Von anderen Ländern lernen?

Institutionen und ökonomische Entwicklung in Deutschland, USA und den Niederlanden

Ronald Schettkat

Kann international vergleichende Forschung Befunde über den Einfluss von Institutionen auf wirtschaftliche Entwicklungen liefern? Unser Autor bejaht die Frage und stellt einen Vergleich zwischen den wirtschaftlichen Entwicklungen der USA, den Niederlanden und Deutschlands an. Nach dem Abgleich vergleichbarer Daten zeigt sich: Die Niederlande führen bei den Sozialleistungen deutlich, Deutschlands Arbeitslose sind wesentlich besser qualifiziert als jene der USA und ein Faktor in einem Land sagt noch nichts über eine positive Wirkung in einem anderen Land aus. Denn letztlich kommt es auf den spezifischen Mix von Institutionen und Ökonomie an.

Können Länder voneinander lernen? Kann international vergleichende Forschung Befunde über den Einfluss von Institutionen auf wirtschaftliche Entwicklungen liefern? Im Prinzip ja, aber leider basieren international vergleichende Studien häufig auf einem zu einfachen Analysemodell: Aus Abweichungen in den Werten einer abhängigen Variablen zwischen zwei Ländern wird geschlossen, dass diese mit institutionellen Unterschieden – häufig sogar mit einer spezifischen Institution – zu "erklären" sind. Tatsächlich ist die Wirkungsweise von Institutionen weder theoretisch noch empirisch eindeutig geklärt und die Hürden für verlässliche international vergleichende Forschung sind hoch, sie beginnen mit vergleichbar definierten Datenbasen und reichen über die Kontrolle relevanter exogener Variablen bis hin zum "richtigen" Verständnis der jeweiligen institutionellen Regelungen.

Sozialstaatliche Institutionen haben nach der gängigen Hypothese die Gleichgewichtsarbeitslosigkeit – oder, inzwischen etwas altmodisch, die NAIRU(1) – erhöht. Die institutionellen Strukturen der europäischen Sozialstaaten – sowohl bei Transfers wie auch bei Steuern und Abgaben – vermindern danach die Anreize zur Arbeitsaufnahme, komprimieren zusammen mit kollektiven Lohnverhandlungen die Lohnstruktur und vernichten so Arbeitsplätze insbesondere im unteren Qualifikationssegment (Lohnkompressionshypothese). Zu hohe Löhne "preisen" geringer qualifizierte Arbeitnehmer aus Beschäftigung hinaus, weshalb eine stärkere Lohndifferenzierung – wie etwa in den USA – als Mittel zur Integration geringer qualifizierter Arbeitnehmer empfohlen wird.

In den USA wie auch in den Niederlanden liegen die aktuellen Arbeitslosenquoten bei stabilen und niedrigen Inflationsraten erheblich unter den noch vor wenigen Jahren als strukturell (NAIRUs) klassifizierten Arbeitslosenquoten. In den USA entstanden aus dieser Entwicklung erhebliche Zweifel am theoretischen Konzept der NAIRU, zumindest aber an der Verlässlichkeit der NAIRU-Schätzungen(2), denn in den USA lassen sich keine institutionellen Änderungen ausmachen, die eine substanziell niedrigere NAIRU erklären könnten (Katz/Krueger 1999). Die Arbeitslosenquote der Niederlande liegt noch unter der US-Quote und die holländischen Beschäftigungsgewinne übertreffen die der USA, aber die Niederlande sind dennoch ein typischer europäischer Wohlfahrtsstaat. Allerdings hat es in den Niederlanden zahlreiche institutionelle Veränderungen gegeben: das Arbeitslosengeld wurde gemindert, die Zumutbarkeitsbedingungen wurden verschärft, der Abschluss von befristeten Beschäftigungsverhältnissen wurde erleichtert. Alles institutionelle Änderungen, die eine sinkende NAIRU erwarten lassen und durchaus mit der holländischen Arbeitsmarktentwicklung im Einklang stehen. Vergleicht man aber das Regulierungsniveau und die Generosität der Sozialleistungen in den Niederlanden mit denen in der Bundesrepublik, zeigt sich, dass diese nahezu ausnahmslos über denen der Bundesrepublik liegen, was Erklärungen der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland mit institutionellen Rigiditäten kaum plausibel macht.

