Wir wollten alle Spion sein

Spionage, System und Opposition in der DDR

Lutz Rathenow

"Eigentlich wollte ich immer Spion werden." Verraten, erkunden, lügen – irgendwie kämpfen ohne direkt zu kämpfen. Spionieren konnte edel, notwendig und gut sein. Und die anderen wären böse bis sehr böse gewesen. Spionage verschafft einem die Gelegenheit, sich einem naiven Umfeld gegenüber überlegen zu fühlen, die eigene informelle Extramacht auszukosten. – Eigentlich wollte der Autor mit dem Spionagesatz einen langen autobiografischen Text beginnen. Aber der Satz hat ihn ins Grübeln gebracht, ins Umschreiben und Nachfragen.

Kürzlich sah ich im Fernsehen, wie der schreibende Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit, Sascha Anderson, bekundete, dass er schon immer Spion werden wollte. Und in einer Zeitung stand ein Text über die "Stasi-Tätigkeit des Theaterregisseurs Thomas Bischoff" mit dem Satz: "Ich wäre damals auch gern als Kundschafter der DDR in die BRD gegangen." Als Ersatz durfte (!) er sich "einen Decknamen geben und wurde in den Akten unter seinem bürgerlichen Namen als IM-Anwärter geführt." Eine stellvertretende Intendantin aus Berlin wurde wegen ihrer Stasi-Mitarbeit gerade entlassen. Gegen einen Westberliner Kulturpolitiker ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit für die DDR. Fälle über Fälle purzelten in den letzten Jahren durch die Nachrichtenwelt – und über den jeweils sehr konkreten und oft rasch vergessenen Fall bleibt keine Zeit darüber nachzudenken, was dieses Eingebundensein in die konspirativen Machtstrukturen der DDR für einen Teil der Intellektuellen eigentlich bedeutete. Und für die Diskussionen heute bedeutet. Eine Antwort vorab: eine weiterwirkende Lähmung der Wahrnehmungs- und Analysemöglichkeiten in ungewisse Bereiche hinein. Eine Art Erkenntnisfäule und Wahrnehmungsschwäche, die nach scheinradikalen Kompensationen sucht. Eine Art sich selbst neu reproduzierender Befangenheit entstand, deren Folgen eben nicht in zwei, drei raschen Sätzen auf den umfassenden Nenner zu bringen sind. Was bedeutet ein schlechtes Gewissen über die gelähmte Reflexion eigener Abhängigkeiten damals für die Neugier und Analyse auf neu eingegangene Abhängigkeiten heute?

Wir wollten alle irgendwie Spione werden. Also die, die in Kindheit und Jugend Gleichheitsideale im Kopf hatten und bürgerliche Demokratie für eine ziemlich rückständige Sache hielten. Wir, die nicht nur mitlaufen wollten im Staat, sondern schon das Schrittmaß mitbestimmen mochten. Und recht früh den Gleichschritt (für spezielle Gruppen im unterschiedlichen Takt angeordnet) nicht für das Geeignete hielten. Wir wollten etwas Besonderes sein und werden und auffallen. Es machte sich da gut, die eigene Umgebung auch für eine besondere zu halten. Wenn sie schon langweiliger war als der spannender vermutete Rest der Welt, musste sie wenigstens die Larve für etwas Außergewöhnliches sein. Der uns in seiner Bravheit und Geregeltheit eher angähnende Realsozialismus als Urform einer durch Verwandlungen (das Zauberwort: Revolution) erzeugten, wildklugen Gesellschaft namens Kommunismus. Das als psychologische Ausgangssituation für zwei grobe Entwicklungsraster: der besonders fleißige Mitgestalter der DDR und engagierte Mitmacher oder der sich zu einem Oppositionellen entwickelnde Außenseiter. Der erste Typ konnte, gerade weil er die DDR verbessern wollte, rasch vom geraden Weg abkommen und sich plötzlich auf der Dissidentenseite wiederfinden. Der sich als Gegner einordnende Mensch erschlaffte leicht in seinem politischen Betätigungswillen. Gerade weil er "die Roten" so mies fand, sah er keine Gelegenheit ihre Macht zu beschränken und passte sich dann doch lieber an. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten der DDR und unter dem Druck der West-Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit dem im Osten benötigten Westgeld, entstanden vom Staat DDR niemals offiziell anerkannte neue Wirkungsstrukturen. Sie ermöglichten eine nicht immer automatisch sofort durch Verhaftung beendete politische oppositionelle Arbeit. Auch die Entstehung einer sich eher antipolitisch verstehenden Subkultur profitierte davon. Und natürlich eine sich in Schüben entwickelnde Ausreisebewegung. Der Trick der DDR-Machthabenden bestand darin, alle drei Komponenten des Ungehorsams einerseits als existierend zu bestreiten, andererseits juristisch und durch die Stasi  zu bekämpfen und drittens doch als Ventile für die Machtsicherung zu nutzen und einzuplanen. Auch als Verhandlungsmasse gegenüber dem Westen, vom Verkauf vermeintlich politischer Gefangener bis hin zum Beweis zunehmender Liberalität, wenn ein Staat den nicht verhafteten Dissidenten vorführen kann. Die klare Freund-Feind-Behandlung des klassischen Stalinismus wurde in der DDR allmählich durch ein geschicktes Verwirrspiel ersetzt, das konfuser wirken sollte, als es das eigentlich war. Der Staatssicherheit wuchs dabei als der für Außenstehende unbekannten Größe eine entscheidende Rolle zu. Gerade ihre Aktivitäten erschwerten die nüchterne politische Analyse. Gefühle und Leidenschaften sollten gerade bei der IM-Anbindung in politisch nutzbare Bahnen gelenkt werden. Durch eine konspirative Tätigkeit war keine vergleichende Diskussion der Mitmacher zu befürchten.

