Eine Dosis Erfahrung

Gedanken über den Nationalismus auf dem Balkan

Ernst Köhler

Das Jahrzehnt der jugoslawischen Kriege hat viele Gesichter des Nationalismus gezeigt, das seiner ethnozentrischen Deformationen ebenso wie das seiner demokratischen Leistungen. Hat sich unser Umgang mit dem Nationalismus seither verändert, fragt Ernst Köhler. Sind es wirklich immer nur "die anderen"? Gehen wir differenzierter mit ihm um, untersuchen wir den jeweils gemeinten, oder setzen wir alle Nationalisten, ob serbische, kroatische, albanische oder makedonische, einfach gleich mit derselben abwertenden Konnotation, die zur Schablone erstarrt? Werden solche starre Formeln der Analyse der konkreten Welt gerecht?

Im Interview mit Alain Finkielkraut kritisiert der französische Philosoph, dass durch den Gerichtshof in Den Haag Politik durch Recht ersetzt wird. "Gleiches Recht für alle" setze nämlich das Unrecht des Aggressors mit dem Unrecht des Überfallenen gleich – daraus könne keine wirkliche Gerechtigkeit entspringen. Ob Nationalismus, ob Recht, derselbe Begriff für verschiedene Sachverhalte vereinfacht zwar die Darstellung, verfälscht aber die Wirklichkeit.

 

Man könnte ebenso auch von einer Dosis Theorie sprechen, die uns gut täte; denn was den Nationalismus angeht, so scheint sich unser Common Sense gleichermaßen gegen die Erfahrung und gegen die Theorie zu sperren. Wir verfügen anscheinend bereits über ein sattes Erfahrungswissen – zumal in Deutschland. Und in der alten Angst vor Überwältigung, Pauperisierung und Untergang scheinen wir längst die wichtigste Ursache für die nationalistische Anfälligkeit ausgemacht zu haben. Das Problem damit ist nur, dass weder unser Erfahrungswissen noch unsere Sozialpsychologie der politischen Beweglichkeit oder Lernfähigkeit einer unter dem Bann des Nationalismus stehenden Gesellschaft auch nur annähernd gerecht werden. Wir sehen etwa, dass die slawische Mehrheit und die albanische Minderheit Mazedoniens nationalistisch empfinden, denken und agieren. Wir begreifen auch, warum. Und jetzt begreifen wir natürlich ebenfalls, warum sich die Mehrheit und die Minderheit unter dem Druck des Westens und in der Aussicht auf eine Annäherung an die EU geeinigt haben – vorläufig wenigstens. Wir begreifen gnadenlos einfach alles: nämlich dass die Mazedonier in einer hermetischen Welt der Bedrohung, der gefährdeten Selbstbehauptung und der Feindseligkeit kreisen. Und dass sie diese Welt unter Umständen auch verlassen können. Mit anderen Worten: Wenn sich irgendwo einmal die politische Vernunft durchsetzt –, ansatzweise versteht sich, atmen wir erleichtert auf. Und stornieren unseren neunmalklugen Nationalismusbegriff – um ihn bei nächstbester Gelegenheit erneut hervorzuholen. Der Nationalismus bleibt, was er ist. Es scheint, wir haben ihn zwischendurch auf Eis gelegt.

