Das bittere Labyrinth

Echos der Vergangenheit in neuer spanischer Literatur

Michael Ackermann

Es gleicht einem Fanal, wie der junge Stier, der mit brennenden Hörnern durch die nächtlichen Gassen des valencianischen Dorfes rast, begehrt und gefürchtet zugleich von den enthusiasmierten Bewohnern. Unter ihnen der junge Rafael Serrador, der sich wünscht, "daß der Stier es mit dem ganzen Dorfe aufnehme, keinen Stein auf dem anderen lassen möge". "Und wenn er nachts wachliegt, stellt er sich die rauchenden Trümmer des Dorfes vor, alle seine Nachbarn schwer verletzt, und wie sich ein langer Zug von Feuerstieren einem Regenbogen gleich über den Himmel zieht." Es dauert nur wenige Jahre, bis diese schaurige Vision Wirklichkeit wird - im spanischen Bürgerkrieg. Da allerdings ist auch Rafael Serrador nur noch eine Leiche von so vielen, die das "magische Labyrinth" schon zum Auftakt, dem gescheiterten Putsch der Francisten in Barcelona, verschlungen hat. Und er ist nur ein Teilchen im chaotischen Leben der Inkubationszeit des Bürgerkrieges - im ersten Band von Max Aubs sechsbändigem Romanzyklus Das magische Labyrinth.

Campo cerrado, "geschlossenes Feld", heißt in der deutschen Übersetzung nun Nichts geht mehr, und auch das ist ein durchaus treffender Titel. Denn was Aub in diesem ersten Roman seines mehr als 3000seitigen Zyklus zeigt, ist eine Gesellschaft, die nicht mehr ein noch aus weiß. So unstet, wie sein (Anti-)Held zwischen den politischen Fronten und Ideologien hin und her schwankt, so chaotisch und doch voll mannigfacher Gewißheiten förmlich bebend, rasen die Protagonisten in diesem breiten und vielstimmigen Panorama auf den Abgrund zu. Nicht sehenden Auges, jedoch voll desaströser Energie. Ob Anarchisten und Syndikalisten, Kommunisten und Falangisten, Philosophen und Sektierer, Bauarbeiter und Metzger, Militärs und Republikaner, ob Klassenkampf oder Bourgeois-Interessen, ob Kirche oder Freimaurer, alle und alles scheint wie gefangen in einem Labyrinth aus Leidenschaft und Aggression, dem Aub keineswegs rationale Züge verleiht. Man schwadroniert und diskutiert noch gemeinsam, zeigt sich gleichwohl auf der Rambla schon den Baum, an dem der Sieger den Besiegten "aufknüpfen" wird.

Nichts geht mehr ist ein Roman, oder besser: eine polyphone Chronik der Ereignisse, ohne fixierten Standpunkt. Natürlich hat Aub aus der Perspektive des Republikaners diese Chronik geschrieben, aber geschichtlichen Sinn schreibt er ihr im nachhinein nicht ein. Er vollzieht die Komplexität der Ereignisse nach wie das Grauen, die Fatalität, aber auch die Solidarität im Kampf gegen die Putschisten. Er setzt keine Denkmäler, etwa für Durruti, den legendären Anführer der Anarchisten, sondern führt mitten in die Aktionen hinein. Da ist es gut, daß die realen Ereignisse, die in diesem Roman-Labyrinth ständig eingeflochten sind, im Anhang von der Herausgeberin ebenso erhellt werden wie das Leben und Werk von Max Aub in einer Skizze.

In einem der reichhaltigen und bis ins Bizarre und Groteske reichenden Dialoge in Max Aubs Roman heißt es symptomatisch: ",Das ist nicht der richtige Weg`. - ,Welcher denn?` - ,Deiner? Das hängt vom Zufall ab?`" Dieser Zufall, so glaubt man gelegentlich zu verstehen, spielte an verschiedenen Fronten mit und in viele Entscheidungen hinein; der Zufall landschaftlicher Lage und daraus folgender Existenzbedingungen, etwa unter Bedingungen großer Abgeschlossenheit. Der Bürgerkrieg hatte nicht zuletzt daran praktisch nichts geändert, und so lebte die Masse der spanischen Bevölkerung auch zu Beginn der 50er Jahre wie auf Inseln in einem großen Meer. Ein vielgestaltiges Bild dieses Lebens liefert der englische Reiseschriftsteller Norman Lewis in Die Stimmen des alten Meeres.