Und eine interessante Frage wäre, warum Menschen wie Sascha Anderson oder Thomas Bischoff (in viel schwächerer Form) ihr Spionagebedürfnis zu Mitarbeitern des MfS-Apparates machte und andere zu Oppositionellen, die konspirativ in der DDR arbeiteten. Und neben den vielen unter den wenigen Gegnern, die sich am liebsten von allem fern hielten, das nach Stasi roch, gab es doch einige, die lustvoll genussvoll und selbstquälerisch gegen das MfS agierten. Ja, ich muss es zugeben, dessen Arbeit (Zersetzungsarbeit) war der eigentliche Motivationsquell, deren Arbeit zu stören. Und so fanden einige, vor allem unter den Verhältnissen der Achtzigerjahre, in Jena vorher, zur einzigen wirklichen spionageähnlichen Tätigkeit innerhalb der DDR: halb konspirativ, halb in die (West-)Öffentlichkeit zielend gegen die DDR zu arbeiten. Diese Form der Spionage im eigenen Auftrag (um zum Beispiel Umweltschäden zu erkunden oder politische Verhaftungen an Amnesty International zu melden) schloss einen Kontakt zu existierenden Geheimdiensten aus. Nicht nur, weil man die verachtete; die westlichen würden zudem von den östlichen unterwandert sein, das erwartete jeder Nüchterne. Jeder Kontakt zum BND wäre ein Himmelfahrtskommando gewesen (lange drohte die Todesstrafe) oder ungewollte Zuarbeit für die Stasi. Und vielleicht nahmen wir unseren Hauptfeind MfS so wichtig, dass wir alle Geheimdienste der Welt gleichermaßen zu wichtig nahmen und jede Form der Tätigkeit für sie sehr prinzipiell ablehnten. Die Stasi merkte natürlich, dass ihre DDR-Gegner jede Berührung mit Geheimdiensten vermieden (bis auf die IM) und erklärten bestimmte Freundeskreise einfach zur geheimdienstähnlichen Organisation. So kamen locker strukturierte Freundes- und Informationsnetze zu der Ehre, in den Akten als "Banden" und Feindzentralen zu gelten und ganz erhebliche Aktivitäten der verschiedenen Verantwortungsbereiche des MfS an sich zu binden. Erst das ermöglichte eine antipolitische Subkultur, weil andere Kreise umso politischer eingeschätzt worden sind und viel Zersetzungsfürsorge brauchten. (Ansonsten wäre das Nichtkümmern um politische Fragen nur als besonders raffinierte staatsfeindliche Taktik gewertet worden. Die DDR hatte einfach zu viele reale Oppositionelle, um sich ganz den Scheingefechten mit eingebildeten Gegnern hingeben zu können, die natürlich immer leichter zu führen und planmäßiger zu gewinnen sind.)

Und wer nun im Auftrag der DDR Spion sein wollte? Sascha Anderson kam, nach seiner Übersiedlung nach Westberlin 86, dem Spionageideal nahe, da er im Westen weiter für seine Offiziere arbeitete. Aber für einen Dienst, dessen Erkenntnisse neben der Einflussnahme im Westen vor allem der DDR-innenpolitischen Machtsicherung dienten. Also für das MfS zu arbeiten hieß doch eher, kein Spion zu sein. Das galt vor allem für die IMs in der DDR. Sie kundschafteten nicht im Bereich einer fremden Macht diese aus. Sie wirkten als Überwachungs- und Disziplinierungshelfer im Auftrag der eigenen Regierung. Sie arbeiteten für die Blackbox " Machtsicherung Realexistierender Sozialismus". Selbst ihre Führungsoffiziere wussten nie genau, was mit ihren Informationen wirklich angestellt würde, wie sie in das Leben der Überwachten zurückwirkten. (Einmal beim Lesen meiner Stasi-Akten der mühsam kaschierte Wutausbruch eines Offiziers, der es satt hatte, jedes halbe Jahr einen neuen Plan zur politischen Behandlung der Person R. zu verfassen. Immer wieder entwickelte er neue Verhaftungsideen. Und was taten seine Vorgesetzten? Neue Gutachten über R. in Auftrag geben.)

Wer IM wurde, gab sein Akteursdasein auf. Er handelte, unabhängig von der Selbsteinschätzung, als Knecht und Sklave der DDR-Macht. Wer die Stasi beeinflussen wollte, durfte nicht mit ihr zusammenarbeiten. Das Fiasko vieler IMs, gerade in den künstlerischen Zusammenhängen, ist ein mehrfaches: nicht nur ein moralisches gegenüber der Mitwelt, sondern ein konzeptionelles gegenüber den eigenen Absichten. Um dem MfS eine Information zuzuspielen, die es verwirren oder beruhigen sollte, reichte es, an einem abgehörten Telefon die zum Mithören gedachten Sätze zu sprechen. Die Aufhebung der Distanz hieß immer, die Selbstkontrolle zu verlieren.

Es wird mir langweilig, seit acht, neun Jahren Erkenntnisse über die Staatssicherheit zu wiederholen. Drei Beobachtungen aus der sporadischen Aktenlektüre der letzten Jahre und der Nachträge zu Sascha Anderson aus diesem Jahr:

Erstens: Die dramatischsten Erinnerungen an merkwürdige Episoden mit Anderson finden sich nicht in den Stasi-Unterlagen, die freilich unvollständige Funde sind. Über die mir von A. mehrfach vorgetragene Idee, alle Autoren des Prenzlauer Berges sollten eine Reise in den Libanon beantragen ("Dichter in den Krieg, unsere Literatur braucht Blut"), findet sich kein Wort. Auch kein Hinweis auf die durch das Verschwinden eines Teils der Manuskripte (Anderson wollte den Brief selbst Diplomaten zum Weiterschicken geben) verhinderte Dramatik-Anthologie im Münchner Kleinverlag Huber & Klenner. Möglicherweise dämpften die eher rational gesteuerten Disziplinierungsszenarios der Staatssicherheit die Absichten ihrer ambitioniertesten Zuarbeiter. In dem Sinn sind Autoren wie Uwe Kolbe (in dem Anderson nicht nur einen literarischen Gegenspieler witterte, der auch ein selbstverständlicheres Nebeneinander von poetischen und politischen Aktivitäten zu praktizieren ansetzte) oder meine Person mitunter vom MfS vor den Energien von Leuten wie Sascha Anderson und Rainer Schedlinski geschützt worden.

Zweitens: Die Staatssicherheit interessierte sich in den 80er-Jahren zunehmend nicht mehr für Literatur und kaum noch für Kunst und am allerwenigsten für subkulturelle Minderheiten-Ästhetik. Es ging ihnen fast nur um die sozialen Auswirkungen dieser Kunst produzierenden Lebenszusammenhänge. Und um ihre Auswirkungen auf und Kontakte zur sich entwickelnden politischen Opposition, die manisch und hypersensibel beobachtet worden ist. (Ich las die Aktennotizen von mehreren Anwerbungsversuchen des MfS bei Dichter(inne)n vom Prenzlauer Berg, die alle NICHT mitmachten. Das Interesse an Texten wurde nur noch vorgetäuscht. Ich verstand meine Spannungen mit Kollegen aus dieser Szene besser. Ich wäre auch sauer gewesen, wenn MfS-Offiziere in einem Gespräch sich kaum für die Arbeit des/der Besuchten, aber umso mehr für den politischen aktiven Autor X. interessierten.)