Der Unangemessenheit oder Inaktualität unseres Urteils ließe sich vielleicht mit den folgenden drei Testfragen auf die Spur kommen: Gibt es darin Raum für die Allgegenwärtigkeit des Nationalismus? Bringen wir die Integrität und Courage auf, uns die fortdauernde Verbindung von Nationalismus und Demokratie einzugestehen – statt sie etwa in der Epoche der großen Revolution zu versenken oder sie in die Dritte Welt zu verschieben? Wieweit sind wir bereit oder in der Lage, in jenen – nationalistisch mobilisierten – Massen die Personen auszumachen, aus denen sie sich unweigerlich zusammensetzen? Beginnen wir mit dem letzten Punkt – mit einem Blick auf die konkreten Menschen in einer jeden nationalistisch formierten Massengefolgschaft. Im Sommer und Spätsommer 1992 macht der amerikanische Journalist Peter Maass in Bosnien die Bekanntschaft von zwei jungen Serben. Den ersten spricht er in einer Wohnanlage in Banja Luka an: "Der junge Mann trug eine runde Brille im John Lennon-Stil, die ihm ein intellektuelles Aussehen verlieh, und ich fragte ihn, ob er Englisch spreche. Ja. Er hatte gerade die Oberschule beendet, sein Name war Boris, ein guter serbischer Name, und sein Englisch war recht gut ... In einem nachlässigen Wie-ist-das-Wetter-Ton stellte ich eine sensible Frage. ‚Was denkst du über den Krieg?‘ Er zuckte die Achseln, als hätte ich eine Frage gestellt, die jeder mit einem normalen Intelligenzquotienten beantworten konnte. ‚Das serbische Volk ist verführt worden. Sie haben keine Ahnung, was los ist. Sie sehen, was sie sehen wollen, oder was andere wollen, dass sie sehen. Ich glaube, es ist ganz schön krank.‘ Er war achtzehn Jahre alt, und das bedeutete, dass er bald eingezogen würde. ‚Was wirst du tun, wenn die Armee ruft?‘, fragte ich. Er zuckte erneut mit den Schultern. Noch so eine blöde Frage. ‚Ich werde zur Armee gehen. Immer noch besser als im Gefängnis sitzen‘ ..."

Der andere junge Mann ist Zelja, ein Heckenschütze Mitte zwanzig. Er hatte in Sarajevo gelebt und dort einen kleinen Export-Import-Handel betrieben. Peter Maass trifft ihn in den Schießstellungen oberhalb Sarajevos. "Als der Kampf begann, ließ er sich von der serbischen Armee anheuern ... Er schien nicht wild darauf, an der Zerstörung seiner Heimatstadt teilzunehmen, doch er befolgte Befehle. Es war ein Job geworden, und er versuchte zu vermeiden, darüber nachzudenken. Die Menschen als Ziel seines Gewehrfeuers waren Abstrakta, und das mussten sie auch sein, weil einige seine Freunde oder serbische Kameraden waren, die in Sarajevo zurückgeblieben waren. Darunter sein Vater und seine Mutter ... Jeden Augenblick konnten die ‚Türken‘ die Berge stürmen, die Zelja und seine Kollegen ‚verteidigten‘. Sarajevo musste von diesen Türken befreit werden, und das bedeutete, dass man es zerstören oder die Türken zwingen musste, es aufzugeben oder die Teilung der Hauptstadt hinzunehmen (ebenso wie die des Landes). Zelja war offenbar zu gescheit, als dass er diese Parteivorgabe ganz geschluckt hätte, aber sie lieferte ihm eine plausible Entschuldigung, die es leichter machte, den Job zu verkraften. Einfach schießen, nicht nachdenken ... Als er erfuhr, dass einer der Journalisten von der BBC war, schrieb er einen kurzen Brief und bat, er möge einem serbischen Freund ausgehändigt werden, der in London arbeitete. Ich habe darauf gelinst, als wir uns verabschiedeten ... Der Brief enthielt folgende Zeilen: ‚Ich schieße von der Front. Ich bin so blöde geworden wie eine leere Cognacflasche‘..." (Die Sache mit dem Krieg, München 1997)

