Plädoyer für einen politischen Pazifismus

Für das Wegsehen gibt es keine Legitimation

Roland Schaeffer

Die Bundesregierung und die NATO haben keinen Krieg begonnen, sie haben in einem im letzten Herbst begonnenen Vertreibungskrieg interveniert. Sie verfolgen dabei keine eigenen Interessen, sondern bemühen sich, einen Beitrag zum Schutz der Menschenrechte der Bevölkerung im Kosovo zu leisten.

 

Mit den herkömmlichen Kriegen zwischen Staaten und Nationen, die der Grund für die Entstehung der modernen Friedensbewegungen waren, hat der Konflikt im Kosovo deshalb nichts zu tun. Im Gegenteil: Er ist ein Signal für das Ende eines Zeitalters, in dem einzelne Staaten und Nationen glaubten, die von ihren Führungen formulierten "nationalen Interessen" über Menschenrechte und Minderheitenschutz stellen zu können. Das Vorgehen der NATO im Kosovo ist ein Schritt hin zu einer künftigen Weltinnenpolitik. Und obgleich es von den USA entscheidend gestützt wird, ist es zugleich sowohl ein Zeichen für die Notwendigkeit als auch für das Entstehen einer neuen Ordnung für ganz Europa. Wie gerecht diese Ordnung sein kann, und welche Institutionen und Methoden sie aufrechterhalten - das ist die Frage, die sich künftig all jenen stellt, die sich in der Tradition der pazifistischen Bewegungen dieses Jahrhunderts sehen.

Diese pazifistische Tradition für die Grünen zu überprüfen, zu erhalten und weiterzuentwickeln - das soll hier vorgeschlagen werden. Nur so ist sie vor jenem von Joschka Fischer so genannten Zweckpazifismus zu bewahren, der sich nicht scheute, gemeinsam mit serbischen Nationalisten auf den diesjährigen Ostermärschen aufzutreten und diese Institution des öffentlichen Friedensbekenntnisses vielerorts zu einer Kakophonie des Zynismus, zu einer skrupellosen Instrumentalisierung der Gewissensnöte von Menschen und der Verdrehung hochachtbarer Überlieferungen zu machen.

 

Alte Widersprüche  Welche politischen Potentiale im pazifistischen Denken noch immer enthalten sind und für die heutige Politik fruchtbar werden könnten,  zeigt bereits ein kurzer Rückblick auf die Geschichte dieser Denkrichtung.

Der christlich motivierte Gewaltfreiheits-Pazifismus steckt, 200 Jahre später, abermals in demselben Dilemma, das Benjamin Franklin am Beispiel des Verhaltens der Quäker in seiner Heimatstadt zum amerikanischen Unabhänigkeitkeitskrieg beschrieben hat. Da sie als strikte Pazifisten für Waffen und Munition kein Geld geben durften, zugleich aber die Ziele mittrugen und in ihrer Durchsetzung keine Alternative sahen, sammelten sie beachtliche Summen, die sie der Regierung mit der Maßgabe übersandten, davon "verschiedenerlei Korn" zu kaufen - eine Formulierung, die auch die Beschaffung von Schießpulver offenließ. In einem ähnlichen Dilemma standen die christlichen Pazifisten im zweiten Weltkrieg. Daß Milosevic - nachdem er den Weg des Massenmordes eingeschlagen und mittlerweile rund 30<%10>0<%0>000 Menschen auf dem Gewissen hat - durch gewaltfreie Aktionen in keiner Weise zu beeinflussen sein wird, wissen auch jene, die "Verhandlungen statt Bomben" fordern. Weil die meisten dieser Menschen ebensowenig bereit sind, das Leben und die Menschenrechte der albanischen Bevölkerung einfach aufzugeben, stehen sie vor einem unauflösbaren Gegensatz. Viele der gegenwärtig formulierten Friedensappelle klingen deshalb merkwürdig ungenau. Da nur die NATO überhaupt Argumenten zugänglich scheint, ist sie der Adressat dieser Botschaften - als ob sie mit den kriegerischen Aktionen begonnen hätte. Am ehesten ist diese Richtung in der Solidarität mit den Opfern des Krieges mit sich identisch.

Sehr viel weniger stringent argumentiert der "Gelegenheitspazifismus", der der NATO die mangelnde Perfektion ihrer Aktionen und die Beschränktheit ihrer Erfolge vorwirft. Daß nur aus der Luft angegriffen wird, daß Sonderpolizei und Milizen schwer zu treffen sind, daß manchmal die Falschen getroffen werden: Solche Kritiken wären dann glaubwürdig, wenn diejenigen, die sie vortragen, die militärische Gewaltanwendung selbst grundsätzlich  akzeptierten. So aber vermitteln sie den verwirrenden Eindruck einer paradoxen Verbindung von prinzipiellem Pazifismus und gelegentlichem "Militär-Expertentum".

Und schließlich trägt aus dem Mund von Pazifisten weder der Hinweis auf das fehlende UNO-Mandat noch auf die "Souveränität" des angegriffenen Staates sehr weit. Denn: Der Grund dafür, daß die UNO kein Mandat erteilte, ist ihre Schwäche: Daß sie wegen ihrer inneren Interessenwidersprüche (konkret: der Mitgliedschaft zweier Staaten im Weltsicherheitsrat, die ähnliche Menschenrechtsverletzungen kürzlich begangen haben) nicht in der Lage war, Menschenrechtsverletzungen und flagrante Ignoranz von UNO-Beschlüssen, etwa durch ethnisch begründete Vertreibungen, zu verhindern oder zu sanktionieren. Der Zweck der Intervention ist deshalb die Durchsetzung der von der UNO gesetzten Ordnung.

Und was die Souveränitätsfrage angeht: Es waren Pazifisten, die als erste Zweifel an der Souveränitätsdoktrin und ihrer militärischen Umsetzung äußerten: Daß in manchen Staaten die militärischen Mittel, die sie vorgeblich zur "Verteidigung" nach außen aufhäuften, in Wahrheit gegen die eigene Bevölkerung gerichtet waren, ist ein gerade von Pazifisten häufig kritisierter Zusammenhang. Mehr noch: Der Gedanke der "einen Welt", die Idee der "Weltinnenpolitik", der Schutz des Lebens und der Freiheit von Menschen - alle diese schon vor Jahrzehnten von pazifistischen Intellektuellen formulierten Ideen zielen auf ein Gewaltmonopol, das oberhalb des Einzelstaates und seiner Souveränität angesiedelt werden sollte. Durch ein solches Gewaltmonopol würde aber die Souveränität des Einzelstaates automatisch eingeschränkt. Daß Pazifisten als Staatsfeinde, als "Internationalisten", als "vaterlandslose Gesellen" oder einfach als "Feiglinge" beschimpft worden sind, hat genau dort seine Ursache: Sie weigerten sich, die Souveränität des Einzelstaates und die dadurch (angeblich) geschützten Interessen der eigenen Nation über alle anderen Werte zu stellen und dafür andere Menschen und Völker zu töten.

 

Historische Ansätze für einen politischen Pazifismus  Natürlich sind die in den letzten Monaten wieder aufgebrochenen Widersprüche der pazifistischen Argumentation alles andere als neu. Daß ethische Ziele nicht unmittelbar in politische Handlungen umsetzbar sind, sondern der Übersetzung in politische Strategien bedürfen, daß auch die Forderung nach "Gewaltfreiheit", wenn sie in die Wirklichkeit übertragen wird, zu ihrer Durchsetzung Institutionen benötigt, die in gewissen Situationen begrenzt Gewalt anwenden - die pazifistischen Intellektuellen, unter denen sich einige der klügsten politischen Köpfe des letzten Jahrhunderts fanden, wären tatsächlich die Versammlung von realitätsblinden Schwärmern, als die ihre Gegner sie immer denunziert haben, wenn sie diese Zusammenhänge nicht erkannt hätten. Die Forderung nach einem wirksamen Gewaltmonopol auf internationaler Ebene stammt denn auch von niemand geringerem als Alfred H. Fried, der die "Deutsche Friedensgesellschaft" im Jahr 1892 begründet hat. Er forderte schon vor dem 1. Weltkrieg eine "grundlegende Veränderung des zwischenstaatlichen Zusammenlebens ... innerhalb dessen die Aufrechterhaltung der Ordnung und die möglichste Vermeidung von Gewalt, ihre eventuelle Anwendung nur zum Zwecke der Wiederherstellung der gestörten Ordnung, die Hauptaufgabe der Politik, die Lebensfrage der gesamten Staatengemeinschaft bilden wird."1 Die Errichtung internationaler Institutionen, die, falls andere Möglichkeiten der Konfliktregelung scheitern, im Sinne einer Weltpolizei über militärische Mittel verfügen, war für ihn ein Kernpunkt pazifistischer Politik. Die UNO verdankt, wie ihr Vorläufer, der Völkerbund, solchen Impulsen ihre Existenz. Daran kann und muß jede moderne Außenpolitik anknüpfen.

Strikt gewaltfrei ist ein derartiger politischer Pazifismus allerdings nicht. Er akzeptiert Gewalt als letztes Mittel, nachdem alle anderen versagt haben und soweit sie zum Schutz der internationalen Ordnung erforderlich ist. Dabei steht sie unter dem Vorbehalt, daß die Situation nicht verschlimmert werden, sondern Schlimmeres verhütet werden soll. Alfred H. Fried weiß um diese Konsequenz, und er nimmt sie bewußt in Kauf, weil er seine pazifistischen Ideen praktisch wirksam werden lassen will.

"Während sich die Gegner der Friedensidee keinen ,ewigen Frieden` vorstellen können, da ihre Vorstellung immer nur von dem gegenwärtigen anarchistischen Zustand beherrscht wird, und sie dadurch immer zu dem Schlusse kommen, die Friedensidee im ganzen zu verwerfen, kann der Pazifismus... auf die Forderung eines ewigen Friedens ruhig verzichten, weil selbst Gewaltanwendung innerhalb einer zwischenstaatlichen Organisation niemals jene unheilvollen Folgen besitzen würde, die die Gewaltanwendung unter der Herrschaft der Staatenanarchie besitzt." Und weiter: "Ein solcher ,Krieg würde nicht mehr eine blinde oder bewußt herbeigeführte Gewaltexplosion mit bloß vorgeschützter Konfliktbegründung darstellen, sondern immer einen Kampf im Dienste des Rechts, und sich dadurch gründsätzlich von unseren heutigen Kriegen unterscheiden, die anstelle des (fehlenden) Rechts treten." Eben dafür, daß diese Selbstbeschränkung des Konfliktes auch im Kosovo-Krieg gewahrt bleibt, muß grüne Außenpolitik eintreten. Zu der Notwendigkeit, die formulierten Ziele durchzusetzen, steht das nicht im Widerspruch.

 

Politischer Pazifismus als Modernisierung der Außenpolitik  Die Perspektive eines "politischen Pazifismus" ist allerdings keine "Grundwahrheit", auf die man sich ein für allemal berufen und die man als Partei gewissermaßen "besitzen" kann. Wie für alle politischen Strategien gibt es auch für den politischen Pazifismus keine Erfolgsgarantie: Um seine Ziele zu erreichen, benötigt er strategische Kreativität ebenso wie taktisches Geschick und politische Professionalität. Initiativen zur zivilgesellschaftlichen und organisatorischen Konfliktverhinderung oder -begrenzung, wie sie von pazifistischen Theoretikern vorgeschlagen wurden, können erfolgreich sein, sie können aber auch zu Mißerfolgen führen.

Für den Krieg im ehemaligen Jugoslawien kam beim Amtsantritt die Entwicklung einer derartigen Strategie aus Zeitgründen nicht mehr in Frage. Hier mußte auf Basis der vorhandenen politischen Institutionen und Instrumentarien entschieden werden.

Ob diese vorhandenen Institutionen und Instrumentarien, die die westliche Diplomatie und die militärischen Apparate zur Bewältigung der Krise einsetzen, den Leistungsanforderungen genügen, die die westlichen Gesellschaften an ihre eigenen Konfliktregelungsverfahren zu stellen gelernt haben, ist eine ganz andere Frage. Schon eine oberflächliche Betrachtung legt die Vermutung nahe, daß das nicht der Fall ist.

 

Zivilgesellschaftliche Methoden der Konfliktbearbeitung  Daß ein Krieg eine Niederlage der Politik ist (und nicht, wie vor hundert oder noch vor 60 Jahren, die "Auslese der Besten" aus der Volksgemeinschaft, die Gelegenheit für die Verteidigung der Ehre der Nation oder die Chance auf den Heldentod), ist heute bei uns Konsens der großen Mehrheit der Gesellschaft. Zugleich haben sowohl die kriegerischen Vernichtungspotentiale als auch die persönlichen und organisatorischen Verbindungen, die Volkswirtschaften und Individuen international zusammenhalten, dramatisch zugenommen. Die Politik reagiert auf die so entstandenen neuen Gefährdungen, aber auch auf die neuen Möglichkeiten mit großer Zeitverzögerung.