Im kleinen katalanischen Dorf Farol lebt man seit Menschengedenken vom Fischfang. Fremde kennt man nicht, fremd sind den Bewohnern des "Katzendorfes" schon die Bauern aus Sort, dem sechs Kilometer entfernt im "Hinterland" liegenden "Hundedorf", die hauptsächlich von den Verkäufen der Korkeichen-Rinde leben. Die einen, in Sort, haben damals die Agitatoren der FAI abblitzen lassen, die anderen, viele Fischer aus Farol setzten sich nach dem Zusammenbruch der Ebro-Front wieder in ihr Dorf ab und gingen dem Fischfang nach. Barcelona ist weit weg, Madrid liegt auf einem anderen Kontinent, von dem ab und an Nachrichten eindringen. Gute sind es nie. Legenden und alte Feindschaften bestimmen das Dorfleben, und in Farol sind es einzig die Fischschwärme, die über Wohl und Wehe der Gemeinschaft bestimmen. Jetzt, in den Fünfzigern, wird ihr Erscheinen immer seltener, ein schwerer Sturm dezimiert zudem die kleine Fangflotte. Für Ersatz hat niemand Geld. In Sort gehen etwa zeitgleich die Korkeichenwälder an Schädlingen zugrunde; von Landbesitz allein kann man nicht leben, er ist der "Würgegriff Gottes", wie der Landadlige (als weltanschaulicher Anarchist) zu sagen pflegt. Während aus Sort die Nachrichten vom Exodus kommen, beginnt ein erfolgreicher Schwarzhändler in Farol mit der "Modernisierung" des Ortes. Was soll das Jammern über das Ausbleiben der Fische, in den Tourismus der Costa Brava muß investiert werden!

Es macht den Reiz von Norman Lewis‘ Roman aus, daß er soziales Empfinden und beiläufige Analyse mit einem Reichtum an individuellen Figuren zu verbinden weiß. Er hat nicht einfach aufgeschrieben, was er erlebt hat, er schafft es, sowohl das Verschwinden der "alten Stimmen des Meeres" als kleine Tragödie am "Rande der Welt" zu zeigen, wie auch mit viel Ironie und Humor ein Bild von Zeiten tiefgreifender Umbrüche lebendig werden zu lassen. Sein Roman steht gleichwertig neben dem grandiosen Buch seines englischen Landsmannes Gerald Brenan über das Leben in den Alpujarras (Südlich von Granada, 1990, beim Verlag Jenior in Kassel noch lieferbar), weil es begreifbar macht, welche Wandlungen ein Dorf durch den Tourismus erfährt, in dem die Folgen des Bürgerkrieges wie ein Echo nachwirken.

Als fernes Echo dringen die Folgen des Bürgerkrieges auch in Eduardo Mendozas Roman Eine leichte Komödie, in der Carlos Prullàs, Autor erfolgreicher Boulevard-Stücke, am Ende der vierziger Jahre in Barcelona in einen Mordfall verwickelt wird. Bald hat er nicht nur Probleme mit verschiedenen Frauen, vor allem sitzt ihm der Polizeichef Verdugones - Verdugo heißt Henker - im Nacken; und er weiß nicht, ob als Verehrer seiner Komödien oder als Verfolger. Bei Mendoza ist jedoch, außer in der Gestalt des schleimig-dämonischen Verdugones, das Echo nur schwach entwickelt. Die Nachbürgerkriegsgesellschaft interessiert ihn nämlich nur insoweit, als er den Stoff von Boulevardkomödien, und damit den biederen Geist der Zeit, auf die Handlung des Romans selbst erstreckt und dabei das Oben wie Unten in der katalanischen Gesellschaft zu allerhand burlesken und kolportagehaften Ausflügen nutzt. Zweifellos, auch in diesem Schmöker erweist sich Mendoza wieder (nach den großen Barcelona-Romanen wie Stadt der Wunder und Die Wahrheit über den Fall Savolta) als barocker Geschichtenerzähler mit seitenlangen Dialogen. Aber die darin angelegten Abgründe werden in dieser "leichten Komödie" eben auch leicht übersprungen. Die 540 Seiten erscheinen in diesem Lichte wenig angemessen.

