Grüne Steuerpolitik – überangepasst oder sachgerecht?

Einkommensbesteuerung im internationalen Vergleich

Steffen Ganghof

Sind die Grünen überangepasst, wie ihre Kritiker, zum Beispiel die "Globalisierungsgegner" von attac, behaupten? Oder fehlt den Kritikern schlicht die Sachkenntnis, der Sinn für die ökonomische und gesellschaftliche Komplexität, wie viele grüne Führungsleute finden? Zu beantworten sind diese Fragen nur im Konkreten. Ausgehend von der grünen Steuerpolitik zeigt der Autor Grundstrategien der Einkommensbesteuerung im internationalen Vergleich auf, denen sich auch die deutsche Diskussion stellen sollte: gleichmäßiges oder duales Steuersystem?

Der Grad zwischen ideologischer Überanpassung und "abgestandenem Linksradikalismus" (Joschka Fischer über attac) ist schmal. Zielkonflikte sind allgegenwärtig, unzweifelhafte empirische Belege für die Wirkungen unterschiedlicher Politik-Optionen dagegen rar? Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sorgfältig über Zielkonflikte nachzudenken – auch wenn’s schwer fällt (Tetlock 2000).

Die Einkommen- und Unternehmensteuerreform, ein zentraler Baustein rot-grüner Politik, ist ein besonders geeigneter Gegenstand des Nachdenkens. Die Kritiker verstehen die Welt nicht mehr: Warum haben die Grünen innerhalb der rot-grünen Koalition leidenschaftlich für eine Senkung des Spitzensteuersatzes gekämpft, obwohl hohe Einkommensteuersätze trotz der Globalisierung weiterhin möglich sind? Der finnische Spitzensatz beträgt 56 Prozent, der schwedische 57 Prozent, und der dänische 59 Prozent; der deutsche soll dagegen bis 2005 auf 42 Prozent fallen (Ganghof 2001: 19-23). (1) Für attac ist die Schlussfolgerung klar: Auch die Grünen betreiben jetzt grundlose "Umverteilung von unten nach oben"?

Die grünen Finanzpolitiker dagegen sind mit sich im Reinen. Die Reform sei nicht nur effizient und schaffe Arbeitsplätze, sie sei auch gerecht. Der Grund: die Senkung der Steuersätze sei verbunden worden mit einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Durch diese weltweit erprobte Doppelstrategie würden Schlupflöcher (für Besserverdiener) geschlossen und mehr Einkommen könnten in die Besteuerung einbezogen werden. Gerechtigkeit werde somit gestärkt, insbesondere die so genannte horizontale Gerechtigkeit, das heißt die Gleichbehandlung unterschiedlicher Arten von Einkommen. So ist denn auch einer der obersten Grundsätze der grünen Steuerpolitik im neuen Grundsatzprogramm: "Wir wollen eine gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, die nicht nach Einkunftsarten oder -quelle unterscheidet." (Bündnis 90/Die Grünen 2002: 38)

Was die Kritiker übersehen Die grüne Position deckt sich nicht nur mit der vieler Steuerrechtler und -ökonomen, sie hat auch viel für sich. Steuertarife sollen die "wahre" Belastung widerspiegeln und nicht nur auf dem Papier stehen. Entscheidend ist aus dieser Sicht letztlich das Verhältnis von Steuersätzen und Steuereinnahmen. Wenn mit hohen Steuersätzen wenig Geld eingenommen wird, ist etwas faul im Staate. Kritiker wie die von attac vergleichen deshalb Äpfeln mit Birnen: Die dänische Körperschaft- und Einkommensteuerquote (Einnahmen/Bruttoinlandsprodukt) betrug im Jahr 1999 29,6 Prozent, die finnische 19 Prozent, die schwedische 21,7 Prozent, die deutsche dagegen nur 11,3 Prozent (OECD 2001: 67). Der Durchschnittsdäne trägt also eine viel größere Einkommensteuerlast als der Durchschnittsdeutsche, und dementsprechend muss auch der dänische Besserverdiener mehr zahlen als der deutsche, damit ein ähnliches Maß an Einkommensteuerprogression erreicht wird. Andersherum betrachtet: Hätte Deutschland Dänemarks Einkommensteuersätze, müssten fast zwangsläufig neue Ausnahmen geschaffen werden – um das Wirtschaftswachstum nicht zu gefährden und weil es bei höheren Steuersätzen immer schwieriger wird, bestimmte Arten von Kapitaleinkommen voll in die Einkommensteuer zu integrieren. Ist also doch schlüssig die grüne Steuerpolitik, oder?

