Crossover: Alles echt, ey!

Ein keineswegs nostalgischer Rückblick

Pen Gellen

Auch wahre Liebe kann nur eingebildet sein, wie uns "Real Love", eine späte Vendetta der Beatles am Lieder-Grossisten Michael J. zeigt. Darin sind sich alle Feuilletons einig: Die Resurrektion der Fab Four ist ein big fake, alles nur Schein. John Lennon "technisch wiederauferstanden"; ein Liedchen von Jeff Lynne anstatt von George Martin produziert, viel Studio-Getue, kurz: alles ist nur virtuell und nicht echt. Schlimmschlimm: Das dünne "Free as a Bird" war vorher schon im Internet zu hören "und hat dem Kunstprodukt Gefühl und Intensität voraus", so die Märkische Allgemeine Zeitung, ein Käseblatt, das sich in dieser Sicht des Dings um nichts von den intellektuellen Schwerkraftblättern unterscheidet. Waschecht im Internet, das Authentizitätsgeschwurbel der Neunziger wird immer skurriler.

Als der Spiegel im Spätsommerloch des Jahres '95 meldete, daß die veritablen Rolling Stones bei ihren sogenannten Live-Konzerten womöglich einen Computer zur musikalischen Unterstützung benutzt haben könnten, säuerte ein in die Jahre gekommener Fußgängerzonenbesucher in die ihm entgegengehaltene Fernsehkamera, er sei "echt enttäuscht, weil die Stones irgendwie immer authentisch gewesen" seien. Mal abgesehen davon, daß jede CD reichlich computergestützt entsteht, fragt man sich, ob dieser Mensch tatsächlich so naiv ist. Achtzigtausend Besucher in einem Fußballstadion sollen handgezupft den Originalton hören? Dafür bräuchten die hinten Stehenden vermutlich unästhetisch große Ohrwascheln.

Gefühlsechtheit jedenfalls ist aus nur schwer nachzuvollziehenden Gründen immer noch angesagt, das Rock'n'Roll-Tier muß schwitzend dem Publikum seine Verachtung ins Gesicht schreien, dann ist das authentisch, irgendwie. Die Luft in unserem kleinen Musikladen muß stickig sein, das Bier muß zischen, Leiber müssen wogen. Beispiel gefällig? "Ich weiß nicht, wie alt Herman Brood ist, aber er ist verdammt alt. Und jedes Jahr und jede Platte sieht man ihm auch an, genauso wie jedes seiner dreihundert Konzerte pro Jahr, und das seit mehr als zwei Jahrzehnten, und immer wieder spielt er nicht, sondern ist das Tier auf der Bühne" und so fort, schrieb zum Beispiel das Kürzel "to" in der taz. Mal abgesehen davon, daß man in jedem billigen Rocklexikon nachschlagen kann, wie alt Brood ist, wurde hier der Authentizitätsmaßstab endlich mal exakt festgelegt: 300 Tage im Jahr auf der Bühne seit zwanzig Jahren, das ist Musik als Arbeit (mit Schwitzen!). Genau so authentisch ist allerdings der Finanzbeamte mit silberner Ehrennadel wg. 25jährigem Dienstjubiläum, das "Tier hinter dem Schreibtisch". Als ob es nicht ausreichte, auf die gute Musik von Herman Brood zu verweisen.

ProblemsängerInnen

ProblemsängerInnen haben das besondere Authentizitäts- und Credibility-Problem, da sie uns den schlechten Zustand der Welt mit reinem Herzen erklären wollen. Im Regelfall reiten sie uns dabei nur weiter in die Scheiße. Sinèad O'Connor heulte (echt!) im Video-Clip zur Melodie von Prince, welch letzterem Kitsch, Lug und Trug durchaus und zu Recht ein Stilmittel der Show sind. Roskilde-Festival, Juli 1990: die Dame ist krank, nein, nicht etwa wegen entzündeter Tränendrüsen; der Echtheitszwang erforderte die Verbreitung der fotokopierten Krankschreibung auf dem Festgelände: "The patient has an Acute Viral Upper Respiratory Tract Infection... She will be medically unfit to perform or sing for three days." Sollte sie singen oder heulen? Oder beides? Erinnert sich jemand außer mir noch an das darauffolgende Heile-Welt-Festival, diesmal zur Kurdenrettung? Dortselbst trat sie konsequent in einem an die Ärmsten der Armen gemahnenden Gewand auf und schluchzte weiter. Sting, P. Gabriel und alle diese waren natürlich auch da.