Nehmen wir einmal an, Boris und Zelja stünden nicht für eine verschwindende Minderheit, sondern für ein quantitativ gewichtiges Segment der bosnisch-serbischen Bevölkerung zu Beginn des Krieges in Bosnien. Sogleich stellt sich die kühle Frage: Ja, und? Wir müssen uns in der Tat eingestehen, dass es nichts Tröstliches hat. Boris passt gewiss nicht in das Bild des Nationalisten, der seine Seele dem Nationalismus verschrieben hat. Dafür ist bei ihm der Faden zwischen Einsicht und Handeln gerissen. Dann Zelja. Er tut längst, was Boris demnächst tun dürfte. Aber auch seine politische Haltung ist um einiges gebrochener, reflektierter, als der gängige Diskurs über Nationalismus und nationalistische Politik wahrhaben möchte. Wenn wir jedenfalls über die neuen Nationalismen Ost- und Südosteuropas reden, scheinen wir in der Regel vergessen zu wollen, was wir uns in der "Alltagsgeschichte" des Dritten Reiches mühsam erarbeitet haben. Der Wert der zitierten Passage bei Peter Maass liegt gerade darin, dass sie den Umgang des Kämpfers mit sich selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Man zögert, den Mann als einen Überzeugungstäter zu bezeichnen. Wahrscheinlich war er ganz zu Anfang des Krieges einer. Aber inzwischen ist seine Befindlichkeit umgeschlagen. Man kann schlecht sagen, dass die Ideologie ihn im Griff hätte. Umgekehrt ist er es, der die Ideologie im Interesse seines inneren Gleichgewichts instrumentalisiert. Es handelt sich um eine Strategie der Selbstberuhigung, Selbstbetäubung, Selbstimmunisierung, wie wir sie im Prinzip auch aus den besseren Studien über das Verhalten der deutschen Soldaten in Polen oder in der Sowjetunion kennen. Der Preis für diese Sorte von Virtuosität oder Gewaltsamkeit in der Handhabung schleichender Bedenken und Selbstzweifel scheint im Fall dieses jungen Serben eine wachsende innere Leere zu sein.

Aber wo liegt die Pointe? Für den Krieg, auch den Vernichtungskrieg, reicht es doch allemal. Die persönliche Kompliziertheit oder Labilität des individuellen Soldaten hat noch kein Kriegsverbrechen verhindert. Alle Mörder sind kompliziert. Und dass sie sich mit sich selbst herumschlagen müssen, mindert ihre Verfügbarkeit nicht im Geringsten. Wo also läge der Nutzen einer solchen Mikroskopie? Sie könnte ein Korrektiv sein – ein Ansatz zur Entzauberung der Macht. Aber dazu darf sie keine Mikroskopie, keine bloße Alltagsforschung bleiben. Sie müsste sich in eine ganz neue Aufmerksamkeit für politische Konjunkturverläufe einbringen – denn es scheint jeweils die Erfolgskurve von Macht und Herrschaft im Großen, die sich uns am hartnäckigsten entzieht. Die Erosion des Mullah-Regimes im Iran musste sich erst in Wahlen manifestieren, ehe sie hierzulande auch nur bemerkt wurde. Ein Slobodan Milosevic musste gestürzt werden, bevor unsere Medien wirklich zu glauben vermochten, dass seine Macht über die Serben gewisse Risse zeigte. Das NATO-Bombardement von 1999 hat die Position des Diktators endgültig zerrüttet – für die allermeisten unserer Kommentatoren hat es sie umgekehrt nahezu unantastbar gemacht. Es ist eine Frage der Logik. Herrschaft ist in dieser Sicht ein einziger Triumph, bis sie verschwindet; Manipulation ein voller Erfolg, bis sie definitiv scheitert. Und wenn ein Regime schließlich dann doch wider Erwarten und vor aller Augen zu Bruch geht, sucht der machtfixierte Halbrealismus sich flugs ein anderes, das er wieder ungestört dämonisieren kann. Hinterher aufgearbeitet wird das Fehlurteil so gut wie nie. Es scheint sich da um eine profunde Unbelehrbarkeit zu handeln – selbst eine Epoche machende Zäsur wie den wiederum von kaum jemandem vorausgesehenen Zusammenbruch des Sozialismus scheint sie unbeschadet überdauert zu haben.