Zu Beginn scheint einem das auch für den 400 Seiten starken Roman von Gustavo Martín Garzo Der kleine Erbe zu gelten. Da befinden wir uns unversehens in der Beziehung zwischen einem kleinen Waisenjungen und der siebzehnjährigen Bäckerstochter Reme, die Isma, der biblischen Geschichte entsprechend, als Baby in einem Korb gefunden hat. Das Band zwischen den beiden ist intensiv, aber es ist auch gefährlich, weil kindliche Sinnlichkeit auf erwachsene Erotik trifft. Was Reme spielerisch erprobt, nimmt Isma für bare Münze. Wo Isma noch Verläßlichkeit und Dauer sucht, ist Reme schon kokett und leidenschaftlich. Ein Drama auf mehreren Ebenen entwickelt sich. Denn in die behutsam bis zärtlich erzählte Geschichte schieben sich die Geschichten vieler Dorfbewohner und damit Leidenschaft, Tod und Gewalt. Es entfaltet sich ein Panorama des Dorflebens, das in seiner Gegenwart (Ende der 50er, Anfang der 60er) in vielerlei Weise an die alte Herrschaft und den Bürgerkrieg gebunden ist: "Das Dorf fiel in das Gebiet der Nationalen, und damit begann eine Zeit der Unterdrückung, die sehr viel dumpfer und roher war, als später zugegeben worden ist. Vergewaltigungen, Verschleppungen, Strafexpeditionen, unvorstellbar greuliche Dinge konnten mit derselben eigentümlichen Selbstverständlichkeit geschehen, mit der ein Fremder auf einem Dorfplatz stehenbleibt und den erstbesten nach dem Weg fragt. Nur daß wir uns alle kannten, und daß wir gar keinen Weg zurücklegten, außer zum Friedhof."

Es sind die lakonisch vorgetragenen Härten, die den sinnlich-detailverliebten, mit magischen und phantastischen Elementen durchsetzten Erzählfluß über den leicht wirkenden Erzählton schließlich hinausheben. Gustavo Martín Garzo beweist in Der kleine Erbe Einfühlungsvermögen in kindliche Phantasie und Weltwahrnehmung, das sich mit den Echos der Vergangenheit zu einem seltsamen Hallraum verbindet. Beeindruckend ist er schon, auch wenn er vielleicht ein bißchen zu groß ist.

Der Kreis, den Ana, die alte Frau in Rafael Chirbes Die schöne Schrift zieht, umfaßt nur die Mitglieder der Familie ihres Mannes, in die sie anfangs der 30er Jahre einheiratet. Heute sitzt sie alleine in dem alten, großen Haus und lebt mit den Erinnerungen. An die kurze Zeit des Glücks in der großen Familie - und an die lange Zeit der Hoffnungslosigkeit, die mit dem Bürgerkrieg begann und kein Ende nehmen will vor dem eigenen Tod. Das alte Leid begann mit der Niederlage der Republikaner und der Verfolgung der Besiegten. Der Bruder ihres Mannes landete für Jahre im Gefängnis, und als er zurückkam, war er ein gebrochener Mann, dessen künstlerische Talente im Suff verkümmerten, bis eine Liebe ihn wieder ans Leben heranführte. Aber diese Frau mit der "schönen Schrift, aus der die Bs und Ls wie die Segel eines Schiffes hochragten", zog ihn auf die Seite der Sieger, wo er sich auch noch seinem ehemaligen Folterer unterwirft. Während ihr Schwager Antonio also zum gegängelten Opportunisten wird, verzweifelt Anas Mann am Verhalten seines Bruders. So überlebt man zwar das Elend der Nachbürgerkriegszeit, aber alle Ideale sind zuschanden geworden - wie die Hoffnungen und die Liebe. Wenn Ana, die viel gesehen und viel erlebt, aber immer schon wenig gesprochen und noch weniger eingegriffen hat, nun ihre Erinnerungen in Worte faßt - andeutend, sparsam, von den Schatten der Toten umgeben -, dann zielen sie auf den Sohn. Der hat ihr wieder einmal geraten, ihr großes Haus zu verlassen; doch hinter seiner Fürsorge weiß Ana um sein wahres Interesse: ein profitables Appartementhaus. So ist die Lehre ihres Lebens, "daß die ganze Anstrengung umsonst war", ja mehr noch, daß diese in einem Netz aus Lügen schließlich auch keine Würde mehr bereithält: "...denn wenn auch ich gegangen bin, werden die Schatten sich noch mehr verwischen, und das alte Leid wird noch sinnloser gewesen sein."

