Eine europäische Perspektive für den Balkan

Hartwig Berger

Die NATO-Angriffe auf Rest-Jugoslawien haben ihre erklärten Ziele nicht erreicht. Sie haben den Kosovo-Konflikt verschärft und kompliziert. Wäre die NATO-Intervention - wie viele unterstellen - in imperialen Machtansprüchen begründet, wäre das Scheitern "nur" ein Rückschlag im Versuch, eine Hegemonie auf dem Balkan zu sichern. Viele Gründe sprechen jedoch dafür, der NATO im Kosovo 1999 - anders als der USA-dominierten UNO 1991 im Irak - ein primär menschenrechtliches Engagement zu unterstellen. Unter diesem Anspruch wird das bisherige Interventionsergebnis wohl als politisches Desaster in die Annalen eingehen.

 

Vom ursprünglichen Kriegsziel, das nationalistische serbische Regime zur Unterschrift unter das Rambouillet-Abkommen zu zwingen, redet niemand mehr. Die Menschenrechtsverletzungen, die Ausplünderungen, Vertreibungen und teilweisen Massaker an der Bevölkerung konnten nicht gestoppt werden. Das serbische Regime konnte seine Verbrechen vielmehr ausbreiten und beschleunigen.

Daß überwiegend linke oder liberale Regierungen diese strategische Fehlhandlung mit zu verantworten haben, ist eine bittere Ironie. Die Hauptverantwortung liegt jedoch in den Planungsstäben des NATO-Hauptquartiers und bei einem Generalsekretär, der seine politische Karriere einst als Kritiker eines NATO-Beitritts seines Landes begann.

Was bewegte die NATO-Strategen, Luftangriffe gegen Serbien in der Hoffnung zu fliegen, daß die Belgrader Regierung binnen weniger Tage klein beigeben würde? Gab es keine Kontakte zur Opposition im Land? Wurde denn nicht zumindest in Erwägung gezogen, daß ein Luftkrieg gegen ein Land, dessen Bevölkerungsmehrheit über die Vorgänge im Kosovo schlecht oder sehr unzulänglich informiert ist, diese dem angegriffenen Regime in die Arme treibt?

Ein selbst oberflächlicher Vergleich mit den Bombardements in Bosnien 1995, nach den Massenmorden von Srebrenica erhellt die Fehler der "Force-alliée": Damals wurde eine Bodenoffensive der gut ausgerüsteten kroatischen Armee aus der Luft unterstützt, wobei die Aussiedlung und Vertreibung von 200.000 BewohnerInnen der Krajina in Kauf genommen wurde. Damals war auch Milosevic erkennbar bereit, den über dreijährigen Bürgerkrieg durch ein Friedensabkommen zu beenden. Schon vorher war es ihm gelungen, die Verantwortung für die gigantischen Verbrechen in Bosnien auf die Bluthunde des Pale-Regimes abzuwälzen.

Daß eine Bereitschaft Milosevics, das Abkommen zu unterschreiben, sich vor dem 24. März irgendwie abgezeichnet hätte, wird von Kennern der Verhandlungsrunde, zumindest des deutschen Außenministeriums, klar dementiert. Es bedarf aber keiner großen Phantasie, selbst militärstrategisch ungeschulter ZeitgenossInnen, sich vorzustellen, daß elektronisch gesteuerte Luftangriffe allein keinen Krieg entscheiden und den Gegner auch nicht daran hindern können, seine Schandtaten und Verbrechen zu Lande fortzusetzen.

 

Kriegsführungen, die ihr Ziel nicht erreichen, die statt dessen die Lage, die sie bessern sollten, nur verschlimmern, müssen beendet werden. Jeder Tag Fortsetzung der jetzigen NATO-Strategie kann den Balkan weiter in die Sackgasse führen. Die linke pazifistische Kritik an der NATO trifft insoweit durchaus zu. Sie muß deshalb auch keineswegs die im Kosovo begangenen Verbrechen kleinreden, stellt allerdings die unbequeme Gegenfrage, wie vielen Menschen denn die NATO-Angriffe Leib und Leben, Heim und Herd bewahrt haben?

Jedoch gibt es politische Zwangslagen, die durch die Rücknahme begangener Fehler nicht lösbar sind, sogar dadurch verschlimmert werden können. Im Kosovo ist die Lage so verwickelt. Nach den Luftangriffen kann die westliche Staatengemeinschaft nicht zum Status quo ante zurückkehren. Auch ohne militärische Intervention der NATO hätte im übrigen Milosevic die Vertreibungen im Kosovo fortsetzen lassen und auch so die Gefahr eines regionalen Krieges heraufbeschworen. Bekanntlich marschierte die serbische Armee bereits eine Woche vor den Luftschlägen im Kosovo ein, die "ethnischen Säuberungen" und Brandschatzungen von Ortschaften begannen aufs neue, bevor NATO-Raketen flogen.

