Kommentar Recht

Überhangmandate

Uwe Günther

Das Grundgesetz schreibt kein bestimmtes Wahlsystem vor. Es bleibt dem Gesetzgeber überlassen, Wahlrechtsregelungen zu schaffen. Im Bundeswahlgesetz hat der Gesetzgeber festgelegt, daß die Wahl "nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl erfolgt". Die Zweitstimme ist die maßgebliche Stimme für die Verteilung der Bundestagsmandate auf die einzelnen Parteien. Erzielt allerdings eine Partei mehr Direktmandate als ihr nach den Zweitstimmen zustehen, verbleiben ihr die "Überhangmandate", ohne daß den im Verhältnis zu ihren Zweitstimmenanteilen benachteiligten Parteien ein Ausgleich, etwa in Form von "Ausgleichsmandaten", zusteht.

Bei der Bundestagswahl 1994 entstanden 12 Überhangmandate (8 Union, 4 SPD) mit der Konsequenz, daß sich die aus dem Verhältniswahlrecht ergebende knappe Zweistimmenmehrheit der Regierungskoalition in eine komfortable Mehrheit von zehn Stimmen verwandelte.

Bei der Bundestagswahl 1994 kam auch die "Grundmandatsklausel" zur Anwendung. Danach ziehen Parteien, die drei Direktmandate erreichen, trotz Nichterreichen der Fünf-Prozent-Klausel ins Parlament ein, und zwar nicht bloß mit den direkt gewählten Abgeordneten, sondern entsprechend ihrem Zweitstimmenanteil. Infolge dieser Regelung sitzt die PDS - entsprechend dem Zweitstimmenanteil - mit vier direkt gewählten Abgeordneten und weiteren 26 Abgeordneten im Bundestag.

Am 10. April befand das Bundesverfassungsgericht (BVG) sowohl über die Überhangmandate als auch über die Grundmandatsklausel. Die Anträge, die entsprechenden Wahlrechtsbestimmungen für verfassungswidrig zu erklären, wurden abgelehnt. Die Regelung über Überhangmandate wurde von den acht VerfassungsrichterInnen mit dem knappsten denkbaren Ergebnis, nämlich mit Stimmengleichheit, bestätigt. Der Antrag betreffend Grundmandatsklausel wurde einstimmig abgelehnt.

Die das Urteil zu den Überhangmandaten tragenden Gründe überzeugen nicht. Wenn das Bundeswahlgesetz grundsätzlich ein Verhältniswahlrecht vorsieht, ist es systemwidrig, Überhangmandate ohne eine Form des Ausgleichs vorzusehen. Denn durch die Regelung über Überhangmandate ohne Ausgleichsanspruch wird im Ergebnis das Kräfteverhältnis der Parteien nicht im Parlament abgebildet. Anders gesagt: Während die CDU für einen Bundestagssitz rund 66.000 Stimmen brauchte, waren dies bei Bündnis 90/Die Grünen 3.500 Stimmen mehr. Indem das BVG die derzeitige Regelung für Rechtens erklärte, hat es mithin das Verhältniswahlrecht durch Elemente des Mehrheitswahlrechts gesetzes- und verfassungswidrig relativiert. Das Urteil überzeugt auch deswegen nicht, weil es die Gründe für die hohe Zahl von Überhangmandaten nicht hinreichend reflektiert: trotz besserer Erkenntnis hatte es die Bundestagsmehrheit vor der Wahl 1994 versäumt, die Wahlkreise neu zu schneiden. Indem gerade in den neuen Bundesländern Wahlkreise zugelassen wurden, deren Bevölkerungszahl erheblich unter dem Bundesdurchschnitt lag, wurde eine steigende Zahl von Überhangmandaten in Kauf genommen, wenn nicht gar beabsichtigt. Gerade kleine und ungleiche Wahlkreise begünstigen das Entstehen von Überhangmandaten. In den das Urteil tragenden Gründen wird der Zusammenhang zwischen kleinen Wahlkreisen und dem Entstehen von Überhangmandaten zwar gesehen, aber für die Vergangenheit ein Verdikt vermieden und lediglich gesetzgeberischer Änderungsbedarf bis zum Jahr 2002 angemahnt.

Im Ergebnis zutreffend hat das BVG den Antrag betreffend Grundmandatsklausel abschlägig beschieden. Das Gericht hat dem Gesetzgeber insoweit ein Ermessen zugebilligt. Es könne in drei Direktmandaten ein Indiz dafür sehen, daß die Partei besondere Anliegen aufgegriffen haben die eine Repräsentanz im Parlament rechtfertige. Die Begründung überzeugt nicht. Verfassungsrechtlich plausibler wäre eine Begründung für die Fünf-Prozent-Klausel gewesen, die die Sperrklausel in der bislang gesetzlich vorgesehenen Höhe von fünf Prozent als jedenfalls heute nicht mehr begründet sieht und die deswegen die Grundmandatsklausel für rechtmäßig erklärt hätte. Die insoweit in Einklang mit der früheren Rechtsprechung vorgetragene Begründung - Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments - hat bloß fiktionalen Charakter, wie insbesondere die Praxis anderer westeuropäischer Länder mit Sperrklauseln beweist, die unterhalb der Fünf-Prozent-Marke liegen. Hier wie dort ist die Arbeitsfähigkeit der Parlamente trotz unterschiedlicher Sperrklauseln gegeben. Und wenn sie nicht gegeben ist, liegt dies zu allerletzt an den kleinen Parteien, die mittels Sperrklausel vom Parlament ausgeschlossen werden sollen.

Mit dem Urteil ist die Gefahr gestiegen, die Bundestagswahlen 1998 könnten durch Überhangmandate zugunsten der konservativen Regierungskoalition entschieden werden. Darüber hinaus wurde der Gedanke des Mehrheitswahlrechts bekräftigt. Das ist der Kern des Urteils vom 10. April. Eine Pittoreske am Rande ist, daß die Stimmenverteilung der Richter und Richterinnen mit den politischen Lagern korreliert, aus denen sie stammen oder entsandt wurden. Sollten Urteile Schule machen, mit denen parteipolitische Debatten in Bonn unmittelbar nach Karlsruhe verlängert werden, wäre es um die Legitimation des BVG geschehen.

Uwe Günther