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Umzug, aber kein Politikwechsel?

Redaktion: Michael Blum

Von Ängsten ",Ihr Völker der Welt! Schaut auf diese Stadt!<@146> Mit diesen drastischen Worten versuchte der damalige Bürgermeister Ernst Reuter, auf den Stufen des Reichstags stehend, auf das Schicksal der Stadt zum Höhepunkt der Berlin-Blockade 1948 aufmerksam zu machen", erinnert Alexandra Föderl-Schmid in Der Standard (Wien) am 20. April 1999 in ihrem Artikel über den Einzug des Bundestages in den Reichstag am Vortag. Volker Zastrow proklamiert in seiner Einschätzung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19.4.99 das Ende der "Nachkriegszeit": "Das deutsche Parlament kehrt in das Reichstagsgebäude zurück. Das politische Zentrum des wiedervereinigten Deutschlands verlagert sich in die historische Hauptstadt. Nichts scheint sinnfälliger zu machen, daß auch für Deutschland die Nachkriegszeit zu Ende ist - um so mehr, als das Natomitglied Bundesrepublik zur selben Zeit an der Militäraktion des Westens gegen Jugoslawien teilnimmt."

Die ,Berliner Republik` beginnt also im Krieg, meint Jens König in der taz (20.4.99): "Der Kosovo-Krieg und die Rückkehr des deutschen Parlaments nach Berlin haben eine gemeinsame Ursache: den Zusammenbruch des Kommunismus. Die erste Debatte des Bundestages im neuen Reichstagsgebäude zeigte deutlich, daß das Gerede von der ,Berliner Republik` vor allem eine Gespensterdebatte ist. Es geht nicht um Berlin; die Hauptstadt ist nur zu einer Chiffre für die Hoffnungen und Ängste der Deutschen vor einem radikalen Wandel ihres Lebens geworden. Es geht ums Ganze: um die Zukunft Deutschlands. Dafür steht die ,Berliner Republik`. Der gestrige Tag war jedoch nicht ihr Beginn, wie Gerhard Schröder meinte: sie hat schon begonnen. Der Kosovo-Krieg und die Tatsache, daß zum ersten Mal in der Geschichte der westdeutschen Republik Soldaten in den Kampf geschickt werden, sind dafür das eindrucksvollste Beispiel."

Was aber ist mit den Ängsten? "Haben sich die Befürchtungen der Gegner des Umzugs von Parlament und Regierung bestätigt?", fragt der FAZ-Kommentator Volker Zastrow, und gibt zur Antwort: "Eine andere Befürchtung hinsichtlich der künftigen ,Berliner Republik` betraf nicht nur die Gemütlichkeit. Sie sah in der Hauptstadt und wohl auch im Reichstag das Symbol der Hitler-Zeit, auf die man die deutsche Geschichte meinte verkürzen zu dürfen, oder mehr noch eines Deutschen Reiches, dessen Geschichte nur als Katarakt von Katastrophen aufgefaßt werden sollte. Die Angst ging um, das wiedervereinigte Deutschland mit einem Berliner Machtzentrum könnte in die vermeintlich preußisch-deutsche Primärtradition rücksichtsloser Machtpolitik zurückfallen. ... Spielt Deutschland wieder Großmacht ...? Nur sträflich oberflächliche Betrachtung kann zu solchen Schlüssen führen. Schon vorderhand ist ihnen entgegenzuhalten, daß die Bundesrepublik Deutschland, ob ihre Verfassungsorgane nun in Bonn oder in Berlin sitzen, ein demokratischer Rechtsstaat ist - der mit Stolz auch an die Geschichte anknüpfen kann."

Andere Kommentatoren loben den "besonnenen" Berliner Auftakt: "Mit Bodenhaftung" verlief die "Rückkehr des deutschen Parlaments nach Berlin", schreibt Stephan Hebel am 20.4.99 in der Frankfurter Rundschau. Und weiter: "Wer falsches Pathos befürchtet hatte, wurde positiv überrascht. Die Rückkehr des deutschen Parlaments nach Berlin verlief am Montag so geschäftsmäßig-ruhig, als wäre aller nationale Überschwang ein für allemal durch die neue Reichstags-Kuppel entflogen." Geschäftsmäßig deutsch also? - Und dabei nur fast ohne Straucheln: "Ein schlichter Auftakt, fast ohne Pathos", titelt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 20.4.99. Ausgerechnet aber "Gerhard Schröder sorgte für eine Berliner Minute, vor der man erschrecken konnte", und die die meisten anderen Blätter ignorierten. Nicht so Prantl: "Es war keine große, schon gar keine weihevolle Stunde, und das war vielleicht auch ganz gut so. ... Die Reden zur Eröffnung des neuen Reichstages paßten ganz gut zur deutschen Befindlichkeit am Ende des Jahrhunderts. Wir verlassen dieses Jahrhundert anders, leiser und zurückhaltender, als wir es betreten haben: Nicht mit dem Hurra von damals, nicht mit robustem oder gar trampelndem Optimismus und nicht mit der allgemeinen Euphorie, wie sie vor hundert Jahren in Deutschland herrschte - obwohl die Deutschen, wie der Historiker Eberhard Jäckel meint, ,mehr Anlaß` zu ,starker Zuversicht` hätten als damals, und also das deutsche Jahrhundert letztendlich doch noch zu einem guten Ende gekommen sei. Man mag angesichts des Kriegs in und gegen Jugoslawien an diesem guten Ende einige Zweifel haben. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in seiner Regierungserklärung, auf die ,humanitäre Intervention` der Nato bezugnehmend und unter Berufung auf den albanischen Dichter Kadaré, von einem europäischen ,Gründungsakt` gesprochen, der sich auf dem Balkan vollziehe. Schröder mag da die gemeinsame europäische Sorge um die Menschenrechte gemeint haben, aber seine Sätze über die ,neue deutsche Verantwortung` waren zumindest mißverständlich - es war die eine Berliner Minute, vor der man erschrecken konnte. Ein Gründungsakt? Europa wird nicht zum Europa der Menschen, indem man den Menschen Bomben auf den Kopf wirft. Bomben sind, auch wenn sie noch so guten Zwecken dienen sollen, kein gutes Fundament für die Zukunft Europas. Und der Krieg ist und bleibt Hochverrat an der Zivilisation, auch wenn dieser Krieg mit Nothilfe für den Kosovo und für die Menschenrechte zu rechtfertigen sein mag."

Neue deutsche Verantwortung - also doch ein Politikwechsel? Schüren solche Sätze Ängste im Ausland? "Der Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin ist zwar eine Rückkehr an einen Ort, wo zwei Diktaturen gewirkt haben, die großes Leid über die Menschen gebracht haben. Aber zu Ängsten, daß in Berlin an diese Geschichte angeknüpft werden könnte, besteht kein Anlaß. ... Der Reichstag ist nicht mit Reich gleichzusetzen ..., urteilt die Kommentatorin des Standard. Denn: "Auch wenn die Parlamentarier nun auf geschichtsträchtigem Boden tagen: Einem Umzug der Politiker folgt nicht ein Wechsel der Politik. Es wird keinen außenpolitischen Stimmungswechsel geben. Deutschland ist und bleibt ein Teil der westlichen Staatengemeinschaft. In den vergangenen Wochen hat sich eindrucksvoll das vollzogen, was als ,neue deutsche Verantwortung` bezeichnet werden kann. Die rot-grüne Bundesregierung hat Marschbefehl an deutsche Soldaten ausgegeben ... Damit hat sich Deutschlands Rolle in der Welt ohne Zweifel verändert - aber zum Positiven. Die Bundesrepublik hat ein Stück mehr Verantwortung übernommen und damit auch internationale Solidarität geübt. Befürchtungen vor einem ,deutschen Sonderweg` wurden gerade damit ad absurdum geführt." Weiter geht die Neue Züricher Zeitung (ebenfalls am 20. 4.1999): "Geschichtsbetrachtung und aktuelle Tagespolitik vermischen sich derzeit in Deutschland - unter anderem auch deshalb, weil gerade die Minister Fischer und Scharping mit ihrer Wortwahl dazu einladen. Sie sprechen von Einsatzkommandos, Faschismus und SS, wenn sie über das Vorgehen serbischer Einheiten in Kosovo sprechen. Die von Deutschen begangenen Greuel werden mit der Deportation der Albaner verglichen, um den Krieg gegen Belgrad zu rechtfertigen. Dies provozierte zum einen eine Diskussion über die Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und serbischer Gewaltpolitik. ... Generell wird das Ende der Nachkriegszeit und die damit einhergehende neue Verantwortung mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Weit davon entfernt, eine Großmachtrolle zu fordern, trauert man eher den Zeiten nach, als deutsche Außenpolitik und Moral noch identisch zu sein schienen. Man war das personifizierte gute Gewissen, während man den westlichen Verbündeten die Anwendung von Gewalt noch im Golfkrieg mehr oder minder offen ankreidete. In anderen Ländern wird die Diskussion über den Kosovo-Krieg und den Einsatz von Bodentruppen vor allem unter dem Blickwinkel der Risiken, der möglichen Verluste und der politischen Opportunität geführt, in Deutschland ist sie wesentlich eine moralische Debatte. ... Die Bundesrepublik, die unterdessen bereits länger dauert als das Wilhelminische Kaiserreich, spürt noch immer das Bedürfnis nach Abgrenzung von der Vergangenheit. Geschichte ist in Deutschland nicht wie in anderen Ländern ein sicheres Fundament, sondern schwankender Boden. Die Rückkehr an die traditionsbeladene Berliner Stätte wird daher nicht nur als sichtbarer Ausdruck einer neuen Normalität, sondern auch als Last empfunden, als Rückkehr in eine historische Kontinuität, aus der man sich mit der Gründung der ,rheinischen Republik` verabschiedet zu haben glaubte."

Ein anderes Augenmerk richtet Le Figaro (20.4.99) über den Rhein in Richtung Spree und Havel: "Das Symbol war gewollt. Der Gründungsakt der ,Berliner Republik` war nicht die Installierung der Exekutive, sondern der Legislative. Die erste Etappe des Umzugs der Hauptstadt war nicht die Installierung von Macht, die anordnet, sondern der Macht, die entscheidet. Kurzum: Das neue Deutschland von Gerhard Schröder wünscht keinen anderen Bezugspunkt als die Demokratie (...)"

Und Chancen Aber: Wieviel Demokratie soll es sein? "Berlin ist das Paradigma für einen neuen Anfang, und es ist ratsam, sich darauf offen einzulassen. Der rekonstruierte Reichstag in seiner Ambivalenz zwischen Kontinuität und Moderne drückt symbolisch viel davon aus. Bescheidenheit ehrt. Aber die Bonner Politik setzt sich im neuen Parlament so fort, als wollten die Akteure sich unter der Größe und Last des Neuen am liebsten wegducken", urteilt Gunter Hofmann in der Zeit vom 22.4.99 unter der Überschrift "Berlin und der Krieg".

Einen Ausblick, wie es anders sein könnte, wagte Thomas Schmid in der Welt vom 20.4.99: "Wir setzen Bonn in Berlin fort, und wir beginnen etwas Neues. Im geschichtshaltigen, der Zukunft zugewandten Haus der Demokratie." Bonner Rückkehr nach Berlin, Fortsetzung folgt? Das wäre zu wenig. Robert Leicht definiert in der Zeit vom 15.4.99 die Meßlatte, um die es geht: "Drei Entwicklungen sind es, die unseren Parlamentarismus geschwächt haben: erstens das Überhandnehmen des Parteienstaats, zweitens das Übergewicht der Exekutive (und unterhalb ihrer: der Koalitionsausschüsse als Kartell aus Parteien und Exekutive) sowie drittens die Fehlentwicklung des Föderalismus; und zwar dadurch, daß sich die Länder den Verlust an originärem Wettbewerbsföderalismus haben abgelten lassen durch einen ,Zentralföderalismus` - also eine überdimensionierte Einrede in die originäre Bundes- und Europapolitik. So kommt es zu der Paradoxie, daß eine maßvolle Einführung von plebiszitären Elementen in unser Verfassungsleben dazu dienen könnte, ausgerechnet die parlamentarische Politik auf der Bundesebene zu stärken: gegen die Parteienvormacht, gegen den Vorrang der Exekutive, gegen die Intervention des Zentralföderalismus. ... Die Rückkehr des deutschen Parlaments an seinen Ausgangsort müßte also dazu genutzt werden, an den richtigen Ausgangspunkt des parlamentarischen Verfassungslebens zurückzufinden. ... Als einzige Institution der Berliner Republik kehrt das Parlament an seinen historischen Ort zurück. Dieser historische Einschnitt sollte genutzt werden, auf daß das Parlament seinen wahren politischen Ort in unserem Verfassungsleben wiedergewinnt und stärkt." Bislang allerdings waren die Anläufe der Bonner Republik - auch nach 1989 - dazu nur wenig erfolgreich.