Meine Forschungsstrategie sieht an dieser Stelle folgendermaßen aus: Ich nehme die USA und die Niederlande als Vergleichsländer zur Bundesrepublik. Die USA, weil sie in der Regel als unregulierte Ökonomie mit einem flexiblen Arbeitsmarkt eingestuft werden und somit einen "Benchmark-Case" bilden, was insbesondere für die überaus populäre Lohnkompressionshypothese zutrifft. Die Niederlande sind vor allem deshalb interessant, weil sie ein typischer europäischer Wohlfahrtsstaat sind, mit hohen Steuern, hohen Lohnersatzleistungen, ausgeprägtem Kündigungsschutz, geringer Ungleichheit et cetera, aber dennoch im Beschäftigungszuwachs – nicht im Niveau – die USA überholt haben. Die Niederlande sind der Bundesrepublik institutionell sehr ähnlich und können deshalb eher Hinweise auf implementierbare Politiken liefern als die USA, die in vielerlei Hinsicht anders sind als europäische Staaten. Ich werde zunächst die jeweiligen nationalen institutionellen Arrangements, die in erster Linie als Begründung für Arbeitsmarktrigiditäten genannt werden (Lohnverhandlungssysteme, Kündigungsschutz, Steuer- und Transfersysteme), einander gegenüberstellen und gehe dann auf den Zusammenhang von Lohnstruktur und Qualifikationsstruktur im USA-Europa-Vergleich ein und diskutiere das holländische Jobwunder. Abschließend werde ich mich der Frage widmen, ob die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und den Niederlanden plausibel mit institutionellen Unterschieden zu erklären ist oder ob nicht vielmehr der makroökonomische Mix aus Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik den Unterschied im Beschäftigungstrend beider Länder erklären kann.

Institutionen und Anreize zur Arbeitsaufnahme

Lohnverhandlungen Faktisch besteht in den Niederlanden seit etwa Ende der Siebzigerjahre Tarifautonomie und gesetzlich seit 1986. Zuvor konnte die Regierung ins Tarifgeschehen eingreifen und es gab eine automatische Preisanpassung der Löhne (Scala Mobile), die erst 1986 definitiv aufgegeben wurde. Tariflöhne werden in den Niederlanden als allgemein verbindlich erklärt und im Laufe der Achtzigerjahre hat sich die Verhandlungsebene vom zentralen Niveau auf die Industrieebene verlagert, was die Holländer als Dezentralisierung der Lohnverhandlungen bezeichnen. Tarifverhandlungen sind in den Niederlanden der Neunzigerjahre ungefähr so organisiert wie in der Bundesrepublik.(3) Die beiden europäischen Länder stehen damit natürlich im Gegensatz zu den USA, wo der gewerkschaftliche Einfluss gering ist und Lohnverhandlungen nahezu ausschließlich auf der Betriebs- oder Unternehmensebene stattfinden. In den Niederlanden wie in Deutschland gelten Tarifverträge für einen weit größeren Teil als nur die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer. Dieses vergrößert einerseits den Einfluss der Gewerkschaften, aber es schwächt sie auch, denn die Tarifverträge kommen ja nun auch den nicht organisierten Arbeitnehmern zugute und reduzieren den Anreiz zur Mitgliedschaft. Insbesondere an der Allgemeinverbindlichkeit wird kritisiert, dass sie einer beschäftigungsfördernden Lohndifferenzierung entgegenwirkt, aber sie führt natürlich auch dazu, dass die Gewerkschaften die makroökonomischen Konsequenzen ihrer Lohnpolitik internalisieren, was positive Beschäftigungseffekte zeitigen kann. Zudem tragen betriebliche Lohnfindungsverfahren Konflikte in die Unternehmen und sie können "Insider-Outsider-Verhalten" verstärken.

