Alles so schön bunt hier

Über Pop, Hotels und Zeichensysteme

Ralf Hanselle

Der Mensch ist tot, es lebe sein Produkt.
Erich Fromm

Fünf Menschen schließen sich für einige Tage in einen Raum ein. Ihr Ziel: alle Gespräche mitzuschneiden, um auf diese Weise ein Sittenbild ihrer Generation modellieren zu können. Was sich anhört wie Big Brother, das größte Wirklichkeitsversprechen seit Erfindung der virtuellen Realität, nennt sich hier Tristesse Royale und ist die Mitschrift einer illustren Plauderrunde, bestehend aus Eckhart Nickel, Christian Kracht, Joachim Bessing, Benjamin von Stuckrad-Barre und Alexander von Schönburg. Dieses "popkulturelle Quintett", so der selbstgewählte Titel, traf sich im April 1999 im Berliner Nobelhotel Adlon, um ein Wochenende darüber zu philosophieren, was die Altersgruppe der "20-or-somethings" eigentlich zusammenhält.

Viel ist in den letzten Jahren geschrieben worden, nicht nur über die hier versammelten so genannten Wonderboys der deutschen Popliteratur, sondern ebenso über die Eigenarten ihrer Altersgruppe. Zu viel ist geschrieben worden, könnte man meinen, wenn man allein bedenkt, wie oft man versucht hat, diesen Jahrgängen einen Namen zu geben. Generation X, Generation Golf, 89er-Generation, Generation der Erben – es ließe sich ein ganzer Almanach der Generationsbegriffe anhand der heute 15- bis 35-Jährigen erstellen. Unter immer wechselnden Begriffen und Labels haben besonders die Feuilletons versucht, eine Generation geradezu herbeizuschreiben.

Besonders der von Claus Leggewie verwandte Begriff der 89er-Generation macht dabei deutlich, wohin die Reise bei dieser Etikettierung und Einordnung eigentlich gehen soll: Dreh- und Angelpunkt der ganzen Debatte scheinen wieder einmal die so genannten 68er zu sein – die Mutter aller Nachkriegsgenerationen, wenn man so will. Nun geht es also um ihre Kinder, um die, die zum Teil noch in den Kinderläden der Antiautoritären-Bewegung erzogen oder als noch unpolitische Teenager auf die Friedensdemonstrationen der Achtzigerjahre mitgenommen worden sind, aber auch jene, deren Eltern sich nie wirklich zu der marginalen Zahl der 68er-Bewegung dazugerechnet haben.

Menschen im Hotel

Von all den oben genannten Labels scheint sich in den letzten Jahren eines besonders bewährt zu haben: POP. Der Kulturphilosoph und Vordenker dieser Bewegung, Diedrich Diederichsen, jedenfalls ist der Meinung, dass Pop als "zeitdiagnostischer Dummy-Term" im Einsatz wäre; und in der Tat scheint er ein idealer Oberbegriff, um die Wahrnehmungen und Lebensgefühle dieser Altersstufe gänzlich fassen zu können. Nach Popjournalismus, Popliteratur und Popfashion nun also das dazugehörende Popmanifest. Nichts Geringeres nämlich hatten die im Berliner Adlon Versammelten im Sinn. Allein hieraus erklärt sich Zeit, Gestalt und Ort des kleinen elitären Happenings.

Denn während die ganze Republik über den Kosovo-Krieg diskutierte, über Vertreibung und Genozid, nisteten sich die fünf Jungautoren in edlen Designeranzügen in einer Luxussuite am Brandenburger Tor ein, um sich über Werbeästhetik, Provokation und Dandytum zu unterhalten. Parallelen zu einem anderen berühmten Hotelgast, der 1943 im Pariser Nobelhotel "Raphael" mit einem Glas Burgunder mit Erdbeeren auf fallende Bomben anstieß und beobachtete, wie Flugzeuge "die Stadt zur tödlichen Befruchtung überflogen", scheinen dabei nicht nur zufällig zu sein. Denn Ernst Jünger, der mit dieser Ur-Szene des Dandyismus Maßstäbe gesetzt zu haben scheint, stand für die Neogecken nicht nur hierin Pate.