Wenn man den Zerfall einer politischen Bewegung oder eines Regimes nicht versteht, versteht man auch ihren Aufstieg oder ihr Momentum nicht. Und da wir länger leben als die meisten Regime, haben wir ja auch glücklicherweise öfter einmal die Gelegenheit, den Aufstieg im Lichte des Zerfalls zu betrachten. Der serbische Para-Staat in der kroatischen Krajina war schon entvölkert, als die kroatische Armee ihn schließlich im Sommer 1995 liquidierte. Der Vertreibung der serbischen Bevölkerung war ein primär ökonomisch motivierter Exodus vorausgegangen. Die Ernüchterung oder Demoralisierung kam lange vor der militärischen Niederlage. Aber das Projekt eines "ethnisch gesäuberten" Staates im traditionell unterentwickelten Hinterland von Dalmatien war überhaupt ein solcher Irrsinn, dass man sich fragt, wieso es jemals eine Massenbasis gewinnen konnte. Die Bedingungen dafür sind bekannt und inzwischen auch gut erforscht – man muss sie nur ernst nehmen und nicht im bengalischen Bild eines sich immer wieder aus sich selbst heraus erneuernden, gleichsam vulkanischen Nationalismus untergehen lassen. Unser Zelja sitzt nicht immer nur auf einem Berg bei Sarajevo. Er glaubt auch in Knin nicht unbesehen alles, was man ihm einzureden versucht. Und hier ist er nicht so isoliert – er hat die Chance, sich mit seinen Bekannten über die Situation zu verständigen. Das Fernsehen ist ihnen keine Hilfe, und auch über eine vernünftige Zeitung verfügt der Kreis nicht. Aber über einen Zugang zum Internet vermutlich. Desinformation, Druck und Terror greifen schon ein bisschen weniger stark, wenn man mit anderen reden kann und sich nicht ganz verlassen fühlt. Die riskante Entscheidung sich abzusetzen reift vielleicht früher.

Es geht hier nicht um eine Neuauflage der "Geschichte von unten". Aber auch die gute alte politische Geschichte kommt nicht ohne Neugier für die vielschichtige, verwickelte und oft genug widersprüchliche Interessenlage der breiten Bevölkerung des jeweils beobachteten Staates aus. Massenhafte Unzufriedenheit und Frustration sind freilich noch nicht der Umbruch. Massenhafte Militärdienstverweigerung und Desertion schon gar nicht – auch das hat die Entwicklung Serbiens in den Neunzigerjahren in Erinnerung gerufen. Damit es hier zum Machtwechsel kommen konnte, mussten bekanntlich einige zusätzliche Faktoren ins Spiel kommen: eine Opposition, die sich endlich auf einen politisch unverbrauchten und populären Gegenkandidaten einigen konnte. Und im Moment des Handelns dann der Einfluss Vojislav Kostunicas auf die Führung der Armee und Zoran Djindjics auf die Führung der Polizei. Die Figur Kostunicas stand und steht dabei, wie inzwischen sogar dem französischen Staatspräsidenten deutlich geworden sein sollte, nicht etwa für den Bruch mit dem großserbischen Nationalismus, sondern nur für den Verzicht auf Gewalt und Krieg. Den Ausschlag hat aber gegeben, dass sich der serbische Nationalismus aus einer regimetreuen oder "totalitären" Kraft in eine Kraft des demokratischen Widerstandes verwandelt hat – wie er es übrigens unter und gegen Tito schon einmal getan hatte. Ein Dobrica Cosic, Koautor der berüchtigten Akademieschrift und in den Achtzigerjahren so etwas wie der "pater patriae" Serbiens, hat im Laufe seiner langen politischen Karriere abwechselnd beide Varianten verkörpert – immer schön eines nach dem anderen und vermutlich immer mit dem besten Gewissen. Man muss noch einen Schritt weitergehen und sich an den Rand einer heillosen Paradoxie wagen: Selbst der Aufstieg und die Machtergreifung Slobodan Milosevics sind letztlich nur im osteuropäischen Kontext von "1989" zu begreifen – das heißt vor dem Hintergrund einer machtvollen Sehnsucht großer Teile der serbischen Gesellschaft, den Kommunismus endlich auch im eigenen Land loszuwerden. Man erinnere sich nur an die neue Rhetorik der "antibürokratischen Revolution" – etwa an die ungewohnt volkstümliche Sprache Miroslav Solevics im Kosovo, die diesen Wunsch abfangen sollte. Die großen, trägen Massendemonstrationen in Nis und anderswo wirkten auf den fremden Beobachter noch immer durch und durch "stalinistisch". Für die Teilnehmer selbst enthielten sie wohl das Versprechen eines billigen Neuanfangs – ohne brutalen Bruch, ohne das ganze Risiko und auf Kosten anderer. Der typische serbische Nationalist des ausgehenden 20. Jahrhunderts versteht sich selbst als Demokraten, und es ist nicht einmal ein Selbstmissverständnis. Der katastrophale Irrtum oder Fehlversuch mit Milosevic war vielen schon sehr bald bewusst – der Massenaufstand vom Oktober 2000 hatte mehrere gescheiterte Vorläufer (1991, 1997). Und dann muss Demokratie ja auch nicht unbedingt etwas mit Toleranz, Liberalität, Rechtsstaatlichkeit und der Respektierung von Minderheiten zu tun haben. Demokratie kann eisig partikularistisch sein, Demokratie kann rassistisch sein – und ist immer noch Demokratie. Ein serbischer Nationalist fordert die demokratische Freiheit für die eigene Nation, nicht für andere, möglicherweise zutiefst verachtete Nationen neben oder unter der serbischen. Die serbische Demokratiebewegung hat den Diktator entmachtet, weil er das serbische Volk verraten und ins Unglück gebracht hat. Die Verbrechen gegen die anderen zählen bis heute wenig oder nichts. Die Serben sind das Opfer, das Leid der anderen zählt nicht. Aber auch die Eigenverantwortung der serbischen Gesellschaft für ihren Niedergang scheint bislang kein Thema. Allein Milosevic und seine Clique sind es gewesen – wir kennen diesen Mechanismus der Selbstentlastung nur allzu gut aus der bundesdeutschen Frühzeit und dann wieder von der Wende. Demokratie setzt offenbar nicht selten mit einem würdelosen Lamento ein.

Auch der kroatische Nationalismus hat sich inzwischen grundlegend neu orientiert. Es sollte uns eigentlich heute leichter fallen, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aber mindestens ein Tabu gibt es noch: die Tatsache nämlich, dass der Nationalismus die Kraft hinter der Befreiung des Landes von der kommunistischen Parteidiktatur war. Und hinter der Selbstverteidigung Kroatiens gegen die serbische Aggression – man musste im Sommer 1991 nur in West- und Ostslawonien sein, um die geradezu revolutionäre Entschlossenheit und Kampfbereitschaft der Massen zu spüren. Franjo Tudjman war hier nicht der anerkannte Führer, sondern der dubiose Machtpolitiker – immer gut für eine heimliche Absprache mit dem Feind. Man kann sich die befremdliche Situation weiter verdeutlichen, indem man sich nach der Rolle der liberalen Intelligenz im Kroatien des Umbruchs fragt: Sie hat gar keine gespielt. Sie war hier wie überall in Jugoslawien zufrieden mit dem, was sie hatte: Die ihr gewährten beträchtlichen kulturellen Spielräume und Privilegien genügten ihr vollauf, an der Durchsetzung von politischer Demokratie war sie nicht ernsthaft interessiert. Das ist einer der Unterschiede zur Lage in Ostmitteleuropa ein Jahrzehnt früher, wie sie uns von Timothy Garton Ash geschildert worden ist. Im Kroatien der Krise von 1990-1991 war weit und breit allein der Nationalismus demokratisch.

Es war kein liberaler oder "zivilgesellschaftlich" orientierter Nationalismus – wie er es vielleicht hätte sein können, wären nicht zwanzig Jahre früher die viel versprechenden Ansätze des "Kroatischen Frühlings" massiv abgewürgt worden. Und hätte sich nicht seit mehr als zwei Jahrzehnten der Schwerpunkt der Macht mehr und mehr – und nach Titos Tod dann endgültig – auf die kommunistischen Oligarchien der einzelnen jugoslawischen Republiken verlagert, die damit auch die jeweilige "nationale Frage" besetzen konnten. Das hat in Kroatien wie anderswo der alten politischen Klasse die Chance gegeben, auch wieder die neue zu sein. Entscheidend war aber die bedrohliche politische Offensive Belgrads. Im April 1990 hat auch das gebildete Zagreb für Tudjman und seine HDZ gestimmt. Man wusste in diesen Kreisen durchaus, wer Tudjman war. Aber man sah sich genötigt, erst einmal einen Klotz gegen einen Klotz zu setzen. Spätestens 1993 war Zagreb dann vergiftet vom Ungeist einer widerlichen Hetze gegen die bosnischen Muslime. Die jakobinisch inspirierten Kämpfer von 1991 waren längst abserviert, und die Befreiung des kroatischen Territoriums von der serbischen Besetzung sah sich auf unbegrenzte Zeit verschoben. Und das nicht etwa aus militärischer Schwäche, wie kürzlich Martin Spegelj – 1991 Kommandant der hastig aufgestellten kroatischen Truppen – dargelegt hat. Die kroatische Armee war auch 1995 nicht stärker oder besser ausgerüstet, als sie es 1992 war. Hinter der jahrelangen Untätigkeit steckte vielmehr ein politisches Projekt: die Verlagerung aller Kräfte nach Bosnien, die Eroberung Bosnien-Herzegovinas und seine Aufteilung zwischen Großserbien und Großkroatien.

Ziehen wir eine erste Bilanz: Von den Nationalisten, die uns bislang begegnet sind, passt kein einziger ins Schema – nicht die mazedonischen Albaner, die bei ihrem erbitterten Kampf um eine volle Staatsbürgerschaft dennoch nicht jedes Maß verlieren und ihre Extremisten schließlich zurückpfeifen; nicht die slawischen Mazedonier, die notgedrungen oder aus wohlverstandenem Eigeninteresse von ihrem Staatsbegriff und Herrschaftsanspruch abzulassen beginnen; nicht die bosnischen Serben, die zwar tun, was man von ihnen verlangt – aber ohne rechten Fanatismus; nicht die kroatischen Serben, die das bizarre und ruinöse Abenteuer der "Serbischen Republik Krajina" schon sehr bald satt haben; nicht die Serben Serbiens, die schon seit langem auf den überfälligen Systemwechsel warten und schließlich den endlosen politischen Advent doch beenden; nicht die kroatischen Patrioten und Freiheitskämpfer von 1991, die nichts mit der schmutzigen Politik Tudjmans zu tun haben, ihr andererseits aber auch wenig entgegenzusetzen wissen. Wenn aber partout niemand ins Schema passen will, sollte man es möglicherweise überdenken: Es akzentuiert einseitig die an sich unbestreitbare Anlage des Nationalismus zu Extremismus und Gewalt – dass ein Nationalismus sich auch in die entgegengesetzte Richtung entwickeln könnte, ist nicht vorgesehen. In aller Schärfe nimmt man die ethnozentrische Deformation wahr – die demokratische Leistung bleibt hingegen unbeachtet. Das Interesse an der Entstehungsgeschichte und am politischen Kontext einer konkreten nationalistischen Ideologie ist unterentwickelt – so, als ob nicht auch die Menschenrechte unter genau diesen Rahmenbedingungen durchgesetzt werden müssten. Woher haben wir das Denkmuster überhaupt? Aus unserer eigenen Geschichte oder vielmehr "Vergangenheitsbewältigung"? Das würde seine Rigidität erklären. Wir sprächen in Wahrheit gar nicht über den Balkan, wenn wir über den Balkan sprechen – sondern über uns und unser Selbstverständnis. Wir würden einmal mehr unsere Kultur der Erinnerung zelebrieren. Es gibt freilich bei uns inzwischen auch ganz andere, gelöstere Haltungen – so hat das glücklich vereinigte Deutschland bekanntlich ein gewisses Verständnis für das Unabhängigkeitsstreben Kroatiens aufgebracht. Und die Freude über den Belgrader "Oktober" war echt. Unser begriffliches Instrumentarium scheint davon unberührt zu bleiben. Nicht einmal die allgemeine Beobachtung, dass moderne Menschen –"Personen" – sich nur begrenzt und temporär manipulieren lassen – und immer nur, wenn es ihren eigenen Erfahrungen und Ängsten, Absichten und Illusionen entgegenkommt, vermag es aufzunehmen. Dabei hat gerade die NS-Forschung diese Einsicht schlagend bestätigt und unsere Vorstellung von der "totalen Herrschaft" mit der Zeit von Grund auf revolutioniert. Wie versteinert steht der Nationalismusbegriff im Raum –, ein Fetisch, ein Menetekel eher als ein heuristisches Hilfsmittel.

Empirie allein kommt offenbar nicht an gegen die konzeptionelle Starre. Wir brauchen heute noch eine ganz andere Anstrengung: Wir müssen die Erfahrung mit dem jüngsten Engagement des Westens auf dem Balkan auf unser Verständnis des Nationalismus durchschlagen lassen – denn die Erfahrung ist dem Verständnis um einiges voraus. Und andersherum: Die inzwischen hoch entwickelte Nationalismustheorie muss auf die Analyse unserer Balkanpolitik einwirken – denn die Theorie ist der politischen Analyse davongelaufen. Das ist die Gelegenheit, einen weiteren Kandidaten der großen Bewerbung um Anerkennung und Fairness vorzustellen: den Nationalismus der Kosovo-Albaner. Der Westen hat im Fall des Kosovo-Konflikts seine Fehler in den früheren Phasen des Jugoslawienkrieges nicht wiederholt. Er hat sich diesmal auf die Seite des Angegriffenen gestellt und – unter Führung der Vereinigten Staaten – nach einigem Zögern anerkannt, dass 1997 die überwältigende Mehrheit der kosovarischen Albaner hinter der UCK stand, einschließlich der Anhänger Ibrahim Rugovas. Nicht einmal die Terroranschläge der UCK waren noch imstande, dem Kampf den Charakter und die Legitimität eines nationalen Befreiungskampfes zu nehmen. Inzwischen scheint das alles wieder in Vergessenheit geraten zu sein – schon die täglichen Fernsehbilder von den albanischen Flüchtlingen im Jahre 1999 hatten die hochpolitisierten Massen in die üblichen unschuldigen Opfer verwandelt. Den Rest haben uns dann die Nachrichten von den Gewalttaten gegen die im Kosovo verbliebene serbische Minderheit und von der Massenvertreibung der Roma gegeben. Jetzt waren also die unschuldigen Opfer, von deren Schicksal wir uns hatten ergreifen lassen, doch nur wieder die üblichen Täter. Und wir waren wieder dort, wo wir angefangen hatten: bei unserem Nationalismusbegriff. Er ist ein Zwilling oder ein Derivat des orthodoxen Menschenrechtsverständnisses und verweigert sich beharrlich der Tatsache, dass ein nationaler Befreiungskampf die Menschenrechte auf das Schwerste verletzen kann – und doch ein nationaler Befreiungskampf bleibt.

Er ist in diesem Fall ja auch noch nicht abgeschlossen. Die Gefahr einer von den Großmächten erzwungenen Rückkehr des Kosovo unter die Kontrolle des serbisches Staates ist noch keineswegs gebannt – ganz im Gegenteil: mit dem jüngsten Abkommen zwischen Serbien und Montenegro ist sie wieder ein Stück näher gerückt. Man ahnt, dass diese Politik scheitern muss. Keine einzige ihrer Voraussetzungen ist überzeugend: nicht die Perspektive der Versöhnung zwischen Serben und Albanern; nicht der weltweit anerkannte Vorrang des Friedens vor der Gerechtigkeit; nicht die sicherheitspolitische Logik des drohenden Dominoeffekts; nicht der Respekt des kleinen Balkanvolkes vor dem politischen Willen der Großmächte; nicht die ganz Ost- und Südosteuropa beherrschende pragmatische Priorität einer Annäherung an die EU; nicht der Anachronismus des kleinen Nationalstaats im Zeitalter der Globalisierung. Man spürt intuitiv, dass die Albaner unbeirrbar auf ihrem Nationalstaat bestehen werden und jeden Preis dafür zu zahlen bereit sind. Anthony Lake, vormals höchster Sicherheitsberater der Clinton-Administration, hat kürzlich geschrieben: Entweder wir geben ihnen ihren Staat oder wir bleiben auf ewig im Kosovo.