Was die Grünen übersehen Aber auch die Grünen übersehen einiges. Um die blinden Flecken in der grünen Argumentation zu erkennen, müssen wir zunächst das Grundproblem einer gleichmäßigen Einkommensteuer verstehen. Um die (jährliche) "Leistungsfähigkeit" einer jeden Steuerzahlerin und eines jeden Steuerzahlers zu erfassen, sollen alle Einkommen in einen Topf getan werden. Das gesamte Einkommen kann dann – soweit gewünscht – progressiv besteuert werden. Die Besserverdiener zahlen so höhere Steuersätze auf ihr gesamtes Einkommen. (2) Das Ideal der gleichmäßigen Einkommensteuer verwirklicht somit sowohl horizontale Gerechtigkeit (alle Arten von Einkommen werden gleich behandelt) als auch vertikale Gerechtigkeit (Besserverdiener haben höhere Steuersätze). Da automatisch auch alle Arten von Kapital nach denselben Steuersätzen besteuert werden, verzerrt die ideale Einkommensteuer auch nicht die wirtschaftlichen Entscheidungen zwischen unterschiedlichen Arten des Sparens oder Investierens. In diesem Sinne ist sie also auch effizient.

Leider ist es noch keinem Land auf dieser Welt gelungen, das Ideal der gleichmäßigen Einkommensteuer in die Praxis umzusetzen. Wo liegt das Kernproblem? Die Besteuerung unterschiedlicher Arten von Einkommen ist für den Staat unterschiedlich "teuer" – in ökonomischer, administrativer und politischer Hinsicht (Hettich/Winer 1999). Eine zentrale Trennlinie verläuft hier zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen. Lohnsteuern lassen sich viel leichter erheben als Kapitaleinkommenssteuern; viele Steuertheoretiker halten Steuern auf Arbeit nach wie vor für weniger wachstumsfeindlich, nicht zuletzt aufgrund des Steuerwettbewerbs; und bestimmte Steuern auf Kapitaleinkommen (Alterseinkünfte, selbst genutztes Wohneigentum) sind extrem unpopulär. Auch zwischen den verschiedenen Kapitaleinkommen gibt es große Unterschiede in den "Kosten der Besteuerung". Diese Unterschiede in den Besteuerungskosten unterschiedlicher Einkunftsarten sind der Hauptgrund, warum in allen Ländern viele wichtige Kapitaleinkommen eine Sonderbehandlung erhalten und nicht wie Arbeitseinkommen besteuert werden.

Zwei Grundstrategien der Einkommensbesteuerung

Wenn die Kosten der Besteuerung unterschiedlicher Einkommen sehr stark schwanken, hat die Politik zwei Grundstrategien der Einkommensbesteuerung. Die erste Strategie – die der Grünen – hält am Ideal der gleichmäßigen Besteuerung fest und senkt die Steuersätze – eventuell auch die Steuereinnahmen – so weit, dass auch die politisch, ökonomisch, oder administrativ "teuersten" Arten von Kapitaleinkommen in die Einkommensteuer einbezogen werden können. Dies führt zwangsläufig zu einer reduzierten Steuerprogression, insbesondere am oberen Ende der Einkommensskala, weil es praktisch unmöglich ist, alle Kapitaleinkommen mit hohen (Spitzen-)Steuersätzen zu belegen. Andererseits verteidigt diese Strategie jedoch die Idee der Gleichbehandlung.