Die Erneuerung der zivilgesellschaftlichen, der "vormilitärischen" Methoden der Konfliktbearbeitung und die Entwicklung neuer Strategien des Umgangs mit Friedensstörern wäre die Kernaufgabe eines politischen Pazifismus. Die Möglichkeiten dazu wachsen mit jedem Schritt der Internationalisieurung von Wirtschaft und Gesellschaft. Daß die alten Treibstoff- und Energieembargos nicht in jedem Fall und vor allem nicht kurzfristig wirken, mag sein. Daß so etwas im Fall Ex-Jugoslawiens nicht seit Jahren versucht wird, ist ein dramatisches Versagen der alten Außenpolitik und der Parteien, die sie getragen haben. Und weshalb konnte es völlig problemlos weiterhin Zug-, Auto-, Bus- und Flug- und Geldverkehr in die Hauptstadt des Aggressorstaates geben? Weshalb funktionierten die Telefonleitungen? An Ansatzpunkten, die den Menschen in Serbien die Konsequenzen ihres Handelns hätten schon früher spürbar machen können, fehlte es nicht.

Um nur einen weiteren frappierenden Punkt zu nennen: Ex-Jugoslawien ist Teil einer globalisierten und medialisierten Weltgesellschaft. Und wenn es möglich ist, die Souveränität eines Staates militärisch zu ignorieren - weshalb etwa bleibt dann die Souveränität dieses Staates über das wichtigste Medium, das Fernsehen, erhalten? Wenn das Wahnsystem des großserbischen Nationalismus seit zehn Jahren den Balkan in eine Kette von Blutbädern und Katastrophen stürzt, weshalb gibt es nicht seit dieser Zeit einen für die serbische Bevölkerung bestimmten Fernsehkanal, der vom synchronisierten Hollywoodfilm bis zum philosophisch-politischen Diskurs alle Unterhaltungs- und Informationsbedürfnisse befriedigt und zugleich für friedliche Lösungen der anstehenden Konflikte wirbt? Der den "einfachen Leuten" das (uns Deutschen nur zu bekannte) Argument aus der Hand schlägt, was im Kosovo vor sich gehe, wisse man in Belgrad nicht? Der die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, die Opfer und die jeweiligen Oppositionellen zu Wort kommen läßt? Der die Werbe-Teams von Camel oder Coca-Cola auf den Widerspruch ansetzt zwischen dem Wunsch der Bevölkerung nach Konsumstandards, die baldmöglichst EU-Niveau erreichen sollen, und einer aberwitzigen Strategie nationalistischer Verhetzung, die mit einer verlorenen Schlacht im 14. Jahrhundert einen Völkermord im 20. begründet?

Gewiß, derart neue Methoden internationaler Politik liegen nicht in der ehrwürdigen und gediegenen Tradition der europäischen Diplomatie - die Karrierewege dorthin waren nicht umsonst lange Zeit bestimmten sozialen Schichten vorbehalten und galten dort als Alternative zum ebenso würdigen und ehrenvollen Kriegshandwerk. In der pazifistischen Tradition zivilgesellschaftlicher Verfahren der Konfliktbegrenzung und -verhinderung liegen solche Modernisierungsimpulse sehr wohl. Sie müßten eine Politik der Menschenrechte und der Stärkung internationaler Institutionen begleiten und stützen.

Für das Wegsehen bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt es keine Legitimation. Die künftige deutsche Außenpolitik kann deshalb nicht immer gewaltfrei sein. Aber die Voraussetzungen sind gut, sie pazifistisch zu gestalten: als Versuch der zivilgesellschaftlichen Vermeidung und Mäßigung militärischer Gewalt. Bündnis 90/Die Grünen können der deutschen Außenpolitik in diesem Sinne tatsächlich ein neues Gesicht geben.

 

1 Alfred H. Fried, Was ist ursächlicher Pazifismus? (1908/1916), zitiert nach: Wolfgang Benz (Hg.), Pazifismus in Deutschland, Dokumente zur Friedensbewegung 1890-1939, Frankfurt am Main (Fischer TB) 1988.