Völkerfreundschaft oder strategische Partnerschaft?

Zum Ergebnis des Berliner Gipfels und dem deutsch-französischen Verhältnis

Es sieht so aus, daß alle zufrieden sein können - außer Ihnen." So lautete der Kommentar, mit dem Terry Wynn, (britischer) Koordinator der SPE im Haushaltsausschuß des EP, seine Bewertung der Ergebnisse des Berliner Gipfels einleitete. Angesprochen war der Haushaltsausschußvorsitzende Detlev Samland als deutscher Abgeordneter.

In der Tat enttäuscht das Berliner Ergebnis in mehreren Hinsichten: Es wurde kein Reformansatz für eine strukturelle Reform der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) gefunden; mit den ersten Beitritten wird es daher im Agrarbereich zu einer partiellen Spaltung des Binnenmarktes und zu einer Zwei-Klassen-Union kommen, wenn nicht vorher weitere, einschneidendere Reformen beschlossen werden. Durch die Aufgabe der Idee einer Kofinanzierung der GAP wurde aber auch auf die Schaffung von Anreizen zu einer solchen Reform verzichtet. Schlimmer noch: Um einen höheren Rückflußanteil für das unter den Kohäsionsländern bisher am wenigsten von der GAP profitierende Portugal zu erreichen, sollen dafür zukünftig entsprechende Politiken erfunden werden. Gemeinschaftlicher Mehrwert, in der GAP ohnehin eher die Ausnahme, weicht immer mehr vor national motiviertem Subventionsschacher zurück.

Zwar konnte in der Strukturpolitik immerhin eine Konzentration der Förderung erreicht werden, womit der finanzielle Spielraum für die Erweiterung ausgeweitet wird. Zu würdigen bleibt ferner, daß signifikante Beträge für Beitrittsvorbereitung und Beitritt reserviert und dem Zugriff von Begehrlichkeiten der Alt-EU weitgehend entzogen wurden. Schließlich wurde die Haushaltsplanung einnahmenseitig deutlicher als bisher gegen wirtschaftliche Prognoserisiken abgesichert. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung bleibt entscheidend, daß keine nennenswerte Entlastung der Bundesrepublik bei den Unionsfinanzen erreicht wurde; die partielle und sukzessive Umstellung von Mehrwertsteuer auf Bruttosozialprodukt-Schlüssel bei der Berechnung der Beitragslasten sowie die Absenkung des Refinanzierungsanteils für den britischen Rabatt werden ab 2002 für Deutschland lediglich eine Entlastung von insgesamt 1 Milliarde DM bringen, ohne daß dadurch die Ursache der Schieflage, nämlich die ungleiche Verteilung der Rückflüsse aus der Agrarpolitik, auch nur ansatzweise gelöst wird. Kurz: Das Ergebnis ist unbefriedigend, nicht etwa, weil sich alles verschlechtert, sondern weil dringend notwendige Reformen ausgeblieben sind.

Nun ist fraglos anzuerkennen, daß die Umstände des Rücktritts der Kommission und insbesondere der Eintritt der NATO in den Kosovo-Konflikt kein ergebnisloses Scheitern der Verhandlungen erlaubten. Aber festzuhalten bleibt, daß sich die Bundesregierung mit ihrer voreiligen Festlegung auf einen Abschluß der Agenda 2000 im März ihre Verhandlungsposition von vornherein ohne Zwang geschwächt hat. Vermutlich wird es erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik nicht zu einem Konsens der beiden großen Parteien in einer europapolitischen Kernfrage kommen. Der Fortbestand der seit 1993 unter Kohl und Waigel angewachsenen Gerechtigkeitslücke bei der Belastung Deutschlands bietet der Opposition populäre Argumente, um die Regierung als schwächlich darzustellen oder gar das Verhandlungsergebnis als Steinbruch für antieuropäischen Populismus zu nutzen.

Signifikant für die deutsche Verhandlungsführung war eine Formulierung Günther Verheugens, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, in Le Monde: Deutschland habe mit dem Verzicht auf eine Kofinanzierung der Agrarausgaben (die deren Hauptempfänger wie Frankreich, Irland, Griechenland und Spanien be- und Deutschland, Holland und Schweden entlastet hätte) seine Interessen zugunsten derer Frankreichs zurückgestellt. Dieser Satz wurde im Verlauf des Europäischen Rates von Berlin variiert, nun war von der Zurückstellung deutscher Interessen zugunsten Europas die Rede. Diese Haltung erinnert mehr an die romantisierende Idee abstrakter "Völkerfreundschaft" gemäß Beethovens "Seid umschlungen, Millionen!", als an tragfähige Realpolitik; Europa als deutsche "Ersatznation" verkennt den Charakter deutsch-französischer Partnerschaft sowie den der Union und steigert das europapolitische Enttäuschungspotential in Deutschland.