Sehen wir uns die Auswirkungen dieser Strategie in der Praxis an. Neuseeland – das Steuermusterland der OECD – hat die Strategie Ende der Achtzigerjahre weitgehend umgesetzt (vgl. Ganghof 2001: 16-17, Dalsgaard 2001). Innerhalb weniger Jahre wurde der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer von 66 auf 33 Prozent gesenkt. Gleichzeitig wurde die Bemessungsgrundlage radikal verbreitert und vormals geschonte Arten von Kapitaleinkommen wurden in die progressive Einkommensteuer einbezogen. Das Ideal vollkommener Gleichbehandlung konnte freilich auch Neuseeland nicht erreichen. Insbesondere Veräußerungsgewinne und die "Erträge" aus selbst genutztem Wohneigentum blieben aus politischen und ökonomischen Gründen verschont. Nichtsdestotrotz ist Neuseeland weiter gegangen als jedes andere (OECD-)Land; sogar das Alterssparen, das in der Regel steuerlich stark privilegiert ist, wurde systematisch in die Einkommensbesteuerung einbezogen.

Der Preis der verbesserten "Gleichmäßigkeit" der Besteuerung war jedoch hoch. Von den Steuersenkungen haben fast ausschließlich die Besserverdiener profitiert (Toder/Himes 1992). Nach den Reformen war der Spitzensteuersatz von 33 Prozent schon ab dem Einkommensniveau eines durchschnittlichen Industriearbeiters fällig, so dass die Steuerprogression in der oberen Hälfte der Einkommensskala effektiv abgeschafft wurde. Gleichzeitig gibt es in Neuseeland keine Grundfreibeträge, so dass Einkommensteuern im Prinzip schon ab der ersten Mark fällig werden. Die Einkommensteuer verwandelte sich so fast in eine Proportionalsteuer (flat tax) mit einem niedrigen einheitlichen Steuersatz. Die damit einhergehende politische Krise kostete den Finanzminister und später auch den Premierminister das politische Amt (Chapman 1992). (3)

Die neuseeländische Erfahrung verweist auf die Grenzen einer Strategie, die "gleichmäßige Besteuerung" zum obersten oder alleinigen Steuerprinzip macht. Um (fast) alle Arten von Kapitaleinkommen in die Einkommensteuer einzubeziehen, muss sich die Einkommensteuer immer mehr auf eine Proportionalsteuer (flat tax) mit niedrigem Einheitssteuersatz hinbewegen. Sie besteuert dann im Extremfall zwar gleichmäßig, aber gerade nicht mehr entsprechend der persönlichen Leistungsfähigkeit.

Dies führt uns zur alternativen Grundstrategie: der so genannten dualen Einkommensteuer. Wenn viele Arten von Kapitaleinkommen ohnehin nur mit niedrigen Steuersätzen belegt werden können, wieso soll man dann Löhne und Arbeitseinkommen in einen gemeinsamen Rahmen zwängen? Warum trennt man nicht die beiden Steuerbereiche, um die Steuerprogression wenigstens dort zu verteidigen, wo dies möglichst ist: bei der Besteuerung von Löhnen.

Dies ist der Weg, den die nordischen Wohlfahrtsstaaten gegangen sind, insbesondere Schweden, Norwegen und Finnland. Diese Länder haben duale Einkommensteuern eingeführt, die (fast) alle Kapitaleinkommen mit einem einheitlichen proportionalen Steuersatz von unter 30 Prozent besteuern, Arbeitseinkommen dagegen progressiv mit hohen Spitzensteuersätzen von 50 Prozent oder mehr. Im Idealfall entspricht der Kapitalsteuersatz dabei dem Eingangssteuersatz der Einkommensteuer. (4)