Die USA wie die Niederlande kennen einen gesetzlichen Mindestlohn, der in den Achtzigerjahren in beiden Ländern real deutlich gefallen ist, der in den Niederlanden aber noch immer rund 58 Prozent des Durchschnittslohnes beträgt und damit deutlich über dem US-Minimumlohn liegt (34 %). In Deutschland etabliert die soziale Sicherung eine Mindestlohnforderung, die den Wirkungen des Minimumlohnes vergleichbar ist. Legt man Sozialhilfe inklusive der Wohngeldzahlungen für einen Single zugrunde, so beträgt die daraus abzuleitende Mindestlohnforderung rund 32 Prozent und liegt somit ungefähr auf dem Niveau des US-Minimumlohnes (Freeman/Schettkat 1998).

Kündigungsschutz Nach den Angaben der OECD (1999) besteht in den USA so gut wie kein Kündigungsschutz – weder für reguläre noch für befristete Beschäftigung, was ein krasser Unterschied sowohl zu Deutschland als auch zu den Niederlanden ist. Insbesondere für reguläre Beschäftigung ist der Kündigungsschutz in Holland unverändert hoch und nach den OECD-Angaben Ende der Neunzigerjahre nur in Portugal ausgeprägter. Entlassungen müssen in den Niederlanden nach wie vor von den Arbeitsämtern genehmigt werden, wenngleich auch ein schnellerer, aber teurerer Entlassungsweg über die Arbeitsgerichte eröffnet wurde (Hassink 1998). Insgesamt ist der Kündigungsschutz in den Niederlanden aber sehr viel restriktiver als in der Bundesrepublik.(4) Erleichtert wurde in Holland der Abschluss befristeter Arbeitsverträge, aber auch in Deutschland hat das Beschäftigungsförderungsgesetz von 1986 und seine Verlängerungen den Abschluss befristeter Beschäftigung erleichtert, was aber nach den Ergebnissen verschiedener Studien offenbar kaum zu positiven Beschäftigungswirkungen geführt hat.(5) Mit dem "Flex-Gesetz" von 1999 wurden in den Niederlanden die Rechte der bei Zeitarbeitsunternehmen beschäftigten Personen gestärkt.

Steuern, Abgaben, Transfers So wie die Amerikaner Europa gern als einen einheitlichen Sozialstaat betrachten, so sehen wir die USA als Staatenbund mit einheitlichen Regelungen, aber tatsächlich bestehen zwischen den einzelnen Staaten enorme Unterschiede in Bezug auf arbeitsmarktrelevante Regulierungen (Krueger 2000). Die Minimumlöhne können von der "Federal Rate" nach oben abweichen und die Sozialleistungen und Arbeitslosenversicherung sind in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich ausgestaltet.(6)

Die Steuern und Abgaben differieren für Niedriglohnbezieher erstaunlich wenig zwischen den einzelnen US-Staaten und Deutschland, sind in den Niederlanden aber deutlich höher. Sie nehmen überall mit dem Einkommen zu und sind in Texas und California am niedrigsten, aber in New York den Werten der Bundesrepublik vergleichbar. In allen Einkommensbereichen weisen die Niederlande die höchsten Werte auf. Lohnt sich die Arbeitsaufnahme? Die Beantwortung dieser Frage hängt natürlich wiederum vom erzielbaren Lohn und vom Familienstand ab, weil mit der Arbeitsaufnahme möglicherweise Wohngeldzahlungen et cetera vermindert oder ganz gestrichen werden. Generell gilt, dass mit der Höhe des Lohnes der Anreiz zur Arbeitsaufnahme zunimmt, der lediglich bei tariflichem Mindestlohn bei einem Einverdienerehepaar mit 2 Kindern in Deutschland negativ ist. Abgesehen von diesem Fall bieten die Niederlande keine stärkeren Anreize zur Arbeitsaufnahme als die Bundesrepublik. Bei den Lohnersatzleistungen der Arbeitslosenversicherung sowie der Arbeitslosenhilfe zeigen sich ganz ähnliche Zusammenhänge: Die Niederlande sind nahezu ausnahmslos generöser als die Bundesrepublik. Die Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit sind in den Niederlanden zwar reduziert worden, liegen aber auch nach 60 Monaten Arbeitslosigkeit in nahezu allen Fällen noch über denen in der Bundesrepublik. Dieses zeigt, dass nicht nur "Push"-, sondern auch "Pull"-Faktoren bei der Erklärung der niederländisch-deutschen Beschäftigungsunterschiede von Bedeutung sind.