Rafael Chirbes beweist mit seinem kurzen Roman, welche Dichte in der Kürze erreicht werden kann. An Erfahrung und an Eindringlichkeit. Die schöne Schrift (im Original 1992) wirkt wie ein Gegenstück oder wie eine Vorstudie zu seinem breiter ausladenden Roman Der lange Marsch (1998, siehe Kommune 5/98). Deswegen ist der kürzere jedoch noch lange nicht der kleinere Roman. Geprägt sind beide von der Bitternis der Desillusionierung, und gemeinsam ist ihnen auch die Verweigerung eines nostalgischen, eines befriedenden Blicks zurück.

Wie ein verschleiernder nostalgischer Blick entsteht, weiß man, wenn man alte Fotos wiedersieht und sich selbst, die Familienmitglieder und die Verstorbenen (wieder-)entdeckt. Einige Erinnerungen werden scharf, andere verschwimmen, wenn Rührung einsetzt. Julio Llamazares weiß um die Bereitschaft zur Gefühligkeit, und wenn er - oder der Ich-Erzähler, das ist hier nicht wichtig - die 28 Fotos betrachtet, die die ersten zwölf Jahre seines Lebens umfassen, dann weiß er auch, daß die Fotos nur bedingt für sich selber "sprechen". Stummfilmszenen heißt der Roman einer Kindheit, und Llamazares benutzt in ihm die Methode, aus den alten Fotos die Bilder und Töne einer vergangenen Zeit zu ziehen.

Es ist die Zeit in Olleros, "dem in den Bergen verlorenen und von allen vergessenen Bergarbeiterdorf am Ende der Welt, wo mein Vater als Lehrer arbeitete, und wo ich, neben anderen Dingen, lernte, daß Leben und Tod manchmal dasselbe ist." Was Llamazares aus den Bildern hervorholt, lebt von scharfen Kontrasten und Grauwertabstufungen. Da ist das Schwarz der Kohlehalden und das Weiß des Schnees in den langen, kalten Wintern, da sind die Arbeitsbedingungen in den Schächten, die "Steinlungen", die Unfälle und der Tod von Bergleuten. Im Schein der Taschenlampen nehmen die gefährlichen Stollen für die Kinder aber auch Farben an, und die Phantasie wird aus dem Radio mit Nachrichten von "da draußen" gespeist, bis das Kino sie mit seinen Bildern bunt macht und mit Idolen aus einer anderen Welt bevölkert. Sie mildern die Härten der abgeschiedenen Bergwelt Asturiens und die Dumpfheit des Franco-Regimes, aber sie ändern das kärgliche Leben nicht. Als Franco persönlich die Gegend besucht, wartet die versammelte Gemeinde am Wegesrand. Der Tross hält nicht eine Sekunde. "Damals wußte ich noch nicht, daß die Bergleute eine Gefahr darstellten; für jene, die über Francos Sicherheit wachten, die größte auf der ganzen Strecke."

"Zechen müssen auch Erinnerungen haben. Oder, genauer gesagt: Die Erinnerung ist ein Grubengewirr in unserem Gehirn. Ein tiefer, unergründlicher, finsterer Schacht voller Schatten und Seitenstollen, ein Schacht, so tief, wie man im Traum fallen kann, tut sich vor uns auf, je weiter wir in ihn vordringen." Weit dringt Llamazares in seinen 28 Bildern (gleich Kapiteln) vor, und schließlich erscheinen uns die von den Fotos ausgelösten Erinnerungen wie die Szenen eines Films. Es ist ein kurzer, aber intensiver Film über einen fast vergessenen Teil des spanischen Labyrinths, das der Erzähler als Gymnasiast verlassen konnte. Indem er es wieder begeht, birgt er kindliche Fundstücke aus ihm und ein Stück verschütteter Geschichte. Die hat viel Magie, aber noch mehr Bitternis.