Ereignisse & Meinungen

"Mein Freund Arafat"

Redaktion: Balduin Winter

Im Nahen Osten steht man, buchstäblich, vor Trümmern. Dschenin droht wieder zu einem Symbol zu werden. "Heute behaupten Palästinenser", so die SZ am 17.4., "Ariel Scharon habe im Flüchtlingslager Dschenin abermals ein Massaker verschuldet. ... Schon jetzt aber sammeln Menschenrechtsorganisationen wie die palästinensische ‚LAW‘ in Ramallah und die israelische ‚Adala‘ (Gerechtigkeit) in Haifa Beweise für israelische Kriegsverbrechen. Ariel Scharon begründet sein brutales Vorgehen mit den palästinensischen Selbstmordattentaten, denen in wenigen Wochen mehr als 120 israelische Zivilisten zum Opfer fielen. Die Hintermänner der Morde – Hamas-, Dschihad- und Al-Aksa-Führer – mussten wissen, dass ein Mann wie Ariel Scharon vermutlich so handeln würde wie einst Menachem Begin in Deir Jassin und wie Scharon selbst in Beirut." Der israelische Schriftsteller Amos Oz dementiert in einem Gespräch die Gerüchte um ein Massaker (FAZ, 16.4.). Zunächst berichtet er von engen Freunden, die beim Einsatz in Dschenin erlebt haben, dass palästinensische Kämpfer Zivilisten als "menschliche Schutzschilde" benutzt haben sollen. Eine ähnliche Nachricht gab es allerdings auch vom Generaldirektor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Paul Grossrieder, der die Eingriffe in die humanitäre Hilfe am 11.4. durch die israelische Armee scharf angriff und auch vom "Missbrauch von PRC-Fahrern [palästinensischer Roter Halbmond] als menschliche Schutzschilde" sprach (SZ, 13.4.). Oz meint weiters, dass der Massakervorwurf auf gezielte Desinformation hinauslaufe, "denn die palästinensischen Kämpfer wurden entweder getötet oder gerieten in Kriegsgefangenschaft. Ich glaube nicht, dass die Palästinenser auch nur einen Augenzeugen haben, der ein Massaker bestätigen könnte." Erklärungsbedürftig ist freilich, weshalb Teile des Lagers mit Bulldozern niedergemacht wurden ohne nach Menschen zu schauen. "An manchen Stellen sind die Schuttberge drei Stockwerke hoch", sagte der Sprecher des UN-Hilfswerkes für Palästina-Flüchtlinge, René Aquarone (Le Monde, 19.4.). Bilder, wenn auch von schlechter Qualität, existieren aus der Zeit der Kämpfe. Al-Djazeera hatte offensichtlich Leute im Lager, denn Bilder wurden sowohl in den arabischen Medien als auch auf der Homepage des Senders präsentiert. Avi Primor, ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland wiederum betonte in Veto, einer Sendung des WDR am 21.4., von Massaker könne keine Rede sein, die israelische Armee sei nur zum Schutz der eigenen Leute ähnlich vorgegangen, wie es auch die Amerikaner bei der Terroristenbekämpfung machen. Primor ist einer, der der Politik Scharons kritisch gegenübersteht.