Lohnstruktur und Qualifikation

In hohen Mindestlöhnen und einer geringen Lohnspreizung werden häufig die "Wurzeln der europäischen Beschäftigungsprobleme" identifiziert (z. B. Siebert 1997). Zweifellos streuen die individuellen Löhne in Europa weniger als in den USA(7), aber interessant ist die Frage nach dem Warum, denn auch die Spreizung der Qualifikationen ist in den USA deutlich höher als in Deutschland oder in den Niederlanden. Dieses wird durch den üblichen Indikator für Qualifikationen – formale Bildungszeiten – verdeckt, denn diese haben in den USA einen höheren Mittelwert und streuen weniger als in Deutschland (Freeman/Schettkat 2000). Die Verwendung formaler Bildungszeiten als Indikator für Qualifikation setzt voraus, dass ein Schuljahr in den USA die gleichen Qualifikationen generiert wie in Holland oder Deutschland. Tatsächlich sind die Bildungssysteme aber sehr unterschiedlich in Bezug auf Lernintensität, Schuldauer, Qualifikationen der Lehrer, Motivation der Schüler et cetera. Die OECD hat zusammen mit Statistics Canada eine international vergleichbare Erhebung arbeitsplatzrelevanter Qualifikationen durchgeführt. Dieses ist die erste vergleichbare Qualifikationserhebung unter der erwachsenen Bevölkerung, und sie zeigt deutlich unterschiedliche Verteilungen zwischen den USA und den europäischen Ländern, aber sehr ähnliche Verteilungen in Deutschland und den Niederlanden. Es sind weniger die Mittelwerte als vielmehr die Streuung, die sich insbesondere am unteren Ende der Qualifikationsskala in den USA deutlich von der in Europa unterscheidet.

Detaillierte Analysen (Freeman/Schettkat 2000) haben ergeben, dass bis zu 35 Prozent der stärkeren Lohnstreuung in den USA im Vergleich zur Bundesrepublik auf eine stärkere Streuung der Qualifikationen zurückgeführt werden kann. Das untere Dezil der Bevölkerung in Deutschland (in Deutschland geborene wie auch im Ausland geborene Bürger) erreicht Qualifikationswerte (247), die eher denen des durchschnittlichen Amerikaners (Median 274) als denen der gering qualifizierten Amerikaner gleichen (das untere Dezil in den USA erreicht nur Werte von rund 150). Freeman und Schettkat (2000) finden zudem auf Basis der Comparative-German-American-Structural-Database (CGAS, vgl. Freeman/Schettkat 1998), dass die Lohnstruktur im oberen Qualifikationsbereich in Deutschland deutlich komprimierter ist als in den USA, dass aber im unteren Qualifikationssegment die "returns to education" in Deutschland höher sind als in den USA.

Die Lohnrelationen reproduzieren sowohl im oberen wie auch im unteren Einkommensbereich die bekannte, sehr viel stärkere Lohnspreizung in den USA. Dort ist die Qualifikationsspreizung in der unteren Hälfte des Arbeitsmarktes sehr viel höher als in Deutschland oder den Niederlanden, und fast doppelt so hoch wie die Qualifikationsspreizung bei den amerikanischen Beschäftigten. Dieses Ergebnis ist mit der Lohnkompressionshypothese nicht vereinbar, die ja konstatiert, dass die höhere Lohnspreizung in den USA die Integration der geringer qualifizierten Arbeitnehmer in das Beschäftigungssystem ermöglicht, während die geringer qualifizierten Arbeitnehmer in den Niederlanden und in Deutschland aus Beschäftigung "hinausgepreist" werden, sich also im Arbeitslosenpool befinden müssten.

Diese Untersuchungen zeigen auf: Die amerikanischen Arbeitslosen haben deutlich geringere Qualifikationen als die amerikanischen Beschäftigen und es gelingt ihnen offensichtlich nicht, sich in Beschäftigung "hineinzupreisen", während die holländischen und deutschen Arbeitslosen in Bezug auf die Qualifikationen den Beschäftigten relativ ähnlich sind.