Die nordischen Länder haben also für die Kapitalbesteuerung dieselbe Strategie der Gleichmäßigkeit verfolgt wie Neuseeland. Die Steuersätze wurden gesenkt, aber mehr Arten von Kapitaleinkommen wurden in die Besteuerung einbezogen. Dies hat die Effizienz der Investitionen und die Kapitalsteuereinnahmen erhöht. Gleichzeitig haben diese Länder aber die progressive Lohnbesteuerung – und damit eine wichtige Form vertikaler Gerechtigkeit – verteidigt. Gewiss, auch bei den Lohnsteuern haben die Skandinavier die absurd hohen Spitzensteuersätze von bis zu 80 Prozent radikal gesenkt und die Bemessungsgrundlage erweitert. Jedoch haben sie keinen Grund gesehen, die effektive Steuerentlastung überproportional den Besserverdienern zukommen zu lassen. Stattdessen haben sie die progressive Einkommensteuer gezielt genutzt, um ihre Staatshaushalte möglichst schnell zu konsolidieren und die Steuerentlastungen stärker dort zu konzentrieren, wo sie arbeitmarkspolitisch am wichtigsten sind: im Niedriglohnbereich. Die duale Einkommensteuer hat es etwa den schwedischen Sozialdemokraten Mitte der Neunzigerjahre erlaubt, auf die Wirtschafts- und Haushaltskrise nicht ausschließlich mit Ausgabenkürzungen zu reagieren. Der Spitzensteuersatz für hohe Lohneinkommen wurde von 51 auf 57 Prozent erhöht.

Die praktischen Vorzüge dualer Einkommensteuern sind also offensichtlich. Es erstaunt deshalb auch nicht, dass die duale Einkommensteuer immer mehr Anhänger gewinnt. Länder wie Österreich, Italien oder die Niederlande haben unterschiedliche Varianten der dualen Einkommensteuer eingeführt, und die OECD empfiehlt die Steuer als Option für so unterschiedliche Länder wie Japan, Neuseeland oder die USA. (5)

Die Widersprüche des neuen grünen Steuerideals

Die Analyse der beiden Grundstrategien erlaubt uns nun, die beiden zentralen Widersprüche des (neuen) grünen Steuerideals genauer zu benennen. Erstens kehren die grünen Finanzpolitiker die Kosten der Gleichmäßigkeits-Strategie unter den Teppich. Wenn sie ehrlich sind, wollen und können sie viele große Blöcke von Kapitaleinkommen gar nicht vollständig in die Einkommensbesteuerung einbeziehen. Zum Beispiel wollen die Grünen:

– einbehaltene Gewinne von Körperschaften nicht wie andere Einkommen besteuern, weil dies im Steuerwettbewerb nicht mehr möglich ist;

– sie wollen Zinsen nicht effektiv in die Einkommensbesteuerung integrieren, weil sie dies ohne bessere internationale Kooperation nicht können;

– sie wollen alle Arten von Veräußerungsgewinnen nicht wirklich voll integrieren, weil dies mit hohen administrativen und ökonomischen Kosten verbunden wäre;

– sie wollen die Erträge des Alterssparens nicht wie andere Arten des Sparens behandeln, weil dies der derzeitigen Rentenpolitik widerspräche und politisch explosiv wäre (vgl. Wiegard 2000).

Diese Kapitaleinkommen werden auch in Zukunft eine Sonderbehandlung erfahren. Wenn dies aber so ist, sind die verteilungspolitischen Auswirkungen der Gleichmäßigkeitsstrategie wesentlich ungünstiger, als die Grünen dies gern hätten (siehe z. B. Bork 2001), und die grüne Bevorzugung horizontaler Gerechtigkeit (Gleichmäßigkeit) gegenüber vertikaler Gerechtigkeit (Steuerprogression) ist wesentlich schwerer zu begründen. Andersherum betrachtet: Wenn die grünen Finanzpolitiker wirklich alle Kapitaleinkommen gleichmäßig in der Einkommensteuer erfassen wollen, bei welchem (Spitzen-)Steuersatz wird dies ihrer Meinung nach möglich sein: 35 Prozent, 25 Prozent oder noch weniger?