Die befristete Aussetzung der Luftangriffe ist dennoch jederzeit geboten, wenn sie mit klaren Erwartungen an den Kriegsgegner verbunden wird. Würde allerdings die NATO ihre Kriegshandlungen bedingungslos einstellen, wäre das ein beispielloser Sieg des serbischen Regimes. Seine Verschärfung der Gewalthandlungen im Kosovo würde nachträglich politisch geradezu belohnt. Ein einseitig verkündetes Kriegsende läßt den Nationalisten freie Hand, im Kosovo weiter zu vertreiben, zu zerstören, zu morden. Dass Milosevic diese "Chance" nicht nutzen würde, ist aus seinem bisherigen Handeln nicht abzuleiten, zumal dann die UCK, und zwar nachvollziehbar, den bewaffneten Kampf keinesfalls aufgeben würde.

Wenn sich die NATO jetzt zurückzieht, wird die Ausuferung des Kosovo-Kriegs zu einem regelrechten Balkan-Krieg nicht gestoppt, sondern vielmehr wahrscheinlicher. Die bisher (15.4.) 700.000 Vertriebenen sind ja, selbst wenn Westeuropa endlich seine Grenzen öffnet, nicht "aus der Welt". Im Kosovo wird die albanische Bevölkerung, wenn nicht ganz außer Landes getrieben, in räumlichen Großghettos pauperisiert, terrorisiert und traumatisiert leben. Natürlich - und wahrlich nachvollziehbar - werden alle Flüchtlingsdörfer Rekrutierungscamps der Guerilla sein, wird erwartungsgemäß die UCK grenzüberschreitend agieren. Damit wären Präventivschläge der serbischen Armee außerhalb des besetzten Landes absehbar.

Die Lage von Montenegro, das sich von der Amok-Politik Milosevic bisher erfolgreich abgesetzt hat, würde immer prekärer. Daß Albanien in den Krieg, Makedonien in einen Bürgerkrieg mit unabsehbaren Folgen hineingezogen würden, wäre dann nur eine Frage der Zeit. Nicht auszudenken, wenn dann eine der Regionalmächte Türkei oder Griechenland interveniert und die andere entsprechend reagiert.

Der Entwicklung eines solchen Szenarios dürfen wir nicht tatenlos zusehen. Wie können wir dem aber begegnen, ohne umgekehrt in die Falle einer militärischen Eskalation zu tappen? In NATO-Kreisen werden verschiedene Planspiele eines Bodenkrieges diskutiert. Die Skala reicht von der humanitär begründbaren Einrichtung von Schutzzonen - wie im nordirakischen Kurdistan 1991 - bis zur militärischen Niederwerfung Serbiens.

Militärische Planspiele helfen hier aber nicht weiter. Wenn Intellektuelle aus der Zivilgesellschaft jetzt die Eröffnung eines umfassenden oder eines begrenzten Bodenkriegs fordern, machen sie es sich zu leicht. Sie müssen nicht die Kastanien aus dem Feuer holen, das sie aus durchaus humanitären Motiven anfachen helfen. Vor allem aber können sie kaum die Probleme und Risiken solcher "Bodenkriege" beurteilen. Gegenüber trainierten Militärstrategen bleiben sie blutige Laien. Und daß selbst diese Experten heillose Planungsfehler begehen können, hat - siehe oben - am NATO-Luftkrieg der Balkan leidvoll erfahren müssen.

 

Aufgabe ziviler Intelligenz bleibt auch in kriegserschütterten Zeiten, vornehmlich die Möglichkeiten politischer Lösungen zu bedenken. Kurzfristige wie langfristige. Daß es die Menschenrechte gebieten, die Verbrechen im Kosovo direkt zu stoppen, ist dabei mit bedacht. Das schließt aber allerdings die Erwartung ein, daß die Kriegsführung auf ihre humanitären Ziele begrenzt bleibt und nicht zu einer umfassenden militärischen Offensive gegen den Kriegsgegner erweitert wird.

Es müssen langfristige Angebote auf den Tisch, die dem Kosovo wie Serbien eine Zukunft jenseits des völkischen Nationalismus öffnen. "Die Erde gehört allen - darum niemand". Dieser anarchistische Leitspruch hat überall dort wieder Aktualität, wo Territorien völkisch zugeordnet werden. Der Kosovo ist nicht albanisches Land, er ist noch weniger serbische Urheimat. Im Land haben diejenigen Rechte erworben, die dort siedeln, Eigentum oder familiäre Abstammung geltend machen können. Keine staatlich organisierte, keine staatlich geduldete Vertreibung kann ihnen diese Rechte entziehen. Keine ethnisch definierte Gruppe darf diese Rechte im minderen Maße haben, ob sie albanisch, serbisch oder als Roma definiert wird. Wenn die ethnische Vielfalt mit staatlicher Hegemonie und mit staatlichen Homogenitätsansprüchen in Konflikt kommt, müssen die Rechte des Staates gegenüber den Rechten der Menschen zurücktreten.

Daß die Ansprüche staatlicher Macht beschränkt gelten, muß dem völkischen Nationalismus entgegengehalten werden. Ohne Einschränkung gilt dann ein Rückkehrrecht der vertriebenen AlbanerInnen wie ein Bleiberecht der SerbInnen auch im Kosovo. Übrigens auch ein Rückkehrrecht der Krajina-Vertriebenen in ihre Heimat, die Milosevic jetzt in leergeräumte Dörfer des Kosovo ansiedeln will.

Die Wiederherstellung solcher Rechte muß im Vordergrund politischer Lösungen auf dem Balkan stehen, die Frage der staatlichen Organisation oder Zuordnung des Kosovo ist demgegenüber sekundär. Sie ist auch deshalb sekundär, weil jede volksstaatliche Neugliederung nicht nur des Kosovo, sondern des zerfallenden Jugoslawien insgesamt scheitern muß. Sie könnte allenfalls gelingen, wenn die Staaten und ihre territorialen Grenzen zunächst festgelegt und anschließend die erwünschte beziehungsweise unerwünschte Bevölkerung sortiert, umgesiedelt, ausgetauscht wird. Diese menschenfeindliche Verabsolutierung des völkischen Staats betreibt Milosevic seit Jahren, sie ist der Hauptgrund für den jetzigen Konflikt.

Jede weitere Konzession in diese Richtung destabilisiert den Balkan weiter. Jeder Scheinfriede unter Hinnahme des völkischen Staatsprinzips legt den Keim für neue Konflikte, Vertreibungen, Menschenrechtsverletzungen.

 

Welche Aussicht kann Westeuropa, nicht die NATO, anbieten? Es mehren sich die Stimmen, die ein umfassendes Hilfsprogramm für alle Balkanländer nach dem Vorbild des Marshall-Plans verlangen. Aus diesem Programm darf Serbien nicht ausgeschlossen sein, sofern es den - gegenwärtig unwahrscheinlich erscheinenden - Kurswechsel hin zur Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte vollzieht. Für ein solches Programm spricht auch die Feststellung, daß beim Zerfall Jugoslawiens und beim Aufstieg des Nationalismus sozioökonomische Gründe ausschlaggebend waren.

Dem Zerfall gingen in den 80er Jahren eine wirtschaftliche Dauerkrise und eine Zunahme der regionalen Unterschiede vom relativ wohlhabenden Slowenien bis zum verarmenden Kosovo voraus. Das System des Finanzausgleichs scheiterte an den wachsenden regionalen Egoismen. 1998 lag das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Slowenien sechsmal so hoch wie in Rest-Jugoslawien und Makedonien und achtmal über dem in Bosnien-Herzegowina. Das relative Bruttoinlandsprodukt in Kroatien lag zweieinhalb bis dreieinhalb mal so hoch wie in den zuletzt genannten Ländern.

Ein breit angelegtes Hilfsprogramm für ein Gebiet, das samt der angrenzenden Staaten 80 Millionen Menschen umfaßt, kann nicht mit der linken Hand erledigt werden. Wie weit der Weg dahin ist, hat der Berliner EU-Gipfel just zur selben Zeit demonstriert, als die NATO den Krieg gegen Serbien eröffnete. Über die Finanzierung der Milchquote in einer weiterhin umweltzerstörerischen und beschäftigungsfeindlichen Agrarförderung wurde bis zur Auszugsdrohung des spanischen Präsidenten Aznar gefeilscht, für die Finanzierung der mittel-osteuropäischen Zusammenarbeit bleiben gerade 3 Milliarden Euro pro Jahr reserviert, das sind 7 Prozent der gesamten inneren EU-Landwirtschaftshilfe. Nicht einmal ein gemeinsamer Fonds zur Flüchtlingshilfe, dieses Mal von Spanien vorgeschlagen, konnte Ende März verabschiedet werden, als sich die neuerlichen Massenvertreibungen aus dem Kosovo deutlich abzeichneten.

Mit ihrem engstirnigen Wohlstandschauvinismus sät die EU die Balkankriege von morgen. Wer hier weitere Kriege vermeiden will, muß diese kurzsichtige Politik bekämpfen. Die europäische Öffentlichkeit muß endlich begreifen, daß Wohlstandsverzicht zum Zwecke der Umverteilung notwendig wird, wenn wir den Frieden auf unserem Kontinent bewahren beziehungsweise wiederherstellen wollen. Die Verarmung der (meisten) Balkanländer kann nicht aus den Portokassen der EU gestoppt werden. Hier tun besondere finanzielle Anstrengungen und eine nicht-imperiale, auf Gleichwertigkeit basierende wirtschaftliche Zusammenarbeit not.

 

Ein umfassendes Hilfsprogramm löst jedoch nicht das Problem der staatlichen Neuorganisation im zerfallenden Jugoslawien. Hier kann der Hinweis auf ein zeitliches Zusammentreffen nützlich sein. Die Geburtswehen einer neuen Gesellschaftlichkeit sind manchmal recht gewaltsam, manchmal eher sanft, manchmal bleiben sie fast unbemerkt. Am 24. März hat Europa alle drei Varianten in unterschiedlichen Ereignissen erlebt:

Gewaltsam hat die NATO an jenem Tag das Prinzip der staatlichen Souveränität durchbrochen. Und viele haben diese - oben allerdings aus anderen Gründen kritisierte - Handlung als Bruch des Völkerrechts denunziert, mit dem bekannten Argument, daß der zum Einsatz nötige einstimmige Beschluß des Sicherheitsrats gefehlt hat. Das Nein der Großmächte Russland und China war übergangen. Tatsächlich hielten die NATO-Länder die Verletzung der Menschenrechte für so gravierend, dass sie die Achtung staatlicher Souveränität zurückstellten. Erst als das souveräne Serbien mehrere Resolutionen der UNO und des Sicherheitsrates in den Wind schlug, erst als mehrfache Verhandlungsversuche scheiterten und die Belgrader Regierung die Verbrechen im Land nicht stoppte, sondern fortsetzte, griff die NATO zu militärischen Maßnahmen. Man kann diese Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt kritisieren, ob sie ihr Ziel erreichen oder nicht. Daß das Völkerrecht der unbedingten staatlichen Souveränität an den Prinzipien der Menschenrechte gemessen wird, halte ich hingegen für zukunftsweisend.

Durch die Kosovo-Zuspitzung wenig bemerkt blieb daher am selben Tag ein Schiedsspruch des als konservativ verschrieenen britischen Oberhauses. Unter anderen Umständen hätte er die donnernde Zustimmung der europäischen Linken gefunden. Die Lords wiesen den Anspruch des ehemaligen Putschisten-Generals und Diktators Pinochet auf Immunität außerhalb Chiles für Verbrechen zurück, die er in Chile begangen hat. Auch hier hatte die Berufung auf staatliche Souveränitätsansprüche das Nachsehen.

Zur eher sanften Art gehört das dritte Ereignis an diesem historischen 24. März. Bekanntlich nominierten da die Regierungschefs der EU-Länder Romano Prodi zum neuen Präsidenten der Europäischen Kommission. Und der allgemein geschätzte Polit-Professor macht gleich in seiner ersten Reaktion auf seine Wahl unmißverständlich klar, daß die EU-Staaten durch ihre wechselseitigen Verflechtungen bis hin zur Währungsunion unwiderruflich auf ihre Souveränität alten Typs verzichtet haben.

Besonders das letzte Ereignis gibt den Fingerzeig: Weniger die NATO, vor allem die EU ist dabei, in einem Teil Europas das alte Modell staatlicher Souveränität zu unterlaufen. Daß die politischen Machthaber in keinem der beteiligten Länder mehr entscheiden können, wie nur sie es für richtig befinden, ist auf die viel zitierte Globalisierung vieler gesellschaftlicher Prozesse eine angemessene Antwort.

Hier interessiert das mögliche Angebot an die Balkan-Länder. Die staatlichen Neubildungen dort haben im Modell nationaler Souveränität keine Zukunft. Ihre Perspektive muß die Einbeziehung in eine gesamteuropäische Union sein. Der zügige Beitritt unter den bekannten demokratischen Prinzipien und mit wirtschaftlichen Übergangsregelungen muß das Angebot der jetzigen EU an alle Balkan-Länder und Regionen sein. Die Fragen nach Unabhängigkeit, Autonomie, nach Grenzziehungen und gegebenenfalls doppelter Souveränität wie in Bosnien-Herzegowina werden merklich entschärft, wenn die einzelnen Länder und Gebiete in einen übergreifenden Staatenverbund integriert und in ihrer demokratischen Selbstverwaltung von unten gestärkt werden.

Gerade in einer jetzigen deutschen Regierungspartei war vor Jahren der Slogan populär, daß ein gemeinsames Europa aus gestärkten Regionen und unter Rücknahme der Nationalstaaten erwächst. Für die Länder und Regionen des ehemaligen Jugoslawien und für deren Nachbarländer kann das immer noch ein Ausweg sein, der sie aus dem Teufelskreis von wirtschaftlicher Verarmung und völkischem Nationalismus herausführt.