Auftritt Tracy Chapman. Der mittlerweile angerostete Ruhm dieser Dame verdankte sich vor allem einer Umbaupause. Da sie aus verständlichen Gründen allein singt, man also zur Präsentation dieser heiligen Johanna der Öko-Bauernhöfe bloß einen Gitarrenverstärker und ein Mikrophon braucht, wurde sie beim Gerechtigkeitsspektakel "Free Nelson Mandela!" gleich zweimal präsentiert. Das (millionenstarke Fernseh-)Publikum mißverstand dies gründlich als einen Beweis für besondere Klasse mit sozialkritischem Durchblick. Das erdige Seelchen verkaufte uns immerwährende Wahrheiten des Schlags: Leute, all diese Fernseher, Kühlschränke, Autos sind nur irdisch und machen nicht wirklich glücklich. Daß ein Kühlschrank auch nur das Bier kalt halten oll, wäre doch auch mal ein Lied wert.

Echte Kunst am Beispiel Sting

Nah verwandt mit den Aussage-Musikern ist die Sparte der Schwerkunst-Rocker. Paradebeispiel Sting: Nachdem Police wg. tatsächlich vorhandener Klasse zur hochwichtigen Rockgruppe deklariert wurde und sich daher konsequent auflöste, tat Sting nicht das Angesagte. Anstatt sich einem geräuschlosen Hobby wie Briefmarkensammeln hinzugeben, meinte er, den ihm aufgebrummten Anspruch auf Kunst tatsächlich einlösen zu müssen. Wie alle Rockmusiker schielte auch Sting zu den wirklichen Könnern im Jazzumfeld. Ein paar Spitzen-Jazzmusiker mußten her, eine Platte mußte raus. Die Jazzmusiker fanden sich leicht, weil von denen jeder weiß, daß im Rockbiz viel Kohle für wenig Arbeit zu machen ist. Prompt turtelten blaue Tauben zu Saxophongenäsel, und eben dieses Cocktailjazz-Gedudel gilt seitdem jedem Pflastertreter als Beweis für ganz schwer kunstbehaftete Rockmusik. Folgerichtig quält Sting seither bei jeder Gelegenheit fremder Leute Ohren mit Kunst. Das geschieht selbstverständlich auch unter Mißbrauch des musikalischen und literarischen Könnens Verstorbener und anderer, die sich nicht wehren können; auch Brecht/Weill mußten schon dran glauben. Und da er leider nicht gestorben ist, macht er das noch heute.

Aber dies ist nur die eine Seite des Authentizitätskomplexes. Da ja auch an die Rock-Texte der schwere Anspruch an Sinngehalt gestellt wird, mußte prompt das seinerzeitige Tagesgeschehen qua Atombombenrüstungswahnsinn für alle mögliche Dichtkunst herhalten. Die erstaunliche Einsicht, daß "auch"(!) die Russen ihre Kinder lieben, führte Leute des Schlages Sting dazu, gleich die ganze Welt zu lieben, besonders aber die armen Neger, respektive Indianer in Amazonien. Von da aus zur "World Music" ist es nur ein Saitensprung. Warum Sting nicht nach Brasilien umsiedelt und allein im übriggebliebenen Regenwald mit seinem Gesang die Holzfäller und Goldsucher verscheucht, ist eines der ungelösten Mysterien der Gegenwart. Das Wort "Gutmensch" ist bereits selbst ein Schaumwort, aber hier paßt es wenigstens zu der Schaumschlägerei.

Überhaupt, die Texte in ihrer Beliebigkeit: die Notting Hillbillies, im schwarzen Bratenrock wie unsere Vorväter, sangen uns (Gott-sei-Dank ist das auch Jahre her!) unter Führung von Mark Knopfler in einem Fernsehfilm zu Allerheiligen was vom "Water of Love" vor. Ursprünglich wurde der Text für hocherotisch gehalten, voller versteckter Andeutungen auf das eine, jetzt geht's mehr um die Mitmenschen, und das alles zur besten Sendezeit.

Ich hab' ein zärtliches Gefühl... Sting und Co. stehen leider nicht allein. Adult-Rocker Phil Collins rief seinerzeit in der Berliner Waldbühne sein Publikum zur Hilfe für die Armen auf, ausgerechnet der Caritas sollte da ordentlich was in die auch tatsächlich aufgestellten Sammelbüchsen geworfen werden. Nein, es gibt keine Hoffnung: Sobald Popstars politisch werden, landen sie im Bereich des Cartoons, und auch noch so gründliche Einweisung durch die Promo-Abteilung hilft nicht, meistens deshalb, weil die dort arbeitenden PR-Fachleute um nichts gebildeter sind als ihre Schützlinge, die noch nicht begriffen haben, daß ein gut geschriebener Text noch lange keine Message sein muß. Julie Burchill (noch so eine Taubnuß!) hielt, als sie noch lesbare Sachen schrieb, den Intelligenzquotienten der Rockmusiker völlig korrekt für niedriger als die Raumtemperatur - in kalten Räumen, versteht sich.