Dieser Befund steht im klaren Widerspruch zur Lohnkompressionshypothese und bestätigt die Ergebnisse von Steve Nickell und Brian Bell (1996) sowie Freeman und Schettkat (2000), dass die relative Arbeitslosigkeit der geringer Qualifizierten in Ländern mit "flexibler" Lohnstruktur keinesfalls niedriger ist als in Ländern mit "starrer" Lohnstruktur. Die Unterschiede in den Beschäftigungsquoten zwischen den USA und Deutschland sind denn auch nicht qualifikationsspezifisch, sondern generell in allen Qualifikationsniveaus festzustellen (Freeman/Schettkat 2000).

Das holländische Beschäftigungswunder: Miteinander von Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik

In den Niederlanden nahm Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre der ökonomische Problemdruck durch steigende Arbeitslosigkeit, rasant wachsende Staatsverschuldung und hohe Inflationsraten enorm zu. Die im Herbst 1982 gewählte erste Regierung Lubbers war, unterstützt durch die "Nederlandse Bank", bereit, einen restriktiven Konsolidierungskurs zur Sanierung der Staatsfinanzen einzuschlagen und in die Lohnverhandlungen einzugreifen. Der damalige Vorsitzende der niederländischen Gewerkschaften und heutige Ministerpräsident Wim Kok beschreibt die Situation so, dass den Gewerkschaften nur die Kooperation im Bereich der Lohnpolitik offen blieb, wenn sie weiterhin eine Rolle in der niederländischen Politik spielen wollten.(8) Es war also nicht allein das Harmoniebedürfnis der Niederländer, sondern die pragmatische Haltung zum Machbaren, die Ende 1982 zum mittlerweile berühmten Akkord von Wassenaar führte. In diesem Vertrag einigten sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände auf Maßnahmen zur Erhöhung des Beschäftigtenstandes, die zuvor in Grundzügen von der "Kommission Wagner" des "Social Economischen" Rates (SER) entwickelt wurden. Die drei Kernelemente des Wassenaar-Akkordes sind eine zurückhaltende Lohnpolitik, Arbeitszeitverkürzungen sowie eine aktive Arbeitsmarktpolitik zur besseren qualitativen Abstimmung von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage (ausführlicher: Schettkat/Reijnders 2000).

Der Akkord von Wassenaar markiert auch den Ausstieg des Staates aus der direkten Einflussnahme auf die Lohnpolitik und den Abschied von der "Scala Mobile", womit die Grundlage für die seit 1983 bestehende faktische Währungsunion von Gulden und DM geschaffen wurde. Die niederländische Zentralbank entschloss sich zu Beginn der Achtzigerjahre den Gulden an die DM als Ankerwährung zu koppeln, um so Preisstabilität zu erreichen. Die "Nederlandse Bank" gab eine eigenständige Geldpolitik auf und folgte seither unmittelbar den geldpolitischen Entscheidungen der Bundesbank. Der nominale Wechselkurs von Gulden zur DM blieb konstant und es kam zu einer deutlichen Annäherung auch der langfristig erwarten Zinsniveaus in beiden Ländern (Schettkat 1999), ein Indikator dafür, dass die Quasi-Währungsunion mit der DM ihren Finanzmarkteffekt erfüllte und Risikoaufschläge auf Gulden-Anleihen vermied. Bei konstantem nominalem Wechselkurs blieben die Lohnsteigerungen in den Niederlanden aber hinter denen der Bundesrepublik, dem Haupthandelspartner, zurück, was bei etwa gleichen Produktivitätssteigerungen der "Tradables" zu einer realen Abwertung des Gulden gegenüber der DM führte, die wiederum einen hohen Außenhandelsüberschuss, der in den Neunzigerjahren 6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichte, zur Folge hatte.(9)

