Gleitende Macht vor dramatischem Hintergrund

Rußland

Erhard Stölting

Die innenpolitische Machtverschiebung zum patriotischen Lager war ohnehin kaum noch aufzuhalten: Der Krieg um das Kosovo taucht alles nur in ein dramatisches Licht. Die proserbische Stimmung in den Medien zwingt diejenigen, die ihren politischen Einfluß behalten wollen, zum patriotischen Bekenntnis. Was früher lediglich als marginale Verrücktheit erschien, gilt nun als Äußerung des Volkswillens. Schirinowskij, der mitsamt seiner Liberaldemokratischen Partei (LDPR) kaum noch Unterhaltungswert hatte, ist im politischen Leben wieder ein Faktor. Die Operettenkosaken in Krasnodar, die panslawisch gestimmten Karatekämpfer, die alten Komsomolzinnen mit den Stalin-Ikonen, die frommen orthodoxen Christen und die Nostalgiker des Weltreiches spielen jene Musik, die jetzt alle anderen mitsummen sollen. Das bestimmt den Hintergrund, aber den Machtkonflikten liegt eine andere Choreographie zugrunde.

Kaum noch wahrnehmbar sind die liberalen monetaristischen Reformer - wie Jegor Gajdar, Anatolij Tschubajs, Boris Nemzow, Boris Fjodorow oder Sergej Kirijenko. Sie hatten zwischen 1992 und 1998 mit wechselnder Prägnanz, großem Effekt und zweifelhaftem Erfolg die russischen Umstrukturierungen mitgesteuert. Ihr Einfluß hing an der einzigartigen Machtzentralisation beim Präsidenten, der sie, wenn es opportun schien, aus dem Kreml wies oder zurückholte. Eine Chance, auf demokratischem Wege Einfluß zu gewinnen, hatten sie nie. Wie bedeutungslos sie geworden sind, zeigt ein kleines Ereignis: Gajdar, Nemzow und Fjodorow waren Ende März auf eigene Faust nach Belgrad gereist, um zu vermitteln. Sie blieben erfolglos und wurden im serbischen Fernsehen als "Abfall und Abschaum" bezeichnet. Sie galten nicht nur als Agenten des Westens, sie galten als unwichtig.

Bemerkenswerter als das Zurücktreten der jungen Liberalen ist der Niedergang der "Oligarchen", jener Finanzmagnaten, die in der Privatisierungsphase nach 1991 riesige Vermögen angehäuft hatten. Der Kapitalismus war für sie ein finanzielles Monopoly-Spiel, dessen Rahmenbedingungen sie selbst festlegten. Ihre Macht nutzten sie, um die Gesetze zu umgehen oder um sie so zu gestalten, daß sie nicht störten. Da sie die ihren Banken anvertrauten Gelder dazu nutzten, mit Staatsanleihen zu spekulieren, führte sie das Finanzdesaster vom 17. August 1998 in den Ruin. Das politische Gewicht ihrer Gegner in der Duma und all jener, die die verbreitete Korruption und die Ausplünderung des Landes der Marktwirtschaft und der Demokratie zurechneten, wuchs. Diese Machtverschiebung mußte auch der sieche Präsident berücksichtigen, wollte er retten, was zu retten schien.

Symptomatisch ist die Bedrängnis von Boris Beresowskij, der einst mächtigen grauen Eminenz. Er und sechs andere Finanzoligarchen hatten 1996 die Wiederwahl Jelzins finanziert, der kurz zuvor in den Prognosen noch weit abgeschlagen gewesen war. Beresowskij hatte auch die Rückkehr der jungen Liberalen gefördert. Und er drängte sie im August 1998 aus der Macht, als sie eine solide staatliche Finanzverwaltung und ein funktionierendes Steuersystem forderten. Aber damit stand seine eigene Macht von nun an auf tönernen Füßen.

Schon im September scheiterte Beresowskijs und Jelzins Kandidat für die Nachfolge Kirijenkos als Ministerpräsident; Tschernomyrdin, der lange genug Regierungschef gewesen war, um verantwortlich zu sein, wurde von der Duma zurückgewiesen. Primakow war dann Kompromißkandidat - aber nicht für Beresowskij.

Jeder Machtverlust hat die Tendenz, sich durch Rückkopplungen zu verstärken: Wer Macht einbüßt, verliert die Unterstützung der Opportunisten; der Abfall der Opportunisten entzieht der Macht ihre wesentliche Stütze. Am Kampf gegen die Korruption in der Umgebung des Präsidenten wurde das besonders gut erkennbar.