Schon vor der jüngsten israelischen Okkupation sprach der Jerusalemer Geschichtsprofessor Moshe Zimmermann von einem "Gefälle der Gewalt" und einer "Fortsetzung der Talfahrt" (SZ, 2.4.): Endzeitvisionen fungieren "als Ersatz für ernsthaftere Diagnosen der Ursachen dieses Teufelskreises. Eine besonnene Betrachtung ist aussichtslos, weil die Mehrheit in Anlehnung an die radikalen Lager für Gegenargumente taub ist. Dabei achtet niemand auf die Feinheiten der historischen Prozesse. Es wird pauschal und radikal diskutiert. Die israelische Rechte ist mehr denn je davon überzeugt, dass die Wurzel allen Übels in den Osloer Abkommen steckt. Deren Befürworter werden daher als ‚Oslo-Verbrecher‘ gebrandmarkt. Bei der Mehrheit der Palästinenser verbreitet sich dagegen die Ansicht, die Ursache des Problems sei die Präsenz von Juden im Nahen Osten überhaupt." Auf die Radikalisierung beider Seiten hat Moshe Zuckermann (siehe Kommune 4/2002) in einer Rede in Leipzig bereits im Oktober 2001 hingewiesen, als er von den Gruppen sprach, die gegen den Friedensprozess wirken: "Das sind auf der einen Seite die fundamentalistischen Kräfte auf der palästinensischen Seite – aber das sind auch, und davon redet man auch hier in Europa viel zu wenig, nicht im minderen Maße die fundamentalistischen Kräfte auf der israelischen Seite." (www.puk.de/phase-zwei/Phase2.03/texte/...) Und er fährt fort: "Unter der radikalisierten palästinensischen Öffentlichkeit verbreitet sich die Bereitschaft, zum Selbstmordattentäter zu werden und den wahllosen Terror gegen Juden zu befürworten. Vom rechten Flügel der israelischen Politik ausgehend, findet dagegen die Idee des ‚Transfers‘ der Araber aus Palästina zunehmend Akzeptanz. Nahezu die Hälfte der jüdischen Israelis befürwortet den ‚Transfer‘ von Arabern aus den besetzten Gebieten, nahezu ein Drittel auch den ‚Transfer‘ der Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft, eine Haltung, die mit der Unterstützung harter militärischer Maßnahmen gegen Palästinenser einhergeht." Eine Haltung, die den israelischen Parlamentsabgeordneten Azmi Bishara, ein israelischer Palästinenser, schon vor Jahren zur Aussage veranlasste (zitiert nach Moshe Zuckermann): "Israel kann nicht beides haben wollen: Will es ein demokratischer Staat sein, das heißt ein Staat all seiner Bürger, kann es kein Judenstaat mehr sein. Will Israel aber nur ein Staat der Juden sein, kann es schlechterdings keine Demokratie sein."

In der zweiten Märzhälfte, die militärischen Vorbereitungen für die Okkupation sind im Gange, trifft sich der Schriftsteller Marek Halter zu Gesprächen mit Scharon, Arafat und dem US-Sonderbeauftragten Zinni. Halter kennt Scharon seit über dreißig Jahren, der Umgang ist fast freundschaftlich, er kann es sich leisten, unangenehme Fragen zu stellen. Etwa, dass nicht nur die palästinensischen Kamikaze, sondern auch israelische Bomben Unschuldige töten. Scharon erwidert: "Deshalb schlage ich ja einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen vor. Ich habe in meinem Leben zu viele Tote gesehen, um nicht den Wert eines menschlichen Lebens zu kennen. Ich verstehe die Notwendigkeit von Frieden besser als die Politiker, die davon reden, die aber nicht dasselbe wie ich erlebt haben." (Die Welt, 2.4.) Und an sein Wahlversprechen erinnert: "Glauben Sie, dass Sie vor Ablauf Ihrer Amtszeit in einem Jahr Frieden erreichen können?", antwortet er sehr vorsichtig mit einem "Vielleicht". Relativiert seine Antwort gleich: "Leider erlaubt der Hass, der sich zwischen Palästinensern und Israelis angestaut hat, keine normalen Beziehungen. Wir müssen schrittweise vorgehen." Über sein Vorgehen resümiert Fareed Zakaria in der Newsweek am 22.4.: "Sharon ist der erste führende israelische Staatsmann, der zu verstehen gibt, dass hier niemals ein palästinensischer Staat benötigt wird. ... Als er letzten Januar bei einem Interview über den von ihm abgelehnten Abriss der Siedlungen als Teil eines Friedensplans befragt wurde, sagte er unverblümt: ‚All die Siedlungen werden bleiben, wo sie sind, basta!‘" Der Kommentator gibt zu bedenken, dass entgegen seines Wahlversprechens und internationaler Vereinbarungen Sharon seit seinem Regierungsantritt 34 neue Siedlungen hat bauen lassen. Marwan Barghouti, kürzlich festgenommener al-Fatah-Generalsekretär, erinnert in der Zürcher WoZ (18.4.) daran, "dass wir Palästinenser den Staat Israel auf 78 Prozent unseres Landes anerkannt haben. Es ist Israel, welches das Recht Palästinas, auf den restlichen 22 Prozent zu existieren, nicht anerkennt." Eines fällt freilich bei allen Stellungnahmen auf, ob bei Marek Halters Gesprächen mit Sharon und Arafat, bei Barghouti und anderen führenden Köpfen: Die eindeutige Schuldzuweisung zur anderen Seite hin: Hier lenkt keiner auch nur eine Handbreit ein. Ein Tiefpunkt in Halters Gespräch ist es, wenn Sharon mit der Wendung "mein Freund Arafat" aufwartet.

Obwohl neue Friedensvorschläge auf dem Tisch liegen – Absprachen mit Washington, europäische Vermittlungsangebote, der saudische Friedensplan von Prinz Abdullah auf der Beiruter Konferenz, Joschka Fischers Ideenpapier, Bushs Erklärung vom 5. April, Powells Mission – sind die Fronten völlig festgefahren. Um zu einem Frieden zu gelangen, müsste verhandelt werden. Doch die jeweiligen Verhandlungsführer haben große Probleme. Vielleicht verfolgen sie auch ganz andere Pläne. Jordanien hat zum Beispiel seine Grenze militärisch massiv gesichert aus Angst vor einer palästinensischen Massenflucht aus den Westbanks, sozusagen vor einer "spontanen" Transferaktion, die, wie Moshe Zimmermann angedeutet hat, beträchtliche Unterstützung in der israelischen Bevölkerung hätte. Eine weitere Flüchtlingsaufnahme jedoch, so ein Kommentator von al Djazeera, "könnte das politische System des Landes vor unlösbare Probleme stellen". Umgekehrt sah der Hamas-Führer, Scheich Yassin, "das Massaker an Juden während des Sederabends als angemessene Antwort auf die Bereitschaft der Arabischen Liga, Israels Existenz anzuerkennen" (SZ, 2.4.). So stellt sich die Lage auch für die israelischen Bürger dar: Die islamistischen Terrororganisationen als derzeit entscheidende militärische Kraft auf palästinensischer Seite, die die Eskalation auch entscheidend zugespitzt haben, sind kein ernst zu nehmender Verhandlungspartner, da sie das Existenzrecht Israels schlichtweg ablehnen.

"Wir würden sehr gerne Truppen ins Land kommen sehen", sagte der palästinensische Minister für internationale Zusammenarbeit, Nabil Schaath bei einem Besuch bei Außenminister Joschka Fischer (taz, 19.4.). Dazu hat sich Condoleezza Rice tags zuvor jedoch unmissverständlich in einem Interview geäußert: "Wir sehen das nicht. So eine Truppe ist überhaupt nicht auf unserem Radarschirm, eine Truppe wie im Kosovo etwa. Wir haben – sollten die Bedingungen stimmen – Beobachter angeboten, die einen Waffenstillstand begleiten können." (SZ, 17.4.) Eine Absprache dieser Art hat es wohl auch mit Sharon gegeben, der den Vorschlag einer UNO-Truppe brüsk zurückgewiesen hat. Andererseits findet die US-Administration nur beschränkt Geschmack an Arafat als Verhandlungspartner: "Der Vorsitzende der palästinensischen Autonomie-Behörde ist der Vorsitzende – das akzeptieren wir. Als politisches Vorbild hat er sich nicht besonders hervorgetan", verteilt Rice Zensuren. "Zur politischen Führung gehört schließlich, den Terror zu verurteilen und zu beenden. All dies schafft Arafat nicht. Wir werden ihn deshalb weiter unter Druck setzen." Und auf die Frage, warum er gerade jetzt diese Erwartungen erfüllen soll: "Wir erwarten lediglich, dass er sich bemüht. Es darf keine Situation geben, in der Mitglieder der palästinensischen Verwaltungsbehörde in eine Waffenlieferung aus dem Iran verwickelt sind. Die Vorstellung ist falsch, Arafat könne dagegen nichts unternehmen. Er sollte die Dinge kontrollieren, über die er die Kontrolle hat."

Denn laut Avi Primor wären die Israelis "zu den weitestgehenden Zugeständnissen bereit, könnten sie davon überzeugt werden, dass sie einen ehrlichen Gesprächspartner haben, der ihnen einen glaubwürdigen Frieden und Sicherheit gewährleistet" (taz, 15.4.). Primor meint, dass die USA aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt wegen des Scheiterns von Bush sen. und Clinton, sich heraushalten und erst aus speziellen Gründen sich um Verhandlungen bemühen werden – dann nämlich, wenn der Einsatz gegen den Irak spruchreif wird, von dem Rice betont, derzeit lägen "keine militärischen Pläne auf dem Schreibtisch des Präsidenten". Die Europäer können nicht viel bewegen, weil, so Primor, "sie noch immer keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik haben. Auch die Vereinten Nationen und das heutige Russland können ohne die USA nichts bewegen." Bewegen könnte nur eine "Macht" etwas: "Die israelische Bevölkerung. Die Frage, ob die Israelis bereit wären, den Palästinensern Zugeständnisse zu machen, die palästinensischen Gebiete und die Siedlungen zu räumen und einen Palästinenserstaat anzuerkennen, bejahen in den Meinungsumfragen etwa 70 Prozent der Befragten."