Kritiker weisen darauf hin, dass in den Niederlanden die Beschäftigungszuwächse vor allem von so genannten "flexiblen Arbeitsverträgen" (überwiegend befristete Beschäftigungsverhältnisse) und Teilzeitarbeit getragen wird. In der Tat umfassen diese Kategorien rund 90 Prozent der Netto-Beschäftigungsgewinne und diese Jobs sind im Dienstleistungssektor konzentriert. Aus diesem Nettoergebnis kann aber keinesfalls geschlossen werden, dass Dienstleistungen nur marginale Teilzeitjobs hervorbringen, denn hinter den Aggregatgrößen bleibt eine erhebliche sektorale Dynamik der Beschäftigungsentwicklung verborgen. Im verarbeitenden Gewerbe gingen Vollzeitarbeitsplätze verloren, die jedoch durch Expansion von Vollzeitjobs in den "Dienstleistungen" überkompensiert wurden. Außer im öffentlichen Dienst entstehen in den Niederlanden mehr Vollzeit- als Teilzeitjobs (gemessen in Vollzeitäquivalenten).

Schlussfolgerungen

Die Niederlande haben ähnlich wie Deutschland die Lohnstruktur praktisch nicht verändert(10) und beide Länder haben eine sehr viel gleichmäßigere Lohnverteilung als die USA. Ein Vergleich der Qualifikationen zwischen den beiden europäischen Ländern und den USA auf Basis von "Literacy-Scores" statt auf Basis von formellen Bildungszeiten zeigt eine dramatisch andere Verteilung für die USA, insbesondere im unteren Qualifikationssegment. Durch das im Vergleich zu den USA hohe Qualifikationsniveau der europäischen Arbeitslosen sind die Erfahrungen des US-Niedriglohnsektors nur sehr bedingt auf die Bundesrepublik und die Niederlande zu übertragen. Der Vergleich von empirischen Lohn- und Qualifikationsrelationen steht im krassen Widerspruch zur Lohnkompressionshypothese.

Die Niederlande sind seit 1983 in einer "Quasi-Währungsunion" mit der DM und waren damit so sehr von der Geldpolitik der Bundesbank abhängig wie Deutschland selbst, weshalb Geldpolitik die Unterschiede in der Beschäftigungsexpansion nicht erklären kann. Die institutionellen Regelungen der Niederlande sind denen der Bundesrepublik sehr ähnlich und bieten keineswegs stärkere Anreize zur Arbeitsaufnahme. Deutliche Unterschiede zu Deutschland lassen sich zum einen bei der Arbeitszeitpolitik (vor allem bei der Teilzeitarbeit) und bei der Lohnpolitik ausmachen. Die außerordentlich zurückhaltende Lohnpolitik in den Niederlanden hat die Reallöhne seit 1983 um nur rund 10 Prozent steigen lassen, was bei nominaler Fixierung des Wechselkurses zur DM zu einer realen Abwertung des Gulden und in deren Folge zu einer starken Expansion der Nettoexporte führte. Unterstützt wurde die zurückhaltende Lohnpolitik durch die Steuer- und Abgabenpolitik, ein weiterer wichtiger Unterschied zur Bundesrepublik.

Es ist nicht klar, ob eine entsprechend zurückhaltende Lohnpolitik in der Bundesrepublik holländische Erfolge beschert oder zu Wechselkursreaktionen geführt hätte, aber das Bemerkenswerte der Niederlande ist, dass Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik zu einem Dreiklang gefunden und – anders als in Deutschland – Koordination der Politikbereiche statt Konfrontation die Szene beherrschte. Hierzu haben dann vielleicht doch spezifisch niederländische Institutionen beigetragen: Im "Social Economischen Rad" (SER) wie auch in der "Stichting van de Arbeid" beraten Arbeitgeber und Arbeitnehmer (und im SER auch die "Krone") miteinander über zukünftige Wirtschaftsentwicklungen, was zu konsistenten Erwartungen der beteiligten Parteien führt, wenn man so will, zu "rationalen Erwartungen".

Bei dem Artikel handelt es sich um eine von der Redaktion gekürzte Fassung des Beitrages für das folgende Buch: Franz, W./Hesse, H./Ramser, H.-J./Stadler, M.: Wirtschaftspolitische Herausforderungen an der Jahrtausendwende. Ergebnisse des 30. Wirtschaftswissenschaftlichen Seminars Ottobeuren, erschienen im Springer Verlag, Berlin. – Im Buch finden sich auch die Tabellen, Schaubilder und Einzelanalysen, die die dem Vergleich zugrunde liegenden Daten auf eine vergleichbare Basis stellen.