Die extreme Korruption im russischen Staat ist seit Jahren relativ gut bekannt. Das Versprechen, energisch gegen sie vorzugehen, gehörte stets zur Selbstdarstellung der politischen Elite. Immer wieder setzte Jelzin im Fernsehen ein besonders entschlossenes Gesicht auf, hämmerte mit der Faust auf den Tisch und versprach aufzuräumen. Für Primakow konnte so der Kampf gegen die Korruption ein Mittel werden, seine Position zu festigen. Ende Januar 1999 verkündete er eine Amnestie für 94.000 Häftlinge, um in den Gefängnissen Platz für Wirtschaftsverbrecher zu schaffen.

Aber die Generalstaatsanwaltschaft, die seit 1995 Jurij Skuratow leitete, tat jahrelang nichts - so lange, wie Jelzin selbst noch mächtig schien. Aus dem Rechnungshof kam der Vorwurf, der Generalstaatsanwalt sei jahrelang untätig geblieben. Im Fall der verschwundenen zwei Milliarden Wirtschaftshilfe für Tschetschenien, in der illegalen Kompensation für Zollvergünstigungen, im Falle ungesetzlicher Privatisierungen wie bei Norilsk Nikel, Gasprom, Lukoil oder Sibneft und in vielen anderen Fällen habe Skuratow keine Klage erhoben. Mit Sicherheit wußte er auch über andere Fälle Bescheid. Aber es war nicht opportun, sich Jelzins Unwillen zuzuziehen.

Nun aber wurde Skuratow auf einmal aktiv. Mit der Machtverschiebung erwachte sein Gewissen, und sicher rechnete er mit der Unterstützung Primakows, der zur Attacke auf Beresowskijs Imperium angesetzt hatte. Am 2. Februar durchsuchten Staatsanwaltschaft, Innenministerium und der innere Geheimdienst FSB die Räume der Ölfirma Sibneft, an der Beresowskij mit 35 Prozent beteiligt ist, und zwanzig andere Wohnungen und Büros. Offizieller Grund waren Ermittlungen gegen die private Wachgesellschaft "Atoll", die in Beresowskijs Auftrag die engere Welt der Jelzins ausspioniert haben sollte. Zwei Angestellte, die Beresowskij installiert hatte, wurden gefeuert.

Die Angelegenheit war delikat. Das kompromittierende Material ("Kompromat"), das Beresowskij offenbar über die Familie Jelzin gesammelt hatte, um seinem Einfluß ein solides Fundament zu geben, war sicherlich nicht harmlos. Sonst wäre es nicht kompromittierend gewesen. Und Beresowskij kannte sich aus. Als Finanzmanager der Familie Jelzin und als Vertrauter von Jelzins Tochter Tatjana Djatschenko gehörte er fast zur Familie. Es wäre ungut gewesen, wenn Beresowskijs Kompromat der Staatsanwaltschaft oder dem FSB in die Hände gefallen wäre. Jelzin eilte aus seinem Sanatorium sofort in den Kreml, um Skuratow zu stoppen; der Generalstaatsanwalt reichte am 2. Februar aus Gesundheitsgründen sein Entlassungsgesuch ein. Jelzin akzeptierte sofort.

Aber auch andere waren an der Entlassung Skuratows interessiert, etwa der Chef der Zentralbank, Wiktor Geraschtschenko. Wie Skuratow der Duma in einem Brief vom 1. Februar, also einen Tag vor seiner Entlassung, mitteilte, hatte die russische Zentralbank der Firma "Financial Management Company" (FIMACO) in den Jahren 1992 bis 1998 50 Milliarden Dollar zur Verwaltung überlassen. Diese Firma residierte in einem Finanzparadies, der englischen Kanalinsel Jersey; das Gründungskapital der FIMACO hatte 1000 Dollar betragen. Zu dem deponierten Geld sollten, so versicherte Skuratow, auch die Kredite gehören, die der IWF Rußland gewährt hatte.