Dies führt zum zweiten Widerspruch der grünen Strategie: Nehmen wir an, die grünen Finanzpolitiker wollten langfristig tatsächlich einen (Spitzen-)Steuersatz von 35, 30 oder 25 Prozent und sie könnten mit der verbleibenden Sonderbehandlung einiger Arten von Kapitaleinkommen gut leben. Wäre die grüne Strategie dann schlüssig? Keineswegs. Die Reduzierung der Steuerprogression im Tausch gegen mehr Gleichbehandlung ist nur dann eine wirklich überzeugende Strategie, wenn die direkte Besteuerung von Arbeitseinkommen ausschließlich über die Einkommensteuer organisiert wird. Dies ist in Neuseeland der Fall, weil es dort keine Sozialabgaben gibt. Arbeit und Kapital werden also bei der direkten Besteuerung zumindest formal wirklich gleich behandelt.

In Deutschland ist dies jedoch ganz anders. Bei uns wird ein Großteil der Arbeits-"Besteuerung" über die Sozialversicherung organisiert. Wir haben also de facto schon lange eine duale Einkommensteuer, die Arbeit viel höher besteuert als Kapitaleinkommen. Unsere Einkommensteuereinnahmen sind nicht deshalb so niedrig, weil wir insgesamt wenig Steuern zahlen, sondern weil ein Großteil der Arbeitssteuerlast in der Sozialversicherung "versteckt" ist. Nur deshalb können sich unsere Steuertheoretiker überhaupt den Luxus erlauben, über die ideale Einkommensteuer mit niedrigen Sätzen zu philosophieren. Nur deshalb ist ein Spitzensteuersatz von 35 Prozent überhaupt realistisch. Zum Vergleich: Für ein Land wie Dänemark, das seinen beschäftigungsfreundlichen Sozialstaat vor allem über Steuern finanziert, ist eine Einkommensteuer mit differenzierten Steuersätzen ein Muss. Denn dort müsste auch der Steuersatz einer völlig proportionalen Einkommensteuer (flat tax) etwa 45 Prozent betragen (Nielsen/Frederiksen/Lassen 1999). Er wäre also höher als der in Deutschland angepeilte Spitzensteuersatz und damit viel zu hoch für einen Großteil der Kapitaleinkommen.

Damit kommen wir zurück zum internationalen Vergleich. Will man Äpfel mit Äpfeln vergleichen, so sollte man am besten die Steuersätze auf Arbeit vergleichen, d. h. Einkommensteuer und Sozialabgaben. Solch ein Vergleich zeigt einerseits, dass der deutsche Spitzensteuersatz keineswegs so weit unter dem der nordischen Länder liegt wie die attac-Kritiker zu glauben scheinen. Er zeigt andererseits aber auch, dass die Steuerlast in Deutschland in der oberen Hälfte der Einkommensskala zunehmend ungerecht verteilt ist. Das Ideal der Gleichmäßigkeit hat – im Einklang mit dem Steuerwettbewerb – dazu geführt, dass sich die Steuerlast von Durchschnitts- und Spitzenverdienern in Deutschland kaum noch unterscheidet. Dies gilt besonders dann, wenn man auch berücksichtigt, dass die Sozialabgaben aufgrund der Beitragsbemessungsgrenzen am oberen Ende der Einkommensskala sogar regressiv sind. Der Unterschied zwischen Deutschland und den nordischen Ländern liegt also schlicht darin, dass unsere duale Einkommensteuer ungerechter und weniger transparent ausgestaltet ist. Dass dies sinnvolle grüne Steuerpolitik ist, kann bezweifelt werden.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht hier keineswegs um die Frage, ob die Steuerlast insgesamt zu hoch oder zu niedrig ist, sondern wie eine gegebene Steuerlast verteilt werden soll. Anders formuliert: Was ist angesichts enger finanzpolitischer Spielräume vordringlich: die Entlastung der Besserverdienenden oder doch die der Geringverdiener, der Familien oder der zukünftigen Generationen? Wenn die grünen Finanzpolitiker die zweite Option bevorzugen, sollten sie ihre steuerpolitischen Glaubenssätze ernsthaft überprüfen. Es spräche dann viel dafür, einen größeren Teil des Steueraufkommens durch die Einkommensteuer zu gewinnen. Die Einkommensteuer ist der zentrale strategische Ansatzpunkt, um Gerechtigkeitserwägungen in möglichst effizienter Art und Weise in die Steuerpolitik einfließen zu lassen. Mit "gleichmäßiger" Besteuerung – also ohne eine Differenzierung von Steuersätzen – werden höhere Einkommensteuereinnahmen und eine gerechtere Verteilung der Einkommensteuerlast allerdings kaum erreichbar sein.