Während die Partnerländer europäische Integration als Fortsetzung nationaler Politik mit anderen Mitteln begreifen, wird sie in Deutschland seit dem Krieg als Gegenentwurf zur Nation verstanden, oft gar in polemischem Sinn. Nach der Wiedervereinigung gilt es nun aber, den Übergang zu nationaler Normalität fortzusetzen, der durch Helmut Kohl alles in allem unpathetisch begonnen wurde. Kollektive Identitätsneurosen passen dazu genausowenig wie nationalpopulistische Überhöhungen.

Die Identität eines politischen Kollektivs besteht aus seinen, wie auch immer definierten, mehrheitlichen Interessen. Dabei zählt nur, daß sie als solche wahrgenommen werden, nicht etwa, ob sie für jedes Mitglied der Gesellschaft zutreffen. Je langfristiger Interessen aber definiert werden, desto kooperativer werden typischerweise die besten Umsetzungsstrategien, deren Verankerung als nichtkonfrontative Identität im öffentlichen Bewußtsein Aufgabe der politischen Schicht ist. Die Vermittlung Europas als überwiegend moralischen Appell zur Überwindung der Nation verkürzt allerdings den Blick auf allein kurzfristige Interessenlagen und suggeriert dadurch - ungewollt - ein antagonistisches Weltbild ohne Zeitdimension, in dem das Gute nur durch die Überwindung des Weltlichen erreichbar ist. Was für den einzelnen noch sinnstiftend sein mag, muß aber als gesellschaftlicher Versuch scheitern: Die kollektive Negation der Nation provoziert geradezu die Negation dieser Negation, jedenfalls ihre Enttabuisierung; anders ausgedrückt: Identitätsverleugnung fördert Kompensation durch Selbstüberhöhung.

Diesem unmittelbaren Interessenkalkül steht zunehmend eine Führungserwartung gegenüber, die seitens einiger Partner an Deutschland herangetragen wird, eine Verantwortung, die ein "erwachsenes" Land nicht ablehnen kann, auch wenn dies regelmäßig die Zurücknahme eigener kurzfristiger Interessen bedeutet. Damit dies in der Öffentlichkeit vermittelbar bleibt, muß sich Deutschland selbst ernster nehmen: Man kann nicht einerseits, wie dies in konservativen Kreisen zunehmend geschieht, vom "größeren Deutschland" sprechen und andererseits die damit gewachsene Verantwortung fürs Ganze ablehnen. Andererseits ist "Führung" ein Begriff, den auch die Grünen lernen müssen, er ist nicht mit "Manipulation" zu verwechseln. Sie ist ohne Verantwortung nicht denkbar, und auch Verantwortung ist ohne ein gewisses Maß an Führung undenkbar. Das haben wir auch aus der Krise der Kommission gelernt.

Deutschland ist nicht der einzige Mitgliedstaat mit Führungsverantwortung, und die Bundesrepublik repräsentiert nicht nur sich selbst, sondern in vielen Hinsichten auch bestimmte Interessen kleinerer Mitgliedstaaten wie etwa Holland, Finnland und Österreich. Gemeinsam mit Frankreich bündelt es viele der wichtigsten Interessen, die in der gegenwärtigen 15er-Union vertreten sind. Die deutsch-französische Partnerschaft hat damit einen konkreten Zweck zu erfüllen: die Vorbereitung tragfähiger Kompromißlinien für die Gesamtunion. Das hat nichts mit Völkerfreundschaft zu tun: Freunde sucht man sich aus, ihre Größe, ihre wirtschaftliche Bedeutung und ihre geographische Lage läßt aber weder für Deutschland noch für Frankreich eine Alternative zu. Es wird deutlich, daß die deutsche Nachkriegsdefinition Europas als einer aus der Geschichte entstehenden moralischen Verpflichtung 55 Jahre nach Ende des Krieges allein nicht mehr ausreicht, um europäische Integration der deutschen Öffentlichkeit vermittelbar zu erhalten. Ein Paradigmenwechsel ist angesagt, der auf einem wohldefinierten - weil langfristigen - Interessenkalkül basiert und die Kosten der Führungsverantwortung als unausweichlich akzeptiert. Gleichzeitig gilt es, auch Frankreich, das vielleicht mehr noch als Deutschland seine europapolitische Rolle zu finden hat, auf seine Verantwortung hinzuweisen - nicht als freundschaftliche Bitte, sondern im Rahmen einer wohlverstandenen strategischen Partnerschaft.