Wie bei dem zweifachen Weltkriegsveteranen mündet auch ihre Gesellschafts- und Generationsanalyse in blankem Eskapismus. Politik oder auch nur politisches Bewusstsein ist den fünf Jungautoren laut eigenem Geständnis fremd. Lediglich noch die Außenseite der gesellschaftlichen Prozesse scheint sie zu interessieren, das wechselnde Zeichenspiel, an dem sich ihr ästhetisches Bewusstsein aufhängt. Friedensbewegung, Parlamentarismus oder Werbung – alles wird nach dem ästhetischen Erscheinungsbild geordnet, nach den veräußerlichten Codes, die man leicht von den Foto-, Mode- oder Plakatoberflächen abkratzen könnte.

Doch gerade hierdurch scheint sich Verunsicherung breit gemacht zu haben unter den Youngsters der deutschen Popliteratur. Die Außenwelt der Innenwelt scheint mehr und mehr in den Verdacht der Täuschung geraten zu sein. "Genau wie das Adlon ist die Welt", gesteht schließlich Alexander von Schönburg, Autor von so bezeichnenden Büchern wie "Das Beste vom Besten" und "Europe’s Elite 1000", "Außen fein herausgeputzt, mit Goldrand, aufgehyped – dahinter hohl." Was klingen mag wie eine phänomenologische Binsenweisheit, scheint für die Popgeneration einer Katastrophe gleichzukommen. Ihre Konsequenz formulieren sie daher radikal und mit äußerstem Pathos: "Wäre das hier Cambridge und nicht Berlin und wäre es jetzt der Herbst des Jahres 1914 und nicht der Frühling des Jahres 1999, wären wir die Ersten, die sich freiwillig meldeten." Der frühe Ernst Jünger hätte es nicht schöner sagen können.

Im Körper des Feindes

Handelt es sich bei den allerorts gefeierten Literaten also um Neoreaktionäre, deren Weltbild in den letzten Jahren tatsächlich derart erschüttert worden ist, dass sie sich nach einer neuen "Utopie des Unglücks" sehnen? Oder muss man Erscheinungsbild und Artikulation zunächst einmal als das betrachten, was im Pop der Neunzigerjahre gang und gäbe war – als Zitat, das durch den Kontextwechsel seine eigentliche Bedeutung längst eingebüßt hat? Signifying würde man Letzteres im Popgeschäft nennen: Die Akteure der Subkultur imitieren auf diese Weise Gestus und Sprache der verkrusteten E-Kultur und brechen sie mittels Ironie und Verfremdung auf. Die bekanntesten Beispiele hierfür lassen sich im Rap und im Hip-Hop finden, in denen besonders die afroamerikanische Minderheit der USA die Sprache und Lebensweise der herrschenden Kultur nachäfft (signifying monkey) und verzerrt. Betrachtet man das signifying in der Musik aber zumeist noch als politischen Akt der Emanzipation aus der starren Ordnung des Diskurses, so wohnt der deutschsprachigen Popliteratur keinerlei sozial-emanzipatorische Kraft mehr inne. Ihre Protagonisten kommen aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft, und die meisten Denk- und Sprachschranken sind bereits von der Elterngeneration aus den Angeln gehoben worden.

Dennoch ließen sich mithilfe des signifyings die Erfolge von Popautoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre (Soloalbum, Livealbum), Alexa Hennig von Lange (Relax) oder Selim Özdogan (Es ist so einsam im Sattel, seitdem das Pferd tot ist, Nirgendwo & Hormone) besser erklären. Denn vom literarischen Standpunkt sind ihre Bücher sicherlich alles andere als hochwertig. Ihre wenig variierenden Erzählungen über Fastfood und Quickies, Funhatz und schnelle Beats gleichen eher den Passformen einer Hitsingle denn denen eines Romans. Hipp und ex und hopp, so das immer gleiche Strickmuster bei den aufstrebenden Nachwuchsliteraten.

Versteht man viele der Popschreiber aber weniger als Schriftsteller, sondern vielmehr als Zitat von Literatur, als Signifying Monkeys, die den Gestus und die Erscheinungsweise von Dichtung und E-Kultur schlichtweg nachäffen, so würde man manchem Schreiberling sicher gerechter werden. So, wie sich die Helden in den Rap-Videos mithilfe von dunklen Limousinen und überproportionalem Goldschmuck die Zeichen der herrschenden Oberschicht gefügig machen, so übernehmen die Heroen der Popliteratur das semiotische System der E-Kultur.

Die Fehler des Kopisten

Doch gerade dieses Spiel mit der Oberfläche ist es, das die Popgeneration mehr und mehr verdrießlich stimmt. In Zeiten, in denen nicht nur jeder vergessene Rockstar mithilfe eines ausgeklügelten Re-Modellings seinen zweiten Frühling feiern kann, sondern in denen sich auch Politiker nach Belieben morphen und Ideologien freizügig sampeln lassen, ist die innovative Kraft der Subkultur hinfällig geworden. Diedrich Diederichsen beschwört das Ende der Subkultur herauf und behauptet, dass letztlich Pop überall und alles sei. Auch wenn diese These etwas zu weit gehen mag, so trifft sie doch mitten ins Mark der jungen Generation. Dabei ist für sie jedoch nicht nur die Tatsache erschreckend, dass Jugendkultur längst im Mainstream angekommen ist, sondern vielmehr ist es die Zweidimensionalität der gesamten postmodernen Gesellschaft, die die "20-or-somethings" plötzlich auf-schrecken lässt.

Sicherlich, die Popkultur der zweiten Generation hat schon lange ihre provokative oder systemkritische Haltung eingebüßt. Spätestens mit dem Zerfall der großen Ideologien ist auch Pop als Medium des Protests und des gesellschaftlichen Gegenentwurfs hinfällig geworden. Konnte man Warhols Factoryart oder Ginsbergs Gedicht  A Supermarket in California noch als Kritik am späten Kapitalismus verstehen, so ist die Popästhetik längst von der postfordistischen Gesellschaft aufgesogen und in ihre Dienste gestellt worden. Erschrecken aber mag dies nur, wenn man dieser Ästhetik wirklich vertraut hat und so unfähig geworden ist, die einfachsten Zeichen auf Plakatwänden zu entziffern. Das Popquintett im Berliner Adlon zumindest ähnelt in dieser Hinsicht dem babylonischen Herrscher Belsazar, dem die Deutung der Schriftzeichen mehr und mehr aus den Händen glitt.

Auf Wiedersehen Kinder

Die Welt am Ende des Pop, so könnte man meinen, gleicht einer Camouflage. Wenn Zeichensysteme nach Belieben austauschbar und Sounds sowie Bilder an jedem Ort reproduzierbar geworden sind, so hat der Mensch längst die Deutungshoheit über die Realität verloren. Dies, so scheint es, ist die eigentliche Krise der Popkultur: Die Wirklichkeit, die dem Pop lediglich als Verkehrsweg für den Transfer von Zeichen galt, liegt unter Plagiaten und Finten verschüttet. Die "Generation Golf" hat sich in ihr eigenes Labyrinth gefahren, aus dem sie nicht mehr herausfindet. Wenn selbst Affekte nur noch das Produkt von wechselnden corporate identitys sind und Marken eine Kulisse von Emotionen herstellen können, dann ist für viele die Entzifferung der Popcollage nicht mehr zu meistern.

Die Tempo-Jahre, so scheint es, sind an ihrem lethargischen Nullpunkt angelangt. Man mag die Sehnsucht des Popquintetts nach einem neuen "Stahlgewitter" für eine schlechte Casdorf-Kopie halten, man mag darin die gleiche Provokation wittern, mit der auch schon Botho Strauß seine Ohnmacht vor der Ideologiekrise unter Beweis gestellt hat – einen Endpunkt markiert sie allemal. Wenn etwa der Held in Alexa Hennig von Langes neuem Roman Ich bin’s nur noch stumpfsinnig vor sich hin brabbelt, wenn er in der Sprache eines dubiosen Jugendsounds permanent redet, ohne letztlich noch etwas zu sagen, so ist dies die eindrucksvollste und letzte Bankrotterklärung des Pop: Es ist egal, was man sagt, mit der Realität hat es ohnehin nichts mehr zu tun.