Differenzierung von Steuersätzen?

Ich plädiere also dafür, dass die Grünen die duale Einkommensteuer – oder eine andere Form systematisch differenzierter Einkommensteuern (Lang 2001) – ernsthaft diskutieren. Ein Gegenargument lässt sich leicht antizipieren: Das Bundesverfassungsgericht sei gegen jegliche Differenzierung von Steuersätzen innerhalb der Einkommensteuer, und da das Gericht Vetomacht besitzt, könne eine duale Einkommensteuer in Deutschland nicht ernsthaft angestrebt werden.

Dieses Argument ist zweifellos bedeutsam. In der Tat wird die steuerpolitische Diskussion in Deutschland – mehr als in irgendeinem anderen Land der Welt – von verfassungsrechtlichen Argumenten dominiert; und dies gilt auch für die Diskussion über die "Spreizung" von Steuersätzen. Das Argument führt trotzdem in die Irre, weil Gerichte deliberative Institutionen sind (Rawls 1992: 231-36). Die Position des Verfassungsgerichts für oder gegen eine bestimmte Steuerpolitik ist nicht in Stein gemeißelt. Im Gegensatz zu Parteien müssen Gerichte ausführlich gute Gründe für ihre Präferenzen anführen, auch in der Steuerpolitik. Eine Differenzierung von Steuersätzen kann ohne weiteres durch Gemeinwohlerwägungen gerechtfertigt werden (siehe z. B. Bundesfinanzhof 1999). Die Frage ist lediglich, welches die steuerpolitischen Strategien sind, die das Verfassungsgericht als Gemeinwohl fördernd anerkennt. Dies ist jedoch keine verfassungsrechtliche, sondern eine ökonomische Frage, bei der sich das Gericht als lernfähig erweisen muss. Gerade angesichts der Dominanz des Gerichts muss es deshalb die Aufgabe politischer Parteien sein, mit guten Gründen eine eigene Position zu formulieren, statt sich im vorauseilenden Gehorsam der herrschenden Meinung der Steuerrechtler anzupassen.

Bei den Sozialdemokraten und im Bundesfinanzministerium wird seit längerem über systematische und effiziente Formen der Differenzierung innerhalb der Einkommensteuer diskutiert, damit es endlich aufhört, dass der Steuerwettbewerb – insbesondere bei der Körperschaftsteuer – den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer immer weiter "herunterzieht". Es ist zu hoffen, dass die grünen Finanzpolitiker zu dieser Debatte in Zukunft mehr beitragen als die Forderung nach "gleichmäßiger Besteuerung". Sachgerecht wäre dies jedenfalls.

 

Fußnoten:

1

Hinzu kommt, dass der Spitzensteuersatz in Deutschland auf den gesamten Tarifverlauf ausstrahlt. Wird der Spitzensatz gesenkt, muss in der Regel auch die Einkommensschwelle vorgezogen werden, damit die Einnahmeausfälle der Steuersenkungen für den Fiskus zu verkraften sind. Senkungen des Spitzensteuersatzes begünstigen deshalb hohe Einkommen viel stärker als mittlere.

2

Präziser müsste man "Durchschnittssteuersätze" (Steuerlast/Gesamteinkommen) sagen. Um Steuerprogression zu erreichen, müssen die nominellen Steuersätze nicht unbedingt mit zunehmendem Einkommen steigen. Auch ein einheitlicher Steuersatz (flat rate) mit einem persönlichen Grundfreibetrag führt zu steigenden Durchschnittssteuersätzen und damit zu "indirekter" Steuerprogression.