Die ganzen sicher ernst gemeinten Kunst gestaltenden Energien einiger Ins verpufften im Grunde wirkungslos. Es ist schon erhellend, eine nicht uninteressante Rezension von Sascha Anderson zu meinem Buch Boden 411, geschrieben für das MfS, zu lesen. Sie schadete politisch durchaus, weil sie Wirkungsabsichten über die reine Literatur hinaus unterstrich. Dem Verfasser werden ästhetische Einwände wichtiger gewesen sein. Die verpuffen völlig im konspirativen Raum. Wenn mir Anderson künstlerisch widersprechen wollte, hätte er die Rezension im Westen veröffentlichen lassen müssen. Oder wenigstens in einer seiner Mini-Zeitschriften in der Ex-DDR. Aber dafür war sie viel zu verständlich verfasst. Sie widersprach sozusagen seiner eigenen, in der Szene vertretenen Ästhetik. Und war somit politischer, vielleicht klarer auf die DDR-Verhältnisse fixiert als die besprochenen Faststücke. Außerdem gab es eben innerhalb dieser Szene nie Interesse an offenen Diskussionen, die Autoren wie Jan Faktor und einige jüngere durchaus wünschten. Jede offene, ins Unkalkulierbare sich ausweitende Debatte hätte die Dominanz der Szene-Vordenker gefährdet. Sie nutzten zur Wahrung dieser partiell ähnliche Mittel wie die DDR-Kulturpolitik. Natürlich ohne über deren Machtmittel zu verfügen. Auch das erschwert heute eine Reflexion der ehemaligen Ins. Sie, die keine Politik in der Literatur duldeten, wurden letztlich nur politisch abgeschöpft. Wenn die Staatssicherheit an etwas nicht interessiert war – dann an der Qualität von Texten. In dem Sinn hat auch die IM-Tätigkeit eines Anderson niemand vor der Verhaftung bewahrt, niemand in dieser Szenerie sollte in der DDR der Achtzigerjahre noch verhaftet werden. Es sei denn, er wirkte durch eine Aktivität aus diesen subkulturellen Zusammenhängen heraus. So erhielten die Infos der Ins für den Staat einen hohen Stellenwert, um die Klischeefrage ständig neu zu beantworten: wer Freund und wer Feind sei.

Drittens: In dem Sinn verschafften die wohl wollenden Informationen von Anderson oder Schedlinski einigen Künstlern und Autoren das zusätzliche Gütesiegel der politischen Harmlosigkeit. Das auch bei Leuten, deren lebensprägender Anarchismus und deren Texte das aus Sicht des MfS nicht nahe legten. In dem Sinn dürfen die sich als von den Ins gefördert betrachten. Das Gütesiegel "harmlos" brachte dann schon einmal eine Westreisegenehmigung oder in der späten DDR die Präsenz in einer literarischen Reihe. Offenbar haben diese Leute die meisten Schwierigkeiten mit der IM-Debatte. Mancher hat Anderson sehr viel zu verdanken und er weiß heute nicht mehr, wie viel davon mit Stasi-Wohlwollen (im seltensten Fall per Auftrag) geschah. Also jene, denen Anderson oder andere nutzen wollten, laufen heute mit dem permanenten schlechten Gewissen herum. Das macht sie übellaunig und aggressiv. Antiwestliche Affekte einiger Autoren des Prenzlauer Berges sind auch so zu verstehen.

Vor dem Hintergrund hilft die Aktenlektüre allein nicht wirklich weiter. Mit Erinnerungen, anderem Material und sorgfältiger Recherche muss die Funktion dieser verschrifteten Notizbücher der Machtausübung erklärend beschrieben werden. Es reicht längst nicht mehr, diese Akten vor allem als Kündigungshelfer beruflich zu benutzen.

Damit wäre ich bei dem Regisseur Thomas Bischoff, der mich in den Achtzigerjahren mehrfach besuchte und beim MfS Berichte darüber hinterließ. Nun las ich einen Kommentar, in dem sich einer über die vielen Beschuldigungen muckierte und die "Opfer" aufforderte, endlich einmal alles auf den Tisch zu legen, was sie vorzubringen hätten. Das würde ich ja halbgern tun, wenn ich alles auf Anhieb fände – ich habe die Übersicht über die Akten verloren. Die Kopien füllen mehrere Quadratmeter Schrankfläche. Warum soll ich mich zum Verwalter der Erkenntnisse aufspielen? Ich nehme es den ehemaligen IMs übel, mich in eine Rolle gedrängt zu haben, die ihnen beweisen soll, was sie ohne Beweis offenbar nicht zu reflektieren in der Lage sind. Das geht nun seit Ende 1991 so. Also ignorierte ich die meisten der in den Akten mehrfach auftauchenden IMs. Es ist aber eine Beleidigung der eigenen Intelligenz, Sätze lesen zu müssen wie jenen über Thomas Bischoff: "... verfasste nach eigenen Angaben ein paar atmosphärische Berichte, in denen es nicht um Personen ging."

Also um mich ging es schon. Es waren mehr als fünf und weniger als zehn. Öfter besuchte er mich auch nicht. Die Berichte entstanden möglicherweise als Auszüge aus längeren Gesprächen und es ist sehr menschlich, sich an das nicht zu erinnern, was man nicht hat sagen wollen. Schon in der Gesprächssituation. Die Berichte sind weder schlimm noch sind sie harmlos. Ich möchte nur Thomas Bischoff und die nächsten ihn porträtierenden Redakteure ein wenig auf mögliche Erkenntnisse der Gauck-Behörde vorbereiten. Die prüft ja nun. Ich sprach mit einem Menschen über diese Berichte, der Thomas Bischoff über ein Familienmitglied kannte. Er muss auch etwas in einer anderen Akte gelesen haben und schien nach der Lektüre eher wütend auf Bischoff zu sein. Ist das nun eine nicht bewiesene Denunziation? Oder das Gegenteil davon? Oder drückt es nur eine verfahrene Situation aus, in der unglaublich viel Energie und Kraft für das Aufklären einfachster Zusammenhänge nötig ist. Ich warne vor dem, was nun passieren könnte. Irgendwann kommt das Schreiben der Behörde, die Kündigungen in Dresden und Düsseldorf werden sich formell vielleicht bestätigen und Bischoff wird für viele erledigt sein. Und andere werden ihn als Opfer der neuen Verhältnisse verehren und an einem Theater demonstrativ weiterbeschäftigen. Es müsste heute eine andere Lösung solcher spannungsreichen Abhängigkeiten möglich sein. Geht es an, einen freischaffenden Regisseur wegen einer IM-Tätigkeit heute automatisch die Engagements zu kündigen? Das Ganze für unwichtig zu halten, ist keine Alternative. Warum entscheiden sich ein Theater und der Regisseur nicht für eine künstlerische Auseinandersetzung? Alles wird auf den Brettern, die die Weltbedeutung ausleuchten, zu einem Thema oder einem Ballett. Warum ist beim Thema Stasi dort bisher nur ein kolportagehafter Umgang möglich? Keine sinnliche Darstellung dessen, was diese Papiere heute und die Gespräche damals auslösten.  Kein ungewohnter Umgang mit den Akten, der dann irgendwann so etwas wie Erlösung von ihnen bewirken könnte. Wäre das nicht eine Aufgabe für Thomas Bischoff? Könnte einer wie Bischoff nicht doch ausloten, wie ihn diese konspirativen Kontakte (oder der zunehmende Ekel vor ihnen) geprägt und seine Lebenshaltung beeinflusst haben?

Aufklärung allein hilft nicht. Gerade diesem sturernsten Thema muss etwas von seiner Starre genommen werden. Warum nicht Publikum und die Schauspieler durch Aktenkopien waten lassen? Die Sätze zerreißen und neu formen. Einen Abend lang Papiere zerknüllen und die Aktensätze mit den Erinnerungen an die Gesprächssituationen konfrontieren. Als ich die erste Seite vom IM (Anwärter?) "Fricke" alias Bischoff noch in der Gauck-Behörde las, leuchtete die Idee auf: Der müsste, wenn schon nicht darüber reden, so doch damit spielen können. Hier kann ein Talent sein Talent entwickeln. Ich lade Thomas Bischoff zum Dialog über die privaten, beruflichen und künstlerischen Perspektiven dieser Angelegenheit ein.