Der praktische Nutzen, den die Theorie in diesem Zusammenhang stiften könnte, läge im Vorfeld eines bewussten Verzichts auf jede Bevormundung. Zu erinnern wäre hier vor allem an zwei innovative, um nicht zu sagen: häretische Denkansätze der letzten Jahrzehnte: Einmal hat man das sozialpsychologische Paradigma des Nationalismus aufgegeben oder doch stark relativiert. Es war bis dahin absolut dominant gewesen und hatte mit seinen abwertenden Konnotationen immer besser für die "anderen", für die Peripherie, für den Balkan gepasst als für uns selbst. Jetzt sieht sich der Nationalismus erstmals ohne Abstriche als ein unverzichtbares Kernelement einer jeden funktionstüchtigen Industriegesellschaft anerkannt. Keine moderne gesellschaftliche Arbeitsteilung ohne landesweit vereinheitlichtes Bildungssystem, und keine nationale Schule ohne nationalen Staat (Ernest Gellner, 1983). In unserem speziellen Fall ist der Nationalismus nicht zuletzt ein kollektiver Bildungsanspruch. Und es ist nicht zu sehen, wie es ohne Nationalismus überhaupt hätte gehen sollen – wie also die Jugend ohne nationalistische Politik und ohne nationalistische Militanz zu ihrem Recht auf eine angemessene Schulbildung hätte kommen sollen: Man denke nur an den kosovo-albanischen Schattenstaat der Neunzigerjahre und seine Schulen – die Schulen waren das Wichtigste für den Untergrund. Auch für die Albaner Mazedoniens gehört die Gleichberechtigung im gesamten Schulsystem und die albanischsprachige Universität seit langem zum Kernbestand ihrer Forderungen, die sie nach Möglichkeit im existierenden Staat, zur Not aber auch in der Abspaltung von ihm durchzusetzen entschlossen sind. Der Konflikt war übrigens schon im sozialistischen Jugoslawien aufgebrochen, und auch damals gab es schon Tote.

Und noch auf andere Weise hat man den Nationalismus vom Odium der Rückständigkeit oder "Ungleichzeitigkeit" befreit: über die Wiederentdeckung des veritablen nationalen Separatismus selbst inmitten einer so hoch entwickelten Zivilgesellschaft wie der kanadischen (Quebec). Als eine authentische Form oder Dimension menschlicher Selbstbehauptung steht der Nationalismus nicht zur Disposition. (Will Kymlicka, 1997) Man hat für das defensive, aber unbeugsame und nicht weiter hinterfragbare Verlangen nach nationaler Autonomie – im Falle andauernder Nichtanerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft bis hin zur Sezession und Eigenstaatlichkeit – den Begriff des "liberalen Nationalismus" gebildet. (Yael Tamir, 1993) Danach bräuchten also die Kosovo-Albaner – wie alle anderen Völker in vergleichbarer Lage – ihren Nationalismus gerade, weil sie Anschluss an das in West- und Mitteleuropa erreichte Niveau von Modernität zu finden suchen. Und in dieser Sicht werden sie alle auch dann noch nationalistisch sein, wenn sie einmal das Glück und die Sicherheit einer voll entfalteten Zivilgesellschaft genießen.

 

Literatur

Gellner, Ernest (1991): Nationalismus und Moderne, Berlin: Rotbuch Verlag (englische Originalausgabe 1983)

Kymlicka, Will (1999): Multikulturalismus und Demokratie. Über Minderheiten in Staaten und Nationen, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt/Rotbuch Verlag (amerikanische Originalausgabe 1997)

Maass, Peter (1997): Die Sache mit dem Krieg. Bosnien von 1992 bis Dayton, München: Knesebeck

Tamir, Yael (1993): Liberal Nationalism, Princeton, New Jersey: Princeton University Press