3

Erst vor kurzem hat die linke – von den Grünen tolerierte – Minderheitsregierung die Idee strikter "Gleichmäßigkeit" aufgegeben. Der Spitzensteuersatz (für die einkommensstärksten 5 Prozent der Steuerzahler) wurde auf 39 Prozent erhöht, um neue Regierungsprojekte zu finanzieren.

4

Zu den weiteren Charakteristika idealer dualer Einkommensteuern sowie einer ausführlichen Diskussion ihrer praktischen Vor- und Nachteile siehe vor allem Sørensen (1994) und Cnossen (1999).

5

Umso erstaunlicher ist es, dass die duale Einkommensteuer in der deutschen Diskussion weitgehend tabuisiert wird. Duale Einkommensteuern stellen einen pragmatischen Mittelweg dar zwischen reinen Einkommensteuern, welche die Kapitaleinkommen wie Arbeitseinkommen besteuern, und reinen Konsumsteuern, welche das Gros der Kapitaleinkommen unbesteuert lassen. Über diese beiden unerreichbaren Idealtypen wird in Deutschland seit Jahrzehnten mit Eifer und den immer gleichen Argumenten gestritten; der in der Praxis erprobte Mittelweg wird dagegen weitgehend ignoriert.

Literatur

Bork, Christhart (2001): "Verteilungswirkungen des Karlsruher Entwurfs zur Einkommensteuerreform", in: Wirtschaftsdienst 81, S. 480-488

Bundesfinanzhof (1999): Beschluss vom 24. Februar 1999 – X R 171/96

Bündnis 90/Die Grünen (2002): grün 2020. Wir denken bis übermorgen. Grundsatzprogramm. Beschlossen auf der 18. ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz, 15. bis 17.3.2002, Berlin

Chapman, Robert (1992): "A Political Culture Under Pressure: The Struggle to Preserve a Progressive Tax Base for Welfare and the Positive State", in: Political Science 44, S. 1-27

Cnossen, Sijbren (1999): "Taxing Capital Income in the Nordic Countries: A Model for the European Union?", in: Finanzarchiv 56, S. 18-50

Dalsgaard, Thomas (2001): The tax system in New Zealand: an appraisal and options for change. Economics department working papers no. 281, Paris: OECD

Ganghof, Steffen (2001): Global Markets, National Tax Systems, and Domestic Politics: Re-balancing efficiency and equity in open states’ income taxation, Cologne: MPIfG Discussion paper 9/01; http://www.mpi-fg-koeln.mpg.de/people/ga/

Hettich, Walter/Stanley L. Winer (1999): Democratic Choice and Taxation. A Theoretical and Empirical Analysis, Cambridge: Cambridge University Press

Lang, Joachim (2001): "Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen", in: Iris Ebling (Hrsg.): Besteuerung von Einkommen, Köln: Otto Schmidt, S. 49-133

Nielsen, Soren B./Niels Kleis Frederiksen/David Dreyer Lassen (1999): "Would the Flat Tax Fall Flat in Denmark?", in: Torben M. Andersen/Svend E. Hougaard Jensen (Hrsg.): Macroeconomic Perspectives on the Danish Eonomy, London: Macmillan, S. 106-133

OECD (2001): Revenue Statistics 1965-2000, Paris: OECD

Rawls, John (1992): Political Liberalism, New York: Columbia University Press

Sørensen, Peter Birch (1994): "Form the Global Income Tax to the Dual Income Tax: Recent Tax Reforms in the Nordic Countries", in: International Tax and Public Finance 1, S. 57-79

Tetlock, Philip E. (2000): "Coping with Trade-Offs: Psychological Constraints and Political Implications", in: Arthur Lupia et al. (Hrsg.): Elements of reason: cognition, choice, and the bounds of rationality, Cambridge: Cambridge University Press, S. 239-263

Toder, Eric/Susan Himes (1992): "Tax Reform in New Zealand", in: Tax Notes International (August 17)

Wiegard, Wolfgang (2000): "Nachgelagerte Besteuerung von Alterseinkünften: Das trojanische Pferd der Befürworter einer Konsumsteuer", in: IFO Schnelldienst 53, S. 8-12