Von der "slawophilen Onanie" zur neuen Konfrontation?

Die Motive der russischen Jugoslawienpolitik

Peter Bonin

Die russische Jugoslawienpolitik der letzten Jahre ist geprägt von drei Konstanten: Der Beispielfunktion des zerfallenden Jugoslawien für die Rußländische Föderation, einem innenpolitischen Reflex und auf internationaler Bühne von einem Nebeneinander von konfrontativer Rhetorik und substantieller Kooperation.

Im Sommer 1876 machten sich etwa 4000 russische Freiwillige im Gefolge des bärbeißigen Generals Tschernjajew auf den Weg in Richtung Balkan, wo gerade die Serben den Türken den Krieg erklärt hatten. Die Niederlage im Krimkrieg hatte die abgründige Rückständigkeit Rußlands schmerzlich bewußt gemacht. In der Erniedrigung durch die westlichen Großmächte hatte das Schicksal der Südslawen unter dem osmanischen Joch im ideologischen Haushalt des russischen Nationalismus einen Sonderposten eingenommen.1 In weiten Kreisen der Bevölkerung, vor allem aber innerhalb des Militärs und der Bildungsschichten, hatte sich eine panslawistische Begeisterung breitgemacht, die jedoch keineswegs die restlose Billigung der St. Petersburger Regierung fand. Der auch als Literat engagierte Innenminister Pjotr Walujew apostrophierte dieses Bedürfnis nach Befriedigung der nationalen Triebe als "slawophile Onanie".2

Tschernjajews Kampagne war eine Pleite. Der General blamierte sich als Kommandeur der serbischen Truppen und engagierte sich in Sachen russischer Expansion in den folgenden Jahren lieber wieder in Mittelasien, und das bekanntlich mit mehr Erfolg. Die panslawistische Begeisterung für die Serben flaute bald ab. Die Befreiung Bulgariens von der Osmanenherrschaft schien fortan realere Erfolge zu verheißen und deckte sich vor allem eher mit den politischen Interessen der Petersburger Führung. Dennoch scheint sich die Wahrnehmung einer wie auch immer gearteten special relationship<D> zwischen Serben und Russen in Geschichtsbüchern - und vor allem den Köpfen im Westen Europas - festgesetzt zu haben. Dabei sind die angesprochenen Ereignisse nur eine Handvoll loser Brocken aus dem "Steinbruch der Geschichte", an dem sich unsere Wahrnehmung beim Bau ihres historischen Erklärungsgebäudes gütlich hält.

Seit den NATO-Luftangriffen auf Serbien scheinen sie erneut ihre Bestätigung zu erhalten. Selten bot sich dem russischen Fernsehzuschauer ein so einstimmiges Bild der politischen Landschaft wie in der letzten Märzwoche. In einem außergewöhnlichen Schauspiel von Einmütigkeit verurteilten die Angehörigen aller der sonst so tief zerstrittenen politischen Lager die Angriffe der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien. Sie unterschieden sich lediglich in der Intensität der zu ziehenden Konsequenzen. Während Präsident Jelzin die Zusammenarbeit mit der NATO für beendet erklärt hat, fordern Kommunisten, wie der Duma-Sprecher Gennadi Selesnjow, die aktive militärische Unterstützung Serbiens. Die Straßen und Plätze Moskaus, vor allem rings um die US-Botschaft, werden zur Bühne für Reminiszenzen an den Sommer 1876. An Kosakenuniformen rasseln die Säbel, Popen lassen die Glocken läuten. Die Zahl der Freiwilligen, die sich eingeschrieben haben, um mit Shirinowskis Chartermaschine nach Serbien zu fliegen, hat die 4000 angeblich bereits überstiegen. Zu dieser historisch überladenen Symbolik gesellt sich nun noch ein in seinen Ausmaßen in Rußland noch nicht erlebter Antiamerikanismus, der sich nicht mehr auf die versprengten Grüppchen radikaler Nationalpatrioten beschränkt.

Die westlichen Medien haben die funktionale Bedeutung dieser politisch-historischen Symbole nicht übersehen. In der Berichterstattung wird meist deutlich, daß es sich bei der Haltung Moskaus zum hilflosen internationalen Balkan-Krisenmanagement um mehr handelt, als um die Einlösung meta-physischer Verpflichtungen. Die ohnmächtige Suche einer neuen Rolle - nach dem schmerzlichen Verlust des angestammten Großmachtstatus -, die als Erniedrigung empfundene Abhängigkeit vom westlichen Geldhahn und das Gefühl der Unterwerfung unter die vermeintlichen hegemonialen Interessen der USA werden als die tatsächlichen Gründe für die russische Haltung erkannt, Jugoslawien als Nebenschauplatz identifiziert. Der Moskauer Bürgermeister, Juri Lushkow, kann Edmund Stoiber aber noch so sehr versichern, daß Milosevic bei den Russen eigentlich alles andere als gut gelitten ist. Die westlichen Medien können noch so differenziert über die tatsächlichen Interessen der russischen Außenpolitik berichten, stehen bleibt in der Regel zumindest der Nebensatz oder die Apposition vom "historisch verwandten Volk", von "slawischer Verwandtschaft" oder der "russisch-serbischen Waffenbruderschaft". Und es sind nicht allein die "Kulturalisten", wie Peter Scholl-Latour, die in der Moskauer Politik den "Jahrtausende alten Auftrag" identifizieren, auf dem Balkan mit der Befreiung aller Slawen zu beginnen.

Zu Recht ist es aber nicht diese symbolbeladene historisierende Rhetorik, die im Westen für Verunsicherung sorgt. Vielmehr hat es den Anschein, als wäre die Moskauer Führung in der Lage, nach wie vor erfolgreich auf der Klaviatur der Drohpotentiale zu spielen, wenn sie Schiffe der Schwarzmeerflotte ins Mittelmeer entsendet, Informationen über angebliche Umprogrammierungen der Atomraketen in der Öffentlichkeit lanciert oder ankündigt, das Waffenembargo gegen Serbien einseitig aufzuheben. Die Ratifizierung des Start-II-Abkommens ist, so Selesnjow, in Jugoslawien gestorben. Unklar bleibt dabei allerdings, welche Bedeutung die angestrengten politischen Symbole haben, mit denen Moskau auf die Kriege in Jugoslawien reagiert hat. Was ist davon lediglich Simulation von Politik, und worin liegt die Substanz der russischen Haltung? Wie weit ist es noch bis zur Grenze, an der aus Säbelrasseln ein Säbelziehen wird?

So deprimierend die Tatsache klingt, daß die Konflikte, Krisen und Kriege im ehemaligen Jugoslawien seit ihrer gewaltsamen Eskalation bereits eine Dekade füllen, erlaubt sie doch auch, die Wahrnehmung, die Wirkung und die Verarbeitung der Jugoslawienkriege in Rußland im Kontext des problembehafteten gesellschaftlichen und politischen Transformationsprozesses zu betrachten. Der Ausbruch der Gewalt im ehemaligen Jugoslawien fiel mit der Agonie des Sowjetsystems zusammen. Die erfolglosen Versuche der Gorbatschow-Administration, die Union zu erhalten, wurden begleitet von einer Politik für den Erhalt des zweiten sozialistischen Vielvölkerstaates in Europa, Jugoslawien. Die Tatsache, daß sich das Milosevic-Regime während des Moskauer Putsches von 1991 auf die Seite des für den Erhalt der Union eintretenden "Notstandskomitees" stellte, wurde dabei zur belastenden Hypothek im Verhältnis zwischen der neu entstandenen Rußländischen Föderation und Jugoslawien.

In der Perspektive der vergangenen zehn Jahre werden drei Konstanten in der russischen Jugoslawienpolitik deutlich. Erstens übernahm das Schicksal des zerfallenden Jugoslawien kontinuierlich und höchst wirkungsvoll eine Beispielfunktion für die Sowjetunion, genauso wie für die Rußländische Föderation. Nur so läßt sich das immense Interesse vor allem der Opposition an einem geographischen Raum erklären, der sich weit ab von den aus Moskauer Perspektive viel bedeutenderen Konfliktregionen im eigenen Land befindet. Wenn heute die russischen Medien von serbischen Soldaten berichten, die im Kampf gegen muslimische Separatisten von NATO-Jets angegriffen werden, dann liegt aus russischer Perspektive die Assoziation zu den Vorgängen in Tschetschenien nicht mehr weit, und zwar bis hin zu der Angst, ebenfalls zum Ziel von Bomben zu werden, die doch eigentlich die Menschenrechte wiederherstellen sollten. Zweitens war und ist die russische Jugoslawienpolitik immer nur dann zu verstehen, wenn man sie vor dem Hintergrund der innenpolitischen Auseinandersetzungen betrachtet. Dieser innenpolitische Reflex ist der Hintergrund, wenn die russische Führung - drittens - im internationalen Krisenmanagement stets in einem kontinuierlichen Nebeneinander von konfrontativer Rhetorik und substantieller Kooperation auftritt.

Die Führung unter Boris Jelzin trat mit dem Ziel an, der Rußländischen Föderation den "Zugang zur internationalen Staatengemeinschaft" zu ermöglichen. Entgegen den Beteuerungen des Präsidenten und seines Außenministers Andrej Kosyrew war die tatsächliche Ausrichtung der Moskauer Außenpolitik allerdings für zahlreiche Gruppierungen noch lange nicht ausgehandelt. Nicht allein das Fehlen einer Verfassung eröffnete den unterschiedlichsten Interessengruppen die Perspektive, Einfluß auf die Außenpolitik zu nehmen. Die einst zumindest in der Formulierung monolithische außenpolitische Generallinie war verschwunden. Im Obersten Sowjet, der Armee oder dem Verteidigungsministerium versuchten fortan die politischen Eliten, ihren Einfluß auf die Außenpolitik geltend zu machen. Das Politikfeld Balkan kann als einer der besten Indikatoren dienen, um sowohl die institutionelle Fragmentierung der russischen Außenpolitik als auch die politisch-ideelle Orientierungslosigkeit der Gesellschaft in den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion aufzuzeigen. Denn mit der Sowjetmacht war nicht allein der monolithische Staatsaufbau verschwunden. Es kam auch das staatliche Monopol über die Deutungsmacht für die weltpolitischen Entwicklungen abhanden. Die Idee des multiethnischen Staates war für die Mehrheit der Sowjetbürger wie auch der Jugoslawen - vor allem gegen Ende der 80er Jahre - diskreditiert, nicht zuletzt durch ihre ideologische Verbrämung zur sozialistischen Völkergemeinschaft.3 Auf dem Markt der neuen Ideologien wurde der Balkan zur hochgehandelten Ware.

Die an vielen Stellen als "fremder Krieg"4 bezeichnete Gewalt im ehemaligen Jugoslawien fungierte über mehrere Jahre als integrierendes und zugleich mobilisierendes Element für eine in sich vollkommen heterogene Opposition aus Nationalpatrioten, Altkommunisten, Neo-Eurasiern, Faschisten, Monarchisten. Diesem Konglomerat dienten zwei Merkmale als vereinigende Elemente, die beide exklusiven Charakter haben: die kulturelle und politische Affinität mit den orthodoxen Christen und die ethnische Verwandtschaft mit den Slawen auf dem Balkan. Beide Konzepte - Panslawismus wie Orthodoxie - nutzten die Nationalisten bei der Abgrenzung von der 1990 von George Bush proklamierten "neuen Weltordnung" als Instrument, um die Regierung für ihre als Unterwerfung empfundene prowestliche Politik anzuprangern. So war etwa in den Kreisen der Neo-Eurasier um Alexsander Prochanow und Alexander Dugin zu Anfang der 90er Jahre tatsächlich eine interpretatorische Wende zu verzeichnen. Die von ihnen sonst beschworenen slawisch-islamischen Traditionen als Wurzel für die Rettung Rußlands paßten unter dem Eindruck des Krieges zwischen orthodoxen Christen und bosnischen Muslimen immer schlechter in die eurasische Weltdeutung. Im September 1992 mußte der selbsternannte "Metaphysiker" Dugin feststellen: "Meine eurasischen Projekte sind in Serbien auf Widersprüche gestoßen: Die Perspektive einer orthodoxen und islamischen Elite auf der einen Seite und einer Union Rußlands und Deutschlands auf der anderen zeigt einige Irrealität..."5

Daß es bei diesen Versuchen der ideologischen Neuorientierung zu dem einen oder anderen unbeholfenen Lapsus kommen mußte, war nicht zu verhindern, etwa wenn russische Nationalsozialisten die Gemeinsamkeiten von Russen und Serben in deren "arischer Abstammung" und ihre historische Aufgabe im Kampf "gegen dunkle Mächte und satanische Religionen" sahen.6 Die tiefe politische Orientierungslosigkeit nach dem Wegfall der staatlich gebundenen Deutungsmacht über politische Phänomene zeigt sich, wenn in den Traktaten der Nationalpatrioten über Serbien auch nicht das in sowjetischen Zeiten zu jeder Zeit kultivierte Quantum Antisemitismus vergessen wurde. So bezeichnete der "Volkschristliche Bund Belarus" (Narodno-christijanskij sojuz Belarusi<D>) die "israelisch-amerikanisch-westeuropäische Allianz" als einen "mondialistischen Kreis", welcher das orthodoxe Serbien blockiere, und deutete deren Politik als den Versuch, "den Islam mit dem Einfluß anti-christlicher Agenten auf die Orthodoxie zu hetzen". Von besonders symbolischer Bedeutung waren von Beginn an Berichte über den Einsatz russischer Freiwilliger im ehemaligen Jugoslawien. Sie schufen als Bilder, die keiner tieferen Erklärung mehr bedurften, die Legitimität verheißende Brücke zwischen dem 19. Jahrhundert und den aktuellen Konflikten. Daß es sich bei der Mehrzahl der Freiwilligen allerdings in erster Linie um arbeitslose, sozial isolierte und psychisch traumatisierte Afghanistan-Veteranen handelte, fand in dieser Lesart ebensowenig Berücksichtigung wie die Tatsache, daß russische Söldner bei besserer Entlohnung auch durchaus auf kroatischer Seite ins Feld zogen.8

Die integrierenden Symbole hatten in erster Linie für jene politischen Kreise eine Bedeutung, denen der Zugang zur Formulierung und Durchführung substantieller Politik verwehrt blieb. Der von den Nationalpatrioten so heiß ersehnte Einfluß auf das Regierungshandeln kann nicht nachgewiesen werden. Verhältnismäßig unbeeindruckt von den ersten proserbischen Eruptionen auf den Straßen und in den Gazetten der Nationalisten ist die russische Führung alles in allem der Politik des Westens gefolgt. Regelmäßig stimmte sie der Verhängung und Verschärfung von Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zu oder unterstützte etwa die Suspension ihrer Mitgliedschaft in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Lediglich die mal stärkere, mal schwächere konfrontative Rhetorik russischer Diplomaten auf der internationalen Bühne ließ die innenpolitische Dimension erahnen. Aber selbst als in Moskau 1993 der innenpolitische Machtkampf eskalierte und die anschließende Annahme einer Verfassung im Dezember 1993 nicht die erwartete innerstaatliche Konsolidierung brachte, kam es zu keiner substantiellen Wende in der russischen Jugoslawienpolitik. Während die Steuerungsfähigkeit des Staates in den folgenden Jahren immer stärker abnahm, wuchs der Einfluß der sich neu formierenden wirtschaftlichen Eliten. Als konsolidierende Kraft im Transformationsprozeß erhielten zunehmend Interessengruppen Einflußpotentiale, denen nur noch wenig an der Suche nach neuen Ideologien oder einer symbolisch verbrämten Politik gelegen war. Vielmehr ging es ihnen um profitables rent seeking in der ruinierten Volkswirtschaft, um eine möglichst günstige Positionierung im Wechselspiel zwischen Kooperation und Konfrontation mit dem Westen. Neben der allseits angeführten Abhängigkeit von westlichen Krediten wurden vor allem die inzwischen weit fortgeschrittenen ökonomischen Verflechtungen mit dem Westen, und hier in erster Linie mit der Europäischen Union, zum politischen Movens für die außenpolitischen Eliten in Rußland.

Diese in der Substanz so stabile Situation hat sich seit dem Finanzkollaps vom 17. August 1998 grundlegend geändert. Die kolossale ökonomische Misere hat die politisch einflußreichen Banken und Finanzimperien der oben angesprochenen Eliten entweder von der politischen Bildfläche verschwinden lassen oder in die Defensive gedrängt. Die demokratischen Kräfte sind geschwächter denn je. Doch nicht nur die innenpolitische Situation in Rußland hat sich substantiell geändert. Seit dem letzten Sommer kommen die Anlässe für eine grundlegende Verhärtung der russischen Haltung von außen. Die USA scheinen diese völlig neue Qualität der wirtschaftlichen und politischen Destabilisierung in Rußland unterschätzt oder wissentlich ignoriert zu haben, da sie seit dem vergangenen Sommer zu einer Vertiefung dieser Situation beitragen. Erst hebelten die US-amerikanisch-britischen Angriffe auf den Irak im letzten Oktober den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als letztes Instrument internationaler Konfliktregelung aus, in dem Rußland noch Berücksichtigung findet. In zunehmendem Maße belegte die Regierung in Washington Rußland mit einseitigen Wirtschaftssanktionen. Noch eine Woche vor Beginn der Luftangriffe auf Serbien schuf der US-Senat die Grundlage für die Einführung eines neuen Abwehrsystems für antiballistische Raketen, was de facto den Rückzug der USA aus dem ABM-Abkommen bedeutet. Die überraschten und empörten Reaktionen Moskaus, eine solche Politik löse ein neues Wettrüsten aus, mögen noch als konfrontative Rhetorik verstanden worden sein. Der Beginn des NATO-Krieges gegen Serbien scheint aber endgültig zur Wasserscheide geworden zu sein zwischen simulierter und realer Konfrontation, und es besteht die Gefahr, daß die demonstrative Umkehr von Präsident Jewgenij Primakow auf dem Weg zum Staatsbesuch in die USA das letzte der politischen Symbole war, an die man sich bei russischen Diplomaten inzwischen gewöhnt hatte.

Der spontane Ausbruch der Empörung in Rußland nach den NATO-Angriffen auf Serbien ist nicht mehr beschränkt auf Anhänger einer antiwestlichen Politik und hat nichts mehr mit der bisherigen, mehr nach innen gewandten Selbstbefriedigung nationaler Bedürfnisse zu tun. Als im Oktober vergangenen Jahres die NATO zum ersten Mal mit Luftangriffen drohte, verhielten sich einer Umfrage zufolge noch 80 Prozent der Bevölkerung höchst indifferent der Problematik gegenüber. Sie hatten entweder keine feste Meinung oder wußten überhaupt nicht näher über die Lage im Kosovo Bescheid.9 Die Angriffe seit dem 25. März werden jedoch von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. 67 Prozent der Befragten sind überzeugt, daß die USA für die Verschärfung der Situation verantwortlich sind. Die klare Identifikation der USA als das tatsächliche Ziel der russischen Empörung zeigt sich zudem in der mehrheitlichen Ablehnung gegenüber dem Einsatz von russischen Freiwilligen für die serbische Seite. 70 Prozent der Befragten halten solche Ideen nach wie vor für verantwortungslos. Und mehr als ein Drittel ist noch dafür, daß Rußland sich auf eine politische Rolle beschränkt.10 Ob es dabei bleibt, ist allerdings Sache der Politik. Der stellvertretende Premierminister, Juri Masljukow, propagiert mit Vehemenz die Wiederbelebung des militärisch-industriellen Komplexes, um die unerträgliche Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfond zu beenden und zugleich gegenüber dem Westen ein Drohpotential zurückzugewinnen. Daß Milosevic seit den Angriffen zum Exportkunden mit besten Aussichten avanciert, ist vor diesem Hintergrund keine leere Drohung mehr.

Welche Auswirkungen die offizielle Aufkündigung der russischen Zusammenarbeit mit der NATO hat, bleibt zunächst abzuwarten. Noch versehen russische und US-amerikanische Soldaten in der SFOR gemeinsam einen Dienst, der für die Friedenssicherung in Bosnien-Herzegowina von zentraler Bedeutung ist. Und in Tuzla saßen sie jüngst nebeneinander in den Schutzräumen, als serbische MiGs sich ihnen gefährlich näherten. Bis zuletzt war es dem Westen gelungen, Rußland fest in das Balkankrisenmanagement einzubinden. Sei es, auf diplomatischer Ebene, in der Kontaktgruppe, oder, militärisch, durch das russische SFOR-Kontingent. Noch in den letzten Wochen und Tagen vor dem Beginn des Krieges versuchte die Moskauer Diplomatie, Milosevic auf die Formeln des Abkommens von Rambouillet zu verpflichten. Mit dem gleichen Mißerfolg wie die anderen Staaten auch. Mit den Angriffen auf Serbien aber haben der Westen und allen voran die USA deutlich gemacht, daß sie nicht bereit sind, die wirtschaftliche und politische Instabilität in Moskau mit allen Konsequenzen, die daraus entstehen können, ausreichend zu berücksichtigen.

Erster und bis auf weiteres wohl einziger Sieger dieser Politik war Slobodan Milosevic, dem die spontanen Irritationen zwischen Rußland und dem Westen die notwendige Energie verliehen haben, offenbar gegen die Erwartungen der NATO-Strategen, die ersten Wochen der Luftangriffe ohne ein Einlenken zu überstehen. So wird deutlich, daß nicht slawophile Triebe Rußland zum Verteidiger Serbiens berufen haben. Vielmehr ist Moskau gegen den eigenen Willen und durch die Politik des Westens in die Partnerposition für das Belgrader Regime geraten, aus der es auch nur mit aktiver westlicher Unterstützung wieder herausfinden kann.

1 Geyer, Dietrich: Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860-1914, Göttingen 1977; Petrovich, Michael Boro: The Emergence of Russian Panslavism 1865-1870, New York 19582; Narochnitskaya, Natalia: Spiritual and Geopolitical Rivalry in the Balkans at the Brink of the XXI Century. in: Eurobalkans, No. 32, Autumn 1998 [www.eurobalkans.co.yu/324.htm].

2 Dnewnik Walujewa, Moskau 1961, Bd. 2, S. 381 (4.8.1876).

3 Lynch, Allen/Lukis, Reneo: Europe from the Balkans to the Urals. The Disintegration of Yugoslavia and the Soviet Union, New York 1996.

4 Vgl. u.a. die Artikelserie "Tschushaja wojna" (Der Fremde Krieg) in: Narodnaja gaseta (Minsk), 29.7.-4.8.94; oder Sysoev, G.: "Naschi na tschushoj wojne" (Die Unsrigen im Fremden Krieg) in: Nowoe wremja, 49, 1992, 10-21.

5 Dugin, A.: "Ognjonnaja Serbija" (Brennendes Serbien), in: Den‘, Nr. 41, 1992, S. 69.

6 Strushenzow, D.: "Slyschite - grochotschut sapogi" (Hört, es stampfen die Stiefel), Trud, 1.9.93.

7 Russki Westnik, 40/92; vgl. dazu auch Bonin, Peter: Rußland und der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, Mannheim 1994 (Untersuchungen aus der FKKS, 6/1994).

8 Ebenda, Bonin, S. 14 ff.

9 RFE/RL Newsline, 29.10.98.

10 "Maslo da, puschki njet" (Butter ja, Bomben nein), Iswestija, 16.4.99.