Als 1989 die Mauer geöffnet wurde, was für sich ja nichts Schlechtes war, mißverstanden das einige Leute sehr gründlich. Man hätte ja auch still bei einem Bier in der Kneipe mit gedämpfter Musik feiern können. Indessen mußte prompt ein Spektakel veranstaltet werden. Schön, daß Rock-Musik so banal ist: Was lag näher als Pink Floyd mit "The Wall" zu einem Fest der Gemeinsamkeit zu verwursten. Pink Floyd - allein bei der Nennung des Namens schaudert es heute jedem Musikliebhaber, bei allen Verdiensten dieser Truppe - wiederum holten alle zusammen, die mitmachen wollten. Und wer wollte da nicht alles mitmachen! Vor allem mitmachen mußte aber Deutschlands singende Balletschülerin. Habe ich "singend" geschrieben? Jedenfalls mußte Ute Lemper sich vordrängeln und mit dabei sein. Aber nicht nur einfach so, nein, nein. In der vollen Überzeugung ihrer Love-and-unity-Weltsicht äußerte "die Lemper" folgerichtig im Stern den Wunsch nach einem gemeinsamen Orgasmus mit 200.000 Leuten beim "Wall"-Spektakel. Wenn man ihr die Hammelbeine noch länger gezogen hätte, hätten es vielleicht auch wohl 300.000 werden können. "Dumm fickt gut", so blöd ist der gemeine Volksmund manchmal nicht.

Märtyrer und Knallköppe

Schnell und intensiv. Erdig. Elektrisch. Ekstatisch. Sex. Drugs. Rock'n'Roll. Die Schlagworte beim vorzeitigen Ableben von Rockmusikern sind immer dieselben, wie auch stets dieselben Ikonen genannt werden, Brian Jones, Janis Joplin, Jim Morrison, und immer wieder Jimi Hendrix. Dieser selbst ist ziemlich unfreiwillig zum Symbol geworden, seit er vor einem Vierteljahrhundert sich buchstäblich am Rockbiz zu Tode kotzte. Wenn überhaupt einer mit "Authentizität" in der Rockmusik in Verbindung gebracht werden konnte, dann J. H. Allerdings wurde er dabei ziemlich mißverstanden. Charles Murray schildert in seiner exzellenten Hendrix-Biographie das ignorante Beharrungsvermögen des Publikums: Brennende Gitarren, zerhauene Verstärker und Hardrock-Gequietsche hingen Hendrix längst zum Hals raus, als seine bekifften Fans das immer noch geil fanden. Hendrix wurde davon speiübel; sein Pech war, daß seine damalige Freundin wohl aus irgendwelchen Gründen sehr tief schlief, als er im Schlaf Barbiturate, Essen und Trinken gleichzeitig wieder von sich gab.

Seitdem sind eine ganze Reihe an Musikern vorzeitig ins Nirvana gegangen, und es waren nicht immer die Besten, die uns verließen. Ob nun ein durchgeknallter Punk erst seine Freundin erstach und dann selbst den Freiflug aus dem Hotelzimmer ins Jenseits suchte, oder ob ein drogenabhängiger Grunge-Baumwollhemdträger ein echtes Gewehr an den Kopf setzte und trotz Zugeballert-Seins den Abzug fand: das Promo-Department der jeweiligen Plattenfirmen verkaufte das alles als authentisches Rockerleben. Für den Umsatz war das allemal besser als das Bezahlen von Entziehungskuren. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Drogenfixierte Musiker machen gegebenenfalls gute Musik nicht wegen, sondern trotz ihrer Dröhnebirne.

Was lehrt uns das alles? Es gibt nichts Echtes im Falschen, es ist alles eitel Tand. Authentisch sind die Rockstars nur zufällig: wenn mehrfache Millionäre den Habenichtsen vor der Bühne vorschlagen, mit ihnen zusammen die Wunderkerzen zu schwingen und zu singen: "You can't always get what you want", dann ist das durchaus ehrlich. Und manchmal klingt es sogar richtig gut, auch wenn es nur Playback ist.