Editorial

Joscha Schmierer

Wahrscheinlich stand der Kommentar im Figaro, es könnte aber auch eine andere französische Zeitung gewesen sein: Es sei kein Zufall, daß Europa ausgerechnet jetzt, wo die Regierungen in den meisten Ländern von Sozialdemokraten geführt seien, in einen Krieg hineingezogen werde. Grundlage dafür sei eine verhängnisvolle Moralisierung der Politik, die mit der Bewegung gegen den Vietnamkrieg begonnen habe. Diese Tendenz breche mit der europäischen Tradition, Außenpolitik strikt nach nationalen Interessen zu definieren. Sie seien im Kosovo keineswegs verletzt genug, um eine Intervention zu rechtfertigen.

Das Argument ist ausbaufähig, etwa so: In den USA gibt es schon immer die Tendenz, Außenpolitik mit ideologischen Motiven zu belasten, und jetzt haben sie einen Präsidenten, der die politischen Bildungserlebnisse seiner europäischen Kollegen teilt. In eben dieser Konstellation gelingt es den USA, Europa in einen Krieg zu verwickeln, der die Abhängigkeit von den USA verstärken muß.

Das Argument kann noch weitergeführt werden: Den USA schwebt eine Welt vor, in der die Nationalstaaten grundlegend geschwächt sind und der Markt uneingeschränkt herrscht. Der Angriff auf die Souveränität Serbien-Jugoslawiens richte sich deshalb letztlich gegen die europäischen Nationalstaaten selbst. Mit denen hätten bekanntlich windig moralisierende Sozialdemokraten oder gar deutsche Grüne noch nie viel am Hut gehabt.

In diesem Zusammenhang kann dann auch von einem Krieg gegen den Euro gesprochen werden, den die USA führten und die europäischen Staaten, dämlich wie sie sind, mittrügen. Danach geht es bei der Intervention im Kosovo in erster Linie darum, die zukünftige Supermacht Europa zu schwächen. Und ist der Kurs des Euro gegenüber dem Dollar in diesen Wochen nicht deutlich gefallen?

Egal, was man von dieser keineswegs erfundenen Argumentation hält - sie kann bis in die Kritik der Kriegstechnik durchgezogen werden -, wahr ist, daß ein Mißerfolg der NATO-Intervention die Präsenz der USA und ihren Einfluß in Europa schwächen wird. Insofern kämpft Milosevic an einer alten weltpolitischen Front, die alle postkommunistischen Politiker schon in der Grundschule studiert haben. Es ging immer darum, einen Keil zwischen (West-)Europa und die USA zu treiben. Der Grund ist einfach: Ohne den Rückhalt der USA ist die Europäische Union auch heute zu der vereinbarten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht in der Lage. Rußland ist nämlich, anders als viele denken, auch nach dem Zerfall der Sowjetunion und trotz - teilweise sogar wegen - der tiefen ökonomischen und politischen Krise eine Supermacht in Europa geblieben. Nicht in dem Sinne, daß sie Europa hegemonial beherrschen könnte, wohl aber in dem, daß nur sie das Potential hat, den Kontinent zu desorganisieren. Ob Rußland weiter implodiert oder doch noch explodiert, ob es die staatliche Kontrolle über sein militärisches Potential behält oder nicht: Europa allein kann mit den darin liegenden Gefahren nicht umgehen. Über der Frage, wie mit ihnen umzugehen ist, wird es sich unvermeidlich spalten, wenn es schwierig wird. Und mit der serbischen Politik unter Milosevic ist es schon sehr schwierig geworden. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik innerhalb der EU ist unter solchen Umständen nur mit der NATO möglich. Wenn man die EU als Zivilmacht schätzt, muß man die NATO zumindest in Kauf nehmen.

Die Intervention gegen die völlige Entrechtung und schließliche Vertreibung der Kosovo-Albaner, der zuzusehen der EU jede Attraktionskraft nehmen würde, ist die erste Aktion einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik - mit Hilfe der NATO und, horribile dictu, unter entscheidender Beteiligung der USA. Daß die USA und die EU gegenüber der den Balkan und Europa chaotisierenden Politik Milosevics - der an einer weltpolitischen Front agiert - eine gemeinsame Antwort gefunden haben - egal wie angemessen sie im einzelnen sein mag -, bleibt die Voraussetzung für eine Lösung, die die Zukunft Europas nicht verbaut.

Ja, es gibt eine transatlantische Moralisierung der Außenpolitik. Neben der Bildung der Europäischen Union könnte sie der entscheidende Faktor sein, damit aus dem Verschwinden der Blockordnung nicht das blanke Chaos entspringt. Eine internationale Friedensordnung wird von durch die USA gestützte zivilen Regionalbündnissen abhängen.

Zurück zu Vietnam: Der Widerstand gegen die USA entsprang aus einer Enttäuschung. Zugleich richtete er sich gegen das Gefolgschaftsverhalten der westeuropäischen Staaten. Er rechtfertigte sich schließlich revolutionär: Sieg im Volkskrieg, Sozialismus. Inzwischen kann man wissen, daß die Verhinderung von Vernichtung und Vertreibung, die Geltung von Menschenrechten und Regeln der demokratischen Republik unter den Mitgliedstaaten der UNO revolutionär genug wäre. Wenn man schon vergleichen will, dann ist Kosovo das Vietnam Milosevics, ein hemmungsloser Anti-Befreiungskrieg, der im Unterschied zu damals nur auf die Zivilbevölkerung zielt und auf keinen inneren Widerstand stößt.

Die Intervention im Kosovo wird in die Geschichte eingehen - vielleicht als gigantischer Reinfall, vielleicht als Anfang einer neuen internationalen Ordnung. Wie im öffentlichen Bewußtsein hat sie in diesem Heft alle anderen politischen Fragen an den Rand gedrängt. Der Einsatz ist hoch.