Die Entlassung Skuratows scheiterte diesmal am Einspruch des Senats, der bislang Jelzin immer unterstützt hatte, mit sechs gegen 142 Stimmen. Skuratow hatte vor dem Senat erklärt, daß einflußreiche Persönlichkeiten aus der Umgebung Jelzins ihn unter Hinweis auf ein kompromittierendes Sexvideo zum Rücktritt gedrängt hätten. Tatsächlich wurde der Film am nächsten Tag im Fernsehen vorgeführt: Er zeigte den nackten Skuratow in einer erotischen Situation mit zwei Frauen im Bett. Später wurde das Gerücht in Umlauf gebracht, die Frauen seien Skuratow dafür spendiert worden, daß er die Strafverfolgung gegen einen bekannten Gauner verschleppt habe. Um Skuratow trotz der verweigerten Entlassung von der Arbeit fernzuhalten, ließ Jelzin dessen Büro versiegeln und ersetzte die Leibwächter durch Personen, deren Aufgabe darin bestand, das Amt vor Skuratow zu schützen.

Es wurde nun für Jelzin Zeit, auch Beresowskij zu entfernen. Denn auch aus der Firma Aeroflot drohte ein Skandal. Schon zwei Tage nach der Durchsuchung bei Sibneft wurde die Zentrale von Aeroflot gefilzt, deren Generaldirektor Jelzins Schwiegersohn, Walerij Okulow, ist. Es bestand der Verdacht, daß Beresowskij einen Teil der Jahreseinnahmen von Aeroflot auf Schweizer Konten deponierte. Okulow feuerte zwei Angestellte, die Beresowskijs besonderes Vertrauen hatten.

Anfang März entließ Jelzin schließlich Beresowskij aus seinem Amt als Generalsekretär der GUS. Er habe seine Kompetenzen überschritten. Jelzins Pressesprecher Jakuschkin behauptete, die Entlassung sei mit den zwölf GUS-Staaten verabredet gewesen. Allerdings waren nicht nur Beresowskij, der sich gerade in Baku befand, sondern auch die Präsidenten Georgiens, Aserbaidschans und Kasachstans überrascht. Ganz legal war auch diese Entlassung nicht, denn sie hätte nur vom Rat der zwölf Präsidenten ausgesprochen werden können. Allerdings holte der Rat den legalen Rauswurf einen Monat später nach. Beliebt war Beresowskij ohnehin nicht gewesen. Die Vorsitzenden der beiden Kammern, Selesnjow und Strojew, äußerten sich zufrieden.

Am 6. April stellte die Generalstaatswaltschaft in Sachen Aeroflot einen Haftbefehl gegen Beresowskij aus. Er habe bei der Firma "Andava" in der Schweiz die Deviseneinnahmen von achtzig westlichen Zweigstellen der Aeroflot untergebracht. Mit verhaftet werden sollte der ehemalige Generaldirektor von Aeroflot, Nikolaj Gluschkow, dem 37 Prozent von Andava gehören. Andava soll elf Millionen Dollar Gewinn erwirtschaftet haben. Gluschkow habe überdies Anfang der 90er Jahre mit Hilfe gefälschter Bankdokumente 32 Millionen Dollar verdient.

Aber auch ein anderer Oligarch geriet in Bedrängnis - Aleksandr Smolenskij. Die wesentliche Stütze seiner Macht war die "SBS-Agro"-Bank gewesen. Sie hatte sich wegen der Finanzkrise im August für zahlungsunfähig erklären müssen. Nun hatte sie mehr als eine Milliarde Dollar Schulden bei ausländischen Banken, und sie fror ihre Kundenkonten im Wert von drei Milliarden Dollar ein. Allerdings funktionierten die Freundschaften anfangs noch. SBS-Agro war eine der wenigen Banken, denen die russische Zentralbank im Herbst einen Kredit von 500 Millionen Dollar gewährte. Immerhin saß der Sohn des stellvertretenden Ministerpräsidenten, Gennadij Kulik, im Vorstand.

Nun feuerte der Kreml auch den Stellvertretenden Generalstaatsanwalt, Michail Katyschew. Er hatte die Haftbefehle gegen Beresowskij, Gluschkow und Smolenskij ausgestellt. Gott sei Dank befanden sich Beresowskij in Paris und Smolenskij in Wien. Auch Gluschkow war zufälligerweise im Ausland.

Daß der Generalstaatsanwalt Skuratow aktiv wurde, zeigt an, daß ihm seine Witterung für Machtverschiebungen einen Frontwechsel nahelegte. Beresowskijs Stern sank; es war ihm nicht einmal mehr gelungen, in den Vorstand der Gasprom zu gelangen. Auch Tschernomyrdin, der ehemalige Chef der Gasprom, konnte ihm nicht mehr behilflich sein. Denn auch ihm hatte Gasprom die Unterstützung entzogen.

In weitere Bedrängnis geriet Jelzin schließlich durch einen scheinbar friedlichen Schachzug Primakows. Der Premier schlug zur Beruhigung der Situation eine Absprache zwischen dem Kreml, der Regierung und den beiden parlamentarischen Kammern vor: Bis zu den Wahlen sollte der Präsident die Duma nicht auflösen, die Duma sollte ihr Amtsenthebungsverfahren stillegen. Beide sollten Primakow nicht entlassen und nicht behindern. Dieser Vorschlag war eigentlich eine Unverschämtheit, denn stärken mußte er vor allem Primakow. Jelzin hingegen hätte auf Macht verzichtet; in einem ersten Entwurf sollten seine Befugnisse sogar erheblich eingeschränkt werden. Besonders pikant war, daß dem Präsidenten nach seiner Amtsaufgabe zur Belohnung ein Sitz im Senat und Straffreiheit zugesichert werden sollten. Wie zu erwarten, gab Jelzin keine Macht ab. Da der Leiter der Präsidialverwaltung, Bordjusha, all das nicht verhindert hatte, wurde auch er gefeuert und durch den bisherigen Wirtschaftsberater Jelzins, Aleksandr Woloschin ersetzt.

Die Machtgleichgewichte haben sich also bereits grundlegend verschoben. Damit aber gerät offenbar mehr ins Rutschen als nur die Macht der Oligarchen und die korrupte Präsidialverwaltung. Die mächtigen Finanzgruppen hatten Zeitungen und Fernsehstationen betrieben, um sich unabhängigen politischen Einfluß zu sichern. Beresowskij und Gusinskij erhielten noch während des Wahlkampfes von 1996 zwei Kanäle, die sich für Jelzin einsetzten. Natürlich konnten sie sich und den Präsidenten so gegen öffentliche Kritik abschirmen. Aber immerhin kämpften sie auch gegeneinander und gegen die patriotisch-sozialistische Mehrheit der Duma. Die Medien der Oligarchen waren jenseits der heiklen Bereiche eher liberal und offen.

Natürlich gab es einen Schlagabtausch in den Medien und käufliche Journalisten, Gerüchte und Diffamierungen. Aber insgesamt fütterten die Medien das Publikum mit wirklichen Nachrichten. Der Krieg in Tschetschenien, die Mißstände in der Armee, die Korruption in Duma, Regierung und Präsidialamt, die Strangulierung des politischen Lebens in den Regionen durch die dortigen Territorialherren - all das wurde berichtet und attackiert. Die politischen Angelegenheiten hatten eine Öffentlichkeit.

Allerdings wurden die Zeitungen, vor allem die guten, nur von einer Minderheit gelesen. Sie waren ein Zuschußgeschäft, das die Oligarchen sich leisteten. Lukrativer bis zur Krise war das Fernsehen. Dann sanken hier die Einnahmen aus der Werbung: Von 2 Milliarden Dollar 1988 auf wahrscheinlich 10 Millionen Dollar in 1999. Der Nebeneffekt der Medienkrise ist eine Förderung der heimischen Produktion. Ausländische Filme und Serien sind nicht mehr bezahlbar und werden durch heimische Produkte, zum Teil aus den sowjetischen Archiven, ersetzt. Das Netz der Auslandskorrespondenten schrumpft. Rußland wird wieder russischer.

Aber auch die Zensur könnte zurückkehren. Seit Jahren wollte die Duma die Medien politisch kontrollieren. Ihr Wunsch war bisher abgeschmettert worden. Nun drohen weitere Inseln der Freiheit zu verschwinden. Die Mehrheit könnte das leicht verschmerzen, eine nicht unwichtige Minderheit kaum.

Sicherlich gibt es noch keinen Grund zur Panik. Auch in der Zeit nach Jelzin wird es Korruption geben. Eine Rückkehr zum Sozialismus, wie er war, ist unwahrscheinlich. Auch jene Gruppen, die bislang in Distanz zur Macht gehalten wurden, drängen zu den Fleischtöpfen. Oligarchen schließlich können nachwachsen, und einer von ihnen, Waldimir Potanin von Norilsk Nikel, hat die Chance, oben zu bleiben.

Das reale Spektrum der Möglichkeiten läßt sich am besten an jenen absehen, die heute als die vier aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten gelten - dem Moskauer Bürgermeister, Jurij Lushkow, dem Gouverneur des Gebiets Krasnojarsk, Aleksandr Lