"Turkish Power Boys"

oder: Das mühselige Geschäft der Integration

Klaus-Peter Martin

Zwei Jahre lang - ab Sommer 1990 bis zum Herbst 1992, als sie sich selbst auflösten - machte eine türkische "Jugendgang" aus dem Frankfurter Stadtteil Bornheim viel von sich reden. Das Besondere an den "Turkish Power Boys", wie sie sich nannten, waren nicht ihre zahlreichen Straftaten, die regelmäßig für Schlagzeilen in der örtlichen Presse sorgten und auch nicht ihre Bereitschaft, mit Gewalt ihr Territorium gegen andere Jugendgangs zu verteidigen. Anfang der neunziger Jahre waren Bandenzusammenschlüsse unter Jugendlichen an der Tagesordnung. Allein in Frankfurt sollen nach Polizeiangaben zu der Zeit etwa 500 Jugendliche in gewaltbereiten Cliquen organisiert gewesen sein. Dabei spielten deutsche Heranwachsende in der Regel nur eine untergeordnete Rolle. Einige dieser Gangs verwiesen mit ihrem Namen auf das Herkunftsland ihrer Eltern und definierten sich damit als ethnische Gruppierung: "Kroatia Boys", "Italy Boys", "Russ Boys"; andere führten ein Frankfurter Wohngebiet in ihrem Gruppennamen.

Bemerkenswert an den "Turkish Power Boys" war zum einen, daß sie über einen vergleichsweise langen Zeitraum ihre Gruppierung am Leben halten und in dieser Zeit etwa 50 türkische Jungen organisieren konnten. Ihre Bedeutung und ihr "Ruf", den sie zeitweilig erreichten, unterstreicht die Tatsache, daß sich auch in der Umgebung von Frankfurt türkische Jugendliche unter dem gleichen Namen nach dem Vorbild der Bornheimer "Turkish Power Boys" zu organisieren begannen. Bis heute gibt es immer mal wieder Versuche, "Turkish Power" in irgendeiner Form wiederaufleben zu lassen. Zur Kontinuität der Bande trug nicht zuletzt auch ihre entwickelte Organisationsform bei: So installierten die Gründer der "Power Boys" einen "Vorstand" als Führungsgremium, als nach einigen Monaten der Druck der Polizei zunahm und einige Mitglieder verhaftet wurden. Dadurch gelang es, ersten Auflösungserscheinungen erfolgreich entgegenzuwirken. Der Vorstand beschloß schließlich zusätzlich die Neubildung einer Juniorgruppe der "Turkisch Power Boys" und vereinbarte einen Verhaltenskodex innerhalb der Gang.

Neben Schuleschwänzen, Ladendiebstahl, allerlei "groben Unfugs" und anderer Delikte waren es vor allem die Straßenraubüberfälle und Jackendiebstähle, die für Aufsehen sorgten und den Ruf einer "gefährlichen Jugendbande" begründeten. Noch Monate später schwärmten einzelne Gruppenmitglieder: "Wir haben in einem halben Jahr soviel Hektik gemacht, was andere Banden nicht einmal in einem ganzen Jahr gemacht haben. Wir haben so was innerhalb eines Monats gemacht - so viele Jacken abgenommen, Geld genommen, Männer zusammengeschlagen..." Und warum? Die Begründungen für ihr Tun bleiben vage, unbestimmt: "(...) nur so aus Spaß...", "Das zeigt die Macht halt..." Die Polizei lastete im Herbst 1990 einigen wenigen Mitgliedern der Gang allein über 40 Fälle innerhalb von zwei Monaten an. Opfer waren ausschließlich gleichaltrige oder jüngere Deutsche, die aus der Position der großen Überzahl zum Herausgeben ihrer Jacken, Uhren, Walkmen oder ihres Mountainbikes gezwungen und anschließend verprügelt wurden. Und warum nur Deutsche? - "Die haben sich nicht gewehrt!"

Die tiefe Feindseligkeit und der Haß auf alle Deutschen sowie die grenzenlose Brutalität und die Lust zur Demütigung ihrer Opfer, das bleibt das schwierigste Problem beim Versuch, die Geschichte der "Turkish Power Boys" zu verstehen und zu interpretieren. Aktuell sind in der Jugendszene feste, über einen längeren Zeitraum bestehende Zusammenschlüsse eher die Ausnahme. Die Gegensätze und Frontstellungen allerdings sind nach wie vor zu beobachten, nur, daß die Jungs heute mal mit dem und morgen mit jemand anderem auf "Tour" gehen.

Der Kulturanthropologe Hermann Tertilt hat die Entwicklung der "Power Boys" recherchiert und aufgeschrieben. Zwei Jahre lang hat er die Gruppe begleitet, beobachtet und sich mit einzelnen Bandenmitgliedern intensiv auseinandergesetzt. In zahlreichen Gesprächen und Interviews hat der Vierunddreißigjährige die Geschichte von "Turkish Power" erkundet und die Beweggründe der Bandenbildung zu erforschen versucht. Eine solche Langzeitstudie mit einer derartigen Bereitschaft des Autors, sich auf die Gruppe einzulassen und über weite Strecken den Alltag mit ihnen zu teilen, ist in der bundesdeutschen Wissenschaftstradition nur sehr selten zu finden. Der soeben von Hermann Tertilt vorgelegte Band Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande kann deshalb nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Nach der detaillierten Darstellung der Bandengeschichte und den Porträts dreier Mitglieder, schildert Tertilt Wertorientierungen und Verhaltensmuster in der Gruppe, um so ihren Motiven und den Hintergründen ihrer Straftaten auf die Spur zu kommen.

Weit wichtiger als materielle Bereicherung waren bei den Raubüberfällen der "Turkish Power Boys" offenbar die Suche nach Abenteuer, das Streben nach Geltung und die Demonstration von Männlichkeit und Macht, schreibt Hermann Tertilt. Typisch bereits der allererste Überfall: Ausgangslage war das gemeinsame "Abhängen" der Gruppe. Der Überfall wurde weder vorher geplant noch organisiert, sondern ergab sich spontan aus der jeweiligen Situation heraus. Einem Jungen, der zufällig vorbeikommt, wird der Walkman mit Gewalt weggenommen und ihm gleich noch ein Faustschlag mitgegeben. Charakteristisch ist auch die große Überzahl der Angreifer gegenüber dem Opfer von zwölf zu eins. Bei zahlreichen anderen Überfällen forderten sie, das Portemonnaie, das Fahrrad, die Mütze oder die Jacke herauszugeben. Dabei spielte unter anderem auch eine Rolle, daß die Gruppenmitglieder es "geil" fanden, immer die neusten Klamotten zu besitzen, die aber holten sie sich auch aus allen möglichen Läden, wenn sie gebraucht wurden. Im Mittelpunkt der "Abripp-Aktionen" auf der Straße war die Demütigung des Opfers. Nicht allein, daß es eingeschüchtert, bedroht und schließlich beraubt wurde, es mußte auch jeweils heftige Schläge einstecken. Regelrecht enttäuscht zeigte man sich, wenn ein Opfer sich nicht traute zu widersprechen oder sich zu wehren: dann "machte es gar keine Spaß", so ein Gruppenmitglied. Diese scheinbar unmotivierte, nicht nachvollziehbare Gewalt und Brutalität stellte die Polizei vor ein Rätsel. Sie sprach von einer "neuen Qualität der jugendlicher Gewalt".

Als erstes Erklärungsmuster bietet sich die Erfahrung sozialer Mißachtung und der fehlenden Anerkennung an. Und darauf verweisen auch Äußerungen wie "Das zeigt die Macht halt" oder: "Das mußt du machen, damit du akzeptiert bist." Auch Neid spielt dabei sicher eine Rolle, wenn Hayrettin sich zu rechtfertigen versucht: "Die einen haben's und du nicht. Ja, da nehm ich mir's halt, da haue ich dem auf die Fresse." In die gleiche Richtung argumentiert ebenfalls der Darmstädter Soziologie-Professor Albert Scherr, der den in Frankfurt zur Schau gestellten Reichtum geradezu pervers findet und dementsprechend Raubüberfälle und Autodiebstähle der "Ausgegrenzten" für verständlich und nachvollziehbar hält. Nun war bei den "Turkish Power Boys" auffällig, daß sich Jugendliche mit den unterschiedlichsten Bildungshintergründen zusammengefunden hatten: etwa ein Drittel besuchte die Hauptschule, ein Drittel die Realschule und ein Drittel das Gymnasium oder die Berufsschule. Nach Kenntnis von Hermann Tertilt waren lediglich zwei Jungs Besucher einer Sonderschule. Es bleibt auch zu erklären, warum gerade ausländische Jugendliche bestimmter Nationalitäten - die sicher in besonders extremer Weise unter Ausgrenzung und mangelnder Anerkennung zu leiden habe, aber doch nicht allein davon betroffen sind - in dieser Form auffällig werden und warum sie sich streng nach ethnischen Grenzen organisieren, warum es hier gewissermaßen zu einer "Reethnisierung" kommt.

Vordergründig scheint der Zusammenschluß der türkischen Jugendlichen zunächst eine Reaktion auf ausländerfeindliche und rassistische Anschläge Anfang der neunziger Jahre zu sein. Ausgehend von Berlin organisierten sich junge Ausländer, um sich kollektiv gegen Neonazis und gewalttätige Skinheads zur Wehr zu setzen. Bei den "Turkish Power Boys" wurde aber sehr schnell klar, daß dies allenfalls eine im nachhinein abgegebene und nur vorgegebene Argumentation war. Bei einer Veranstaltung in Frankfurt gab Mesut, ehemals einer der führenden Köpfe der "Turkish Power", zu: "Bei uns ging es nie um Politik!" Keiner der Bornheimer "Power Boys" hatte jemals persönliche Erfahrung mit rechten Schlägern gemacht. Dafür dehnten sie den Begriff "Nazis" gleich auf alle Deutschen aus und hatten für sie nur Haß und Verachtung übrig. Wer sich seine Jacke wegnehmen läßt, der ist selbst schuld. Veli, einer der Gründungsmitglieder der "Power Boys": "Weil die so blöd sind, deshalb nehmen wir die Jacken. Von so einem normalen Typ kannst du die Jacke nicht nehmen..." Passanten, die bei Überfällen anwesend waren, haben nie eingegriffen. Für die türkischen Jungs ein weiterer Grund, die Deutschen zu verachten. Yildirim: "Unter Türken bzw. unter Ausländern" sei eine solche von Ängstlichkeit und Gleichgültigkeit geprägte Distanzierung nicht denkbar.

Türken halten zusammen! Mit den Deutschen dagegen ist Freundschaft nie möglich, "da ist nicht diese Brüderlichkeit!" Darüber waren sich die Gruppenmitglieder alle einig. Zafer zum Beispiel kann Deutsche "überhaupt nicht abhaben, wegen ihrer Eigenart." Und zwar: "So eine Art Egoismus ist der." Er geht noch weiter: "Freundschaft heißt: das gibt es bei den Deutschen nicht." An anderer Stelle wird "typisch deutsch" zudem mit "unmännlich" übersetzt. Kein Wunder, daß die überfallenen deutschen Jugendlichen für die Bandenmitglieder nichts weiter als Tiere darstellten, die auch entsprechend zu behandeln waren. "Wir haben immer gesagt: ,Das ist nur eine kleine Ameise für uns, ein kleines Tier für uns`", bekennt ein Gruppenmitglied nachträglich.

Hermann Tertilt erklärt diese Haltung mit der Mißachtung und Demütigung, wie sie türkische Jugendliche aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit erfuhren. Für ihn hat es daher durchaus einen "Sinn", wenn die "Power Boys" in Umkehrung das Kriterium der nationalen Zugehörigkeit zum Anlaß nahmen, deutsche Jugendliche in entsprechend erniedrigenden Weise zu behandeln. Seine zentrale These lautet, daß das Zustandekommen derartiger gewalttätiger ethnischer Gruppierungen "auf der Erfahrung eines kollektiven Status- und Anerkennungsdefizits in der Gesellschaft beruht und daß die Bande als subkulturelle Gemeinschaft der Bewältigung migrationsspezifischer Schwierigkeiten dient".

Nach meinen eigenen Erfahrungen mit türkischen Jugendlichen greift Tertilt mit diesem Erklärungsversuch etwas zu kurz. Sicherlich kann man die Geschichte der "Turkish Power Boys" mit Recht zum Anlaß nehmen, die mangelnde Integrationsbereitschaft der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu beklagen und die Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung der hier geborenen und zur Schule gegangenen Migrantenkinder, doppelter Staatsbürgerschaft, erleichterter Einbürgerung und so fort zu unterstreichen. Gleichzeitig ist aber zu beobachten - und das zeigt das Beispiel "Turkish Power Boys" eben auch -, daß ein Teil der jugendlichen Einwanderer sich bewußt von der Mehrheitsgesellschaft abschottet, unter sich bleiben möchte und problematische Orientierungen herausbildet. Um diese Verhaltensweisen und Einstellungen zu verstehen, ist es meines Erachtens nützlich, sich einige Aspekte des türkischen Ehrbegriffes näher anzuschauen.

Als ehrlos gilt in der türkischen (Dorf-) Gemeinschaft derjenige, der nicht bedingungslos und entschieden seine Angehörigen verteidigt. Dabei zählt ausschließlich die Tatsache, daß eine Grenze verletzt wurde, nicht aber die Gründe dafür oder die Frage von "Schuld" und "Unschuld". Letzter Prüfstein des Handelns ist das Wohl der eigenen Gruppe.

Dies erklärt zum einen das Einfordern der bedingungslosen Solidarität unter den Gruppenangehörigen ("Jeder kämpft für jeden!", "Alle müssen zusammenhalten; alle, alle waren dabei!"), zum anderen die Verachtung für die "ehrlosen" Deutschen, die ihren Landsleuten nicht helfen und die sich schlagen und demütigen lassen, ohne sich zu wehren. Eine zerstörte Ehre nämlich kann nur durch Gewalt wieder hergestellt werden; wer dagegen keine Vergeltung übt, wenn die Ehre befleckt wurde, der hat Schwäche gezeigt. Die Ehre des Mannes wird also mit Stärke assoziiert. Um die Ehre "der Türken" wieder herzustellen, die von Deutschen mißachtet, beschimpft, angegriffen werden, mißachten, beschimpfen, demütigen und schlagen die "Turkish Power Boys" demnach "die Deutschen". Auf der oben erwähnten Veranstaltung in Frankfurt beharrten die ehemaligen "Power Boys" auch heute noch darauf, daß "die Deutschen angefangen" hätten. Sie hätten darauf nur in dem Sinne reagiert, daß sie es "den Deutschen mit Gewalt zeigen" wollten. Dabei macht die Familien- und die Gruppenbezogenheit rücksichtsloses und brutales Vorgehen problemlos, da die Opfer als "schwache" oder "unmännliche" Wesen gelten - und nicht als Menschen, die Achtung verlangen können.

Dazu paßt aktuell, daß die Frankfurter Rundschau Anfang Februar meldet, daß sich immer mehr junge Türken in Deutschland zum Islam hingezogen fühlen und sich auf die heimatliche Kultur besinnen. Laut einer Untersuchung der Universität Bielefeld stimmen 41 Prozent der 15- bis 21jährigen türkischen Jugendlichen der Aussage zu, sie seien "bereit, sich mit körperlicher Gewalt gegen Ungläubige durchzusetzen", wenn dies der islamischen Gemeinschaft diene. Knapp 30 Prozent waren in diesem Fall auch dafür, "andere zu erniedrigen". Und 28 Prozent stimmten dem Satz zu: "Wenn jemand gegen den Islam kämpft, muß man ihn töten." Nun waren die "Turkish Power Boys" keine schlagkräftige Gemeinschaft fundamentalistischer Islamisten, als "Rechte" galten sie unter Landsleuten allemal. Bedenklich muß die Tendenz der Abgrenzung und Selbstisolierung und die fanatische Beschwörung der türkischen Identität schon stimmen.

Einen anderen Aspekt heben Klaus Farin und Eberhard Seidel-Pielen hervor, die sich Anfang der neunziger Jahre in ihren Reportagen mit "multikulturellen Streetgangs" in Deutschland beschäftigt haben. Sie sehen in diesen Gruppierungen und dem vielfältigen deliquenten Verhalten eine "Kriegserklärung" sowohl an die bundesrepublikanische Mehrheitsgesellschaft als auch an die Elterngeneration der Jugendlichen. Ihrer Auffassung nach sind die Gangs Ausdruck eines neuen Selbstbewußtseins; in ihnen werde der Aufstand gegen den "devoten Untertanengeist der Eltern" organisiert.

Auf den ersten Blick hat auch diese Argumentation einiges für sich. So sind eine ganze Reihe der Väter der "Power Boys" bei der städtischen Müllabfuhr in Frankfurt beschäftigt - kein Grund für die Söhne, besonders stolz zu sein. Daß die zweite Generation der Immigranten keine Lust hat, sich mit den miesen und schlecht bezahlten Jobs ihrer Väter zu begnügen, ist leicht zu verstehen.

Hermann Tertilt beschreibt in seinem Buch jedoch auch einen anderen Fall. Arif, der aus einem sehr strengen Elternhaus, mit einem konservativ-religiösen Vater, stammt, leidet unter dem Zwiespalt zwischen traditionellen Erwartungen der Familie und seinen eigenen Vorstellungen von Freiheit und selbstbestimmtem Leben. Obwohl er das autoritäre Verhalten und die für ihn altmodisch erscheinenden Vorschriften des Vaters ablehnt, geht er äußerst respektvoll mit ihm um und hält sich daran, "was man halt bei uns so macht". Der Vater ist übrigens ebenfalls Müllmann, die Mutter geht putzen. Schließlich bewahrt ihn die Gewißheit, daß sich die gesamte Familie für sein Verhalten verantwortlich fühlt und trotz allem die Identifikation mit der starken Vaterfigur vor dem Abgleiten in eine delinquente Laufbahn. Vor allem der väterliche Stolz, schreibt Tertilt, sein Sinn für Ehre und Ansehen vermochten Arif "Orientierung und Identität, Selbstbewußtsein und Selbstkontrolle zu geben."

Im Herbst 1992 lösten sich die "Turkish Power Boys" auf. Grund dafür waren vor allem die lockerer gewordenen Kontakte untereinander, der fehlende Zusammenhalt. Dazu hatten Drogenkonsum beigetragen, Festnahmen und Aburteilungen einzelner Mitglieder, aber auch das Älterwerden der "Power Boys" und feste Beziehungen zu Freundinnen. Was ist mittlerweile aus den von Hermann Tertilt beschriebenen Jugendlichen geworden? Viele von ihnen haben die Schule abgebrochen, einige von ihnen eine Drogenkarriere eingeschlagen. Mindestens zehn Jugendliche wurden von ihren Eltern in die Türkei zurückgeschickt, wo sie aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und Anpassungsschwierigkeiten in der Schule ebenfalls scheiterten. Kaum einer hat bisher eine Ausbildungsstelle gefunden oder eine Lehre bis zum Ende durchgehalten. Für nicht wenige endete die Mitgliedschaft bei den "Turkish Power Boys" im Knast.

Im nachhinein fragt man sich natürlich, warum hat sich außer dem Anthropologen Hermann Tertilt niemand um die Jungs gekümmert, bevor sie durch ihre zahlreichen Straftaten nur noch ein Fall für Polizei und Staatsanwaltschaft waren. Scheinbar wurden sie sich selbst und der Straße überlassen, kein Jugendarbeiter und kein Jugendhaus war für sie offen. - Falsch! Und das macht noch nachdenklicher: In ihrer schlimmsten Phase verkehrten die Mitglieder der Jugendgang Tag für Tag in einem Jugendtreff im Stadtteil, in dem vier hauptamtliche Kräfte angestellt waren. Zudem besuchten sie ab und zu ein weiteres, größeres Jugendhaus. Während die "Power Boys" im Jugendhaus mit anderen Gruppen zusammenkamen, blieben sie im Jugendtreff unter sich, und das war auch so gewollt. Es war "ihr Ort"; hier waren sie frei von Vorschriften. Der Jugendtreff "war eine Schutzzone, in der sie sich weitgehend der sozialen Kontrolle entziehen konnten", schreibt Hermann Tertilt. Das und das Folgende gleicht einem sozialpädagogischen Offenbarungseid dieser Einrichtung: "Symptomatisch für die Situation der Sozialarbeiter war ihre Uniformiertheit über das, was die Jugendlichen außerhalb des Treffs taten." Unter den Augen der Sozialarbeiter wurden Gegenstände "vercheckt", ab und zu verschwand auch schon mal die Getränkekasse. Kein Wunder, daß ein ehemaliges Mitglied der "Turkish Power" heute sagt: "Ich habe keine Probleme mit den Sozialarbeitern gehabt." Kenan, ein weiterer "Power Boy" der ersten Stunde, erinnert sich: "Ich hab' sie nie ernst genommen." Die Sozialarbeiter bemühten sich, den Betrieb irgendwie aufrechtzuerhalten. Außer einem generellen Waffenverbot - was die Jugendlichen veranlaßte, ihre Waffen vor der Eingangstüre zu bunkern - "gab es keine "weitergehenden Konzepte, Maßnahmen oder Ideen." Denn diese schienen "weder realisierbar noch den Bedürfnissen der Jugendlichen zu entsprechen". Statt einer so verstandenen Bedürfnisorientierung, statt lediglich einen Raum zu Verfügung zu stellen und Raum zu geben, den Jugendtreff mit türkischen Insignien zu schmücken, hätte es jemand gebraucht, der sich um diese Jungs kümmert; kümmert in dem Sinne, daß er sich der Probleme annimmt, die die Jugendlichen haben - und der Probleme, die die Jugendlichen machen. Genauso dringend wie sie zum Beispiel Unterstützung bei der Lehrstellensuche benötigten, brauchten sie jemand, der Einfluß nimmt auf ihr Verhalten, auf ihre Umgangsweisen, auf ihre Einstellungen. So banal dies klingt, viel zu oft wird vergessen, daß Integration ein wahnsinnig mühseliges Geschäft des Auseinandersetzens, der Verständigung, des Aushandelns, des Erklärens ist.

Werner Schiffauer hat in einem früheren Fall einen türkischen Täter gefragt, warum alles so gekommen sei, warum er straffällig geworden sei. Die Antwort: Als er hierher gekommen sei, habe er sich anpassen wollen. "Aber keiner hat mir gesagt: ,So, du bist hier. Das kannst du machen, das darfst du machen. Aber das ist ayip (schändlich, schlimm). Keiner hat mir das gesagt.`"

Hermann Tertilt, Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande, Frankfurt/M. (suhrkamp taschenbuch 2501) 1996 (263 S., 16,80 DM)
Werner Schiffauer, Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt, Frankfurt/M. (suhrkamp taschenbuch) 1983
Klaus Farin, Eberhard Seidel-Pielen, Krieg in den Städten. Jugendgangs in Deutschland, Berlin (Rotbuch Verlag) 1991