(1) NAIRU = "Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment", also inflationskonstante Arbeitslosenrate, entspricht in etwa dem Begriff Sockelarbeitslosigkeit.

(2) Vgl. die Diskussion in Papers and Proceedings 1999 des American Economic Review.

(3) Aber wegen der Größe der Niederlande ohne Regionalisierungskomponente. Es gibt in den Niederlanden wie auch in Deutschland so genannte Haustarifverträge, die aber an Bedeutung verloren haben (Hartog 1999).

(4) Die Wirkungen von Kündigungsschutz auf das Beschäftigungsniveau sind ja bekanntlich theoretisch wie empirisch ambivalent (Bertola 1992).

(5) Zusammenfassend und Literaturangaben: Fuchs/Schettkat 2000.

(6) Die durchschnittlichen "Wedges" sind nach den OECD-Berechnungen (die nicht nach US-Staaten differenzieren) insbesondere für die USA deutlich niedriger (28 %), weil Familienzuschläge und Wohngeldzahlungen in den OECD-Berechnungen unberücksichtigt bleiben (CPB 1995).

(7) Dieses trifft auf jede analysierte Sub-Population zu. Selbst in relativ eng abgegrenzten Qualifikationsgruppen ist die Lohnspreizung in den USA größer als in Deutschland. Die Ursachen der größeren Lohnspreizung in den USA sind denn auch vor allem innerhalb der Wirtschaftszweige zu suchen. Die Lohnpositionen der Wirtschaftszweige in Deutschland und den USA sind nahezu gleich (Freeman/Schettkat 2000).

(8) Wim Kok zitiert nach SER (Social Economisch Rat)-bulletin, December 1997, S. 6.

(9) Mit dieser realen Unterbewertung ging der Gulden auch in die Fixierung des EURO, was die niederländische Zentralbank inzwischen auch halb offiziell eingesteht.

(10) Bei genauerem Hinschauen zeigen sich in der Bundesrepublik auf Basis der Beschäftigtenstatistik allerdings doch kleine Änderungen in der Lohnstruktur (Möller 1998, Fitzenberger 1999, Franz 2000); zu den Niederlanden im Detail: Salverda 1998.

Literatur:

Freeman, R. B./Schettkat, R. (1998): From McDonald’s to McKinsey: Comparing German and US Employment and Wage Structures. Leverhulme II conference, Labour Market: Stocks and Flows, 28.-29. September 1998, Oxford: Institute of Economics and Statistics

Freeman, R. B./Schettkat, R. (2000): Skill Compression, Wage Differentials and Employment: Germany vs. the US, National bureau of Economic Research, Working paper 7610, also forthcoming in: Oxford Economic Papers

Hassink, W. (1999): "De rol van de leeftijd bij de ontslagbeslissing", in: Economisch Statistische Berichten, Vol. 84, December, S. 947-949

Katz, L./Krueger, A. (1999): "The high-pressure US labor market of the 1990s", Brookings Papers on Economic Activity, Issue 1, 1-87

Krueger, A. (2000): "From Bismarck to Maastricht", in: Labour Economics, No. 1, S. 1-26

Möller, J., (1998): "Die Entwicklung der Lohnungleichheit in Deutschland", in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Einkommen und Vermögen in Deutschland – Messung und Analyse, Stuttgart: Metzel-Pöschel, S. 169-193

Nickell, S. J./Bell, B. (1996): "Changes in the Distribution of Wages and Unemployment in the OECD countries", in: American Economic Review, 86 (5), Papers and Proceedings, S. 302-308

Schettkat, R./Reijnders, J. (2000): The disease that became a model, Washington, D. C.: Economic Policy Institute

Schettkat, R. (1999): "Small Economy Macroeconomics. The Economic Success of Ireland, Denmark, Austria, and the Netherlands Compared", in: Intereconomics, Vol. 34, No. 4, S. 159-169

Siebert, H. (1997): Labor "Market Rigidities: At the Root of Unemployment in Europe", in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 11 (3), S- 37-54