf einer Distanz von 100 Kilometern immerhin zwanzig Minuten Fahrzeitgewinn; eine Temposteigerung von 200 auf 250 km/h auf derselben Distanz aber nur noch sechs Minuten. Auch Energieverbrauch und Lärmemissionen steigen drastisch an.

Bei Investitionen in die Infrastruktur müssen daher künftig die Prioritäten anders gesetzt werden: Vorrangig sind Investitionen in den Erhalt und in die Modernisierung des Bestandsnetzes einschließlich zeitgemäßer Leit- und Sicherungstechnik, in die Beseitigung von Langsamfahrstellen und in den Abbau von Kapazitätsengpässen, insbesondere in Knotenbereichen (Bahnhofseinfahrten). Seit 1985 enden alle Neubaustrecken der Bahn vor den "Knoten" – mit Bummelzugtempo geht es folglich in den Bahnhof. Lückenschlüsse im Netz sind oft wichtiger als völlig neue Trassen. Auch die Wiederherstellung von Schienenverbindungen, die beispielsweise in Nordrhein-Westfalen zum Teil selbst zwischen mittelgroßen Städten abgebaut worden sind, steht an – zwei Beispiele:

Zwischen den Städten Bocholt und Borken im westlichen Münsterland – zwei Städten mit zusammen rund 110000 Einwohnern – gibt es seit Jahren keine Schiene mehr. Die parallel führende Bundesstraße 67 ist mit bis zu 18000 Fahrzeugen überlastet; folglich wird seit Jahren der Bau einer neuen B 67 geplant. Warum nicht die Reaktivierung der Schienen-strecke? Geht man davon aus, daß 30 Prozent der Menschen, die heute im Auto unterwegs sind, auf die Schiene umsteigen, kommt man auf 6000 Fahrgäste täglich: Eine Schienenstrecke lohnt sich bei diesen Zahlen allemal.

Im bayerischen Landkreis Traunstein ist die Nord-Süd-Schienenstrecke Mühldorf – Traunstein völlig heruntergewirtschaftet, so daß der Bus das attraktivere Angebot fährt. Entlang der 35 Kilometer langen Schienenstrecke könnten aber im Landkreis immerhin 60000 Einwohner und zusätzlich einige Industrie sehr gut erschlossen werden, darunter die 20000-Einwohner-Stadt Traunreut. Die parallel führende Bundesstraße ist völlig überlastet, und es gibt Überlegungen für einen vierspurigen Ausbau. Um Traunreut ideal zu erschließen, wäre eine 2,5 Kilometer lange Neubaustrecke und eine Brücke über den Fluß Traun notwendig. Zusammen mit dem Ausbau der Strecke für 80 km/h kosten die Maßnahmen gerade einmal 30 bis 40 Millionen DM, was verglichen mit den Investitionen, die bis heute ganz selbstverständlich in den Straßenbau fließen, einen geradezu lächerlich geringen Betrag darstellt.

Die Reaktivierung von Schienenstrecken ist in Deutschland dutzendweise möglich, beschränkt sich bis heute aber – fast immer ohne Mitwirken der DB AG – weitgehend auf die Bundesländer Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Die Erfolge – alle Reaktivierungen waren erfolgreich und führten zu teilweise drastischen Fahrgastzuwächsen! – sind allerdings bis heute kaum bekanntgeworden; sie betreffen nur "Inseln" im Verkehrsmarkt und haben zu wenig Ausstrahlungskraft, um zu einer deutschlandweiten Aufbruchstimmung zugunsten des Nahverkehrs zu führen.

 

Für den Nahverkehr brauchen wir eine Reform der Bahnreform  

Rund 90 Prozent aller Fahrgäste der DB AG sind im Nahverkehr unterwegs, und trotz der geringeren Reiseweite liegt der Umsatz im Nahverkehr doppelt so hoch wie im Fernverkehr. Gleichwohl sind die Probleme des Nahverkehrs, sowohl in struktureller als auch in finanzieller Hinsicht, erheblich:

Der Fahrzeugpark ist weitgehend veraltet und eine schnelle Erneuerung ohne Aufbruchstimmung nicht absehbar.

Das Nahverkehrsschienennetz befindet sich mit einer zunehmenden Zahl von Langsamfahrstellen und Kapazitätsengpässen in einem sich schleichend verschlechternden Zustand.

Die Einnahmen von DB Regio stammen nur zu etwa einem Drittel aus dem Verkauf von Fahrkarten, zu zwei Dritteln aber aus den Regionalisierungsmitteln von gut 12 Milliarden DM, die der Bund jährlich den Ländern für diese Aufgabe überweist.

Einen Ausweg aus dieser Situation weisen vor allem zwei Stichworte: Qualität und Wettbewerb. Bewußt steht hier die "Qualität" vor dem "Wettbewerb", denn letzterer ist nicht Zweck, sondern Instrument – Ziel bleibt letztlich die Qualitätssicherung für den Fahrgast, am besten über Angebotsverbesserungen. Im Verkehrsbereich ist grundsätzlich zwischen zwei Wettbewerbsarten zu unterscheiden: zwischen dem intermodalen Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern Schiene, Straße, Luft- und Wasserstraßenverkehr – auf den wir später eigens eingehen – und dem intramodalen Wettbewerb auf der Schiene, also zwischen konkurrierenden Schienenunternehmen. Ziel von Verkehrspolitik und Bahnreform ist es, die Position der Schiene gegenüber dem Straßen- und Luftverkehr zu stärken.

Beim Wettbewerb auf der Schiene (intramodal) gibt es jedoch gravierende Versäumnisse – die Analyse der Wettbewerbssituation fällt ernüchternd aus: Seit Anfang 1996 wurden erst acht Prozent des Marktes im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) ausgeschrieben, und DB Regio konnte davon 65 Prozent für sich gewinnen. Der Marktanteil der Wettbewerber auf der Schiene liegt damit derzeit bei knapp drei Prozent. Die Zahl der Zugkilometer im Nahverkehr stieg von 1996 bis 1998 gerade einmal um rund fünf Prozent – kein Vergleich zum Wettbewerb etwa auf dem Telekommunikationsmarkt!

Woher kommt diese mißliche Situation? Bis heute weist die Bahnreform ein erhebliches strukturelles Defizit auf: Faktisch gibt es für Schienenverkehrsunternehmen in Deutschland nur einen Scheinmarkt. Da DB Regio immer noch einen Anteil am SPNV von über 97 Prozent auf dem Netz der bundeseigenen Eisenbahnen hält – die wenigen Landes- und privaten Eisenbahnen fallen demgegenüber kaum ins Gewicht –, dominiert das DB-Unternehmen den Fahrzeugmarkt. Konkurrenten gelingt es kaum, neue Fahrzeuge rechtzeitig oder überhaupt zu beschaffen. Statt der Umsetzung des bündnisgrünen Vorschlags, zur Überwindung der Markteintrittshürde Fahrzeugpools bei den Ländern zu bilden, gibt es beispielsweise in Nordrhein-Westfalen eine innovationshemmende Verquickung von Landes-, DB- und Bahnindustrie-Interessen.

Schwerer wiegt die gemeinsame Zugehörigkeit von DB Regio und DB Netz zur DB Holding, die Bahnchef Ludewig in bemerkenswerter Offenheit als "Dachgesellschaft des Konzerns mit Leitungs- und Steuerungsfunktion, mit Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen" bezeichnet hat. Die DB ist "Spieler und Schiedsrichter zugleich" (Gottfried Ilgmann). Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Verkehr hat schon im November 1997 sehr präzise die Nachteile formuliert: "Das Repertoire nichtpreislicher Diskriminierungen ist groß. Es betrifft insbesondere die für den Zugang zum Fahrweg erforderlichen Qualitätsstandards, die Vertragslaufzeiten, Kopplungsverträge bis hin zu diskriminierenden Vorrangregelungen bei unvorhergesehenen Netzengpässen. Während es bereits schwer möglich erscheint, preisliche Diskriminierungen durch entsprechende Aufsichtsmaßnahmen zu verhindern, dürfte dies bei nichtpreislichen Diskriminierungsstrategien vertikal integrierter Bahnunternehmen (wie der DB AG/Holding) praktisch ausscheiden." Deutlicher ist im politischen Raum das Hauptdefizit der Bahnreform bislang kaum kritisiert worden.

Einen Ausweg aus dieser Lage hat die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen bereits 1996 unter der Überschrift "Zweite Bahnreform" aufgezeigt: Als zentralen Reformschritt schlägt sie vor dem Hintergrund von Artikel 87e Grundgesetz vor, das mit der Bahnreform zum 1.1.1994 an die DB AG übertragene Schienennetz wieder in die unmittelbare Eigentümerschaft und damit in die Verantwortung des Bundes, gegebenenfalls unter Beteiligung der Länder, zu übertragen. Dafür könnte eine Schieneninfrastruktur GmbH gegründet werden, die mittelfristig das Netz der bundeseigenen Eisenbahnen als verkehrsmäßig und ökonomisch sinnvolle Teilnetze zur Bewirtschaftung ausschreiben würde. Die Folge wäre ein Wettbewerb von Schieneninfrastrukturunternehmen mit Kostendruck auch im Infrastrukturbereich. Die Infrastruktur GmbH könnte wegen ihrer Unabhängigkeit von den DB-Verkehrsunternehmen für einen fairen Wettbewerb und nichtdiskriminierende Zugangsbedingungen sorgen und so den Scheinmarkt bei den Schienenverkehrsunternehmen in einen echten Markt umwandeln.

Anstelle einer solchen, der Grundgesetzverantwortung des Bundes für das Schienennetz am besten Rechnung tragenden Schieneninfrastruktur GmbH in Staatshand gibt es zwei weniger weit gehende Alternativen, die als politisch leichter realisierbar erscheinen: Der schon erwähnte wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Verkehr schlägt die Ausgliederung der Netz AG aus der DB AG oder Holding vor; notwendig sei die "institutionelle Trennung von Netz und Betrieb". Diese unabhängige Netz AG wäre allerdings nach wie vor ein Monopolunternehmen mit entsprechenden Nachteilen. Mindestens erforderlich wäre die Einrichtung eines unabhängigen "Trassenmanagements", das für faire Trassenpreise und diskriminierungsfreien Zugang zur Schieneninfrastruktur sorgt, vergleichbar der Regulierungsbehörde bei der Telekommunikation. "Regulieren" bedeutet dabei nicht, den Wettbewerb zu beschränken, sondern ihn durch die faire Zuteilung von Trassen und durch gerechte Preisgestaltung überhaupt erst einmal zu ermöglichen und ihn dann in sinnvolle Bahnen zu lenken.

 

DB Cargo – innovatives Güterverkehrsunternehmen oder Verhinderer?

Seit Jahren, ja Jahrzehnten, verliert der Gütertransport der Bahn an Marktanteilen; er liegt heute nur noch bei 16 Prozent. In der Schweiz, die mit 28-Tonnen-Gewichtslimit und Nachtfahrverboten für Lkws eine deutlich bahnfreundlichere Politik betreibt, hat die Schiene im Güterverkehr einen Anteil von knapp 34 Prozent (1997). Mehr und mehr zieht sich jedoch der Güterverkehr von der Schiene – in ganz Europa auf große Entfernungen, 400 Kilometer und mehr – zurück. DB Cargo-Chef Sinnecker auf einer öffentlichen Veranstaltung im Februar 1999: "Wir können nicht mit zwei, drei Güterwagen in den Spessart fahren, um dort Güter einzusammeln." Unternehmensziel von DB Cargo sind weitgehend Ganz- und Direktzüge, möglichst in europäischen Dimensionen – weshalb bei öffentlichen Veranstaltungen zum Güterverkehr immer das – berechtigte – Wehklagen über die französische Staatsbahn dominiert,  da diese andere Bahnen nicht auf ihr Netz läßt. Der Güterverkehr im eigenen Lande wird bei solchen Veranstaltungen meist nicht kritisch analysiert.

Was DB Cargo im Güternahverkehr und bei der Güterakquisition in der Fläche nicht will, können – besser: könnten – andere weitaus besser. Es gibt in Deutschland Dutzende von Eisenbahnunternehmen, die den Güterverkehr in der Fläche gern übernehmen würden. Das scheitert allerdings immer häufiger daran, daß die DB solche Verkehre im Anschluß über mittlere und weite Entfernungen nicht auf ihr Netz lassen will. Zusammenarbeit mit regional tätigen Bahnen wird von DB Cargo häufig abgelehnt, und auch der Netzzugang wird, obwohl nach Gesetzeslage diskriminierungsfrei möglich, mit List meistens verweigert. Ebenso erschreckend ist der Abbau von Anschlußgleisen, die bisweilen bis in die Werkhallen potentieller Güterkunden führen und im Nachbarland Österreich bis heute für den größten Teil des Güteraufkommens sorgen. Kundengespräche mit Vertretern von DB Cargo verlaufen oft so, daß die Bahnvertreter zunächst anderthalb Stunden erklären, was sie alles nicht können – oder es gibt gleich den Rat, doch besser den Lkw zu nehmen.

Doch es sind beileibe nicht nur Unfähigkeit bei der Kundenakquisition, verlorengegangene Kundennähe und die – angebliche – Nichteignung der Schiene für kurze Distanzen, die für Mißerfolge beim Güterverkehr der DB sorgen: Fachzeitschriften machen inzwischen immer wieder das Hauptinteresse von DB Cargo deutlich, unliebsamen Konkurrenten den Markteintritt zu erschweren. Die Verkehrs-Rundschau (48/98) berichtete Ende 1998, "mitunter miete der Monopolist sämtliche Anlagen an einer Strecke an, so daß die Privatbahnen ihre Züge nicht beladen können". Lokomotiven und Waggons "müsse man sich im Ausland besorgen, da die Bahn ihr rollendes Material lieber verschrotte, als es den kleinen Konkurrenten zur Aufarbeitung zu überlassen", oder die Bahn untersagt den abnehmenden Schrottunternehmen den Weiterverkauf bei Androhung von Sanktionen. Selbst eine "Liste mit insgesamt 24 Tricks der Deutschen Bahn AG" existiert, mit denen DB Cargo zusammen mit DB Netz Wettbewerbern den Marktzutritt verwehrt. Hauptkonkurrent der DB scheint nicht der Lkw, sondern scheinen andere Eisenbahnunternehmen zu sein, und die Sicherung der Monopolstellung in einem kleiner werdenden Marktsegment ist DB Cargo wichtiger, als in konstruktiver Zusammenarbeit mit den regional effektiveren Privatbahnen neue Marktanteile für die Schiene im Gesamtverkehrsmarkt zu erschließen. Nicht nur die Anschlußgleise, sondern das gesamte Schienennetz in Deutschland mit Überholungs-, Abstell- und Rangiergleisen, also mit seiner gesamten Kapazität, wird derzeit massiv zurückgebaut.

 

Was kann die Politik tun, um die Schiene voranzubringen?  

Das Bild des Bundesunternehmens Deutsche Bahn AG, das sich aufgrund dieser Analyse ergibt, fällt nicht sehr positiv aus, und es wird auch nicht leicht sein, die DB in ein innovatives "Unternehmen Zukunft" zu verwandeln. Der Weg von einer Behörde zum selbstgefälligen Monopolisten war offensichtlich relativ bequem, und in manchen Fällen scheint auch ein gewisses personelles Versorgungsdenken dem Führungsmanagement nicht gutgetan zu haben. Die Politik befindet sich aber in einer zwiespältigen Situation: Auf der einen Seite scheint die Wahrnehmung der Verantwortung durch den alleinigen Anteilseigner Bund unabdingbar, andererseits verträgt sich politisches Eingreifen aber kaum mit der Stellung der DB als selbständiges Unternehmen. Bei Personalentscheidungen darf nicht das Parteibuch der Bahnmanager entscheiden, sondern ihre unternehmerischen Qualitäten – möglichst gemeinsam mit Sachverstand in Eisenbahnfragen sowie in Verkehrs- und Umweltbelangen. Mißbräuche in der Unternehmensstruktur sind zu unterbinden. Eine "zweite Bahnreform", mindestens aber ein unabhängiges Trassenmanagement, ist zwingende Voraussetzung, um über das Schienennetz als zentrales Instrument für mehr Konkurrenz auf der Schiene zu sorgen.

 

Wettbewerbsbedingungen im Markt der Verkehrsträger fair gestalten  

Neben dem intramodalen Wettbewerb darf die intermodale Konkurrenz der Verkehrsträger nicht aus den Augen verloren werden: Die Schiene muß gleiche Chancen wie Straße, Luftverkehr und Wasserstraße erhalten. Einen der zentralen Konflikte hat bereits 1991 die "Regierungskommission Bundesbahn" angesprochen, und er ist bis heute nicht ausgeräumt: "Die Kommission empfiehlt dringend, die Chancengleichheit aller Verkehrsträger bei der Verteilung der Infrastrukturinvestitionen herzustellen. Die Kommission erwartet daher, daß Parlament und Bundesregierung neben der zügigen Realisierung ihrer Vorschläge (Umwandlung der Behördenbahn in eine AG) ebenso entschieden und rasch eine Gesamtverkehrskonzeption entwickeln und realisieren. Bestandteil dieser Gesamtverkehrskonzeption muß eine Schwerpunktverlagerung der Investitionsmittel sein. Ohne Chancengleichheit aller Verkehrsträger bei der Verteilung der Verkehrsinfrastrukturinvestitionen steht auch die DEAG auf verlorenem Posten. Soweit es im Zuge der Liberalisierung der Verkehrsmärkte in der EG nicht gelingen sollte, gleiche Wettbewerbschancen für die Verkehrsträger herzustellen (externe Kosten, Kosten der Infrastruktur), sind diese Nachteile auszugleichen." ("DEAG": Deutsche Eisenbahn AG, die heutige Deutsche Bahn AG)

Diese Ausführungen einer Regierungskommission sind zwar seit acht Jahren als Grundlage der Bahnreform in den Jahren 1994 und 1996 bekannt, gleichwohl aber seitens der konservativ-liberalen Regierung nahezu unbeachtet geblieben. Zwar lagen im Wahlkampfhaushalt 1995 die Schieneninvestitionen mit über 1,5 Milliarden DM erstmals deutlich über denen der Straße, aber tatsächlich wurden im Vollzug des Haushalts im selben Jahr nur 300 Millionen DM mehr für die Schiene ausgegeben. Bereits 1996 lagen die Schieneninvestitionen wieder unter denen der Straße, und bis 1998 tat sich die Schere bei den Investitionen immer mehr auf. Momentan sind für die Straße rund 1,55 Milliarden DM mehr veranschlagt. Dem Ziel des Koalitionsvertrages vom 27.10.1998 zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, "die Investitionsmittel für Straße und Schiene schrittweise anzugleichen", kommt offensichtlich zentrale Bedeutung zu.

Neben den Investitionsmitteln und ihrer effektiven Verwendung – Modernisierung des Bestandsnetzes statt Prestigeprojekte – kommt es darauf an, auch in folgenden Punkten politische Korrekturen vorzunehmen:

- Die Trassenpreise für den Schienenverkehr sind zu senken. Deutschland ist der einzige Staat, in dem ausgerechnet die umweltfreundliche Bahn annähernd nach dem Vollkostenprinzip für ihren Fahrweg zur Kasse gebeten wird. Der Straßenverkehr kommt hingegen in ganz Europa nur für einen Teil seiner Fahrwegkosten auf. Das EU-Weißbuch Faire Preise für die Infrastrukturbenutzung bietet eine zumindest mittelfristige Lösung an: Die Fixkosten aller Verkehrswege sind vom Staat zu übernehmen, während den Nutzern nur die variablen Kosten der tatsächlichen Nutzung ("soziale Grenzkosten") angelastet werden sollen. Das – an sich bessere – Vollkostenprinzip ist ohne Zweifel wegen politischer und ökonomischer Zwänge im Straßenbereich erst sehr langfristig einzuführen. Weil sich die Straßenbenutzung folglich nur schrittweise verteuern wird, muß die Schienennutzung "der Straße entgegenkommen", also zunächst einmal verbilligt werden, auch wenn dies für die Anhänger der "reinen Lehre" bei der Wegekostendeckung als relativer Rückschritt erscheinen mag.

- Obwohl die Bahn schon über die Trassenpreise ihre Wegekosten weitestgehend decken muß, haben dieselgetriebene Züge zusätzlich Mineralölsteuer zu zahlen, sind also benachteiligt gegenüber der Konkurrenz auf der Straße und in der Luft. Vor allem der Flugverkehr muß endlich über die Kerosinsteuer zur Kasse gebeten, ersatzweise die Bahn vorübergehend bei der Dieselsteuer entlastet werden. Ähnliche Probleme ergeben sich bei der Umsatzsteuer, bei der zumindest der Fernverkehr auf der Schiene dem Nahverkehr gleichgestellt, der Mehrwertsteuersatz also halbiert werden müßte. Zusätzlich sind grenzüberschreitende Flüge von der Mehrwertsteuer freigestellt, der Bahnverkehr hingegen nicht.

- Im Güterverkehr bestimmen zunehmend die schweren Lkw das Bild: Kein Wunder, denn allein dadurch, daß sie statt mit den vorgeschriebenen 80 km/h mit 90 und mehr unterwegs sind, erreichen sie einen Wettbewerbsvorteil von über zehn Prozent gegenüber der Schiene. Auch die Nichteinhaltung von Lenk- und Ruhezeiten ist nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel. Deshalb ist die Einhaltung geltender Tempolimits, Wochenendfahrverbote, Sozial- und Sicherheitsvorschriften durch verstärkte Kontrollen des Lkw-Verkehrs sicherzustellen. Die Sozial- und Sicherheitsvorschriften müssen für den Lkw-Verkehr mit hohen Standards auf europäischer Ebene harmonisiert werden.

- Bei den Unfall- und Umweltkosten schneidet die Schiene deutlich besser als der Straßenverkehr ab, kann aber diesen Wettbewerbsvorteil bis heute nicht umsetzen. Als verbindliches Ziel der Politik ist daher die verursachergerechte Anlastung der externen Kosten für alle Verkehrsträger über eine schrittweise Erhöhung der Mineralölsteuer und eine leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe festzuschreiben.

Der rot-grüne Koalitionsvertrag sieht die Einführung der "fahrleistungsabhängigen elektronischen Gebührenerhebung" vor, und tatsächlich war die Aufgabe der deutschen Blockade des Landesverkehrsabkommens zwischen EU und Schweiz einer der ersten Erfolge der neuen Bundesregierung, zumal Verkehrsminister Müntefering gleichzeitig zu Protokoll gegeben hat, bis spätestens 2002 auch in Deutschland die elektronisch erhobene Schwerverkehrsabgabe einzuführen. Das ist auch dringend erforderlich: Berechnungen haben für den künftigen Alpentransitverkehr durch die Schweiz, der nicht mehr auf Umwege über Österreich und Frankreich angewiesen ist, trotz der Schweizer Schwerverkehrsabgabe von bis zu 1,30 DM pro Kilometer ergeben, daß ohne eine zusätzliche Förderung des Schienentransits durch Schweizer Bundesmittel dem Straßengüterverkehr erhebliche Kostenvorteile erwachsen. Eine deutsche Schwerverkehrsabgabe tut also ebenfalls dringend not und muß so ausfallen, daß es im innerdeutschen wie im europäischen Transitverkehr wirklich zu einem Umsteuern zugunsten der Schiene kommt. Europäisch abgestimmtes Handeln tut not, hat aber ebensolche Entschiedenheit in der deutschen Verkehrspolitik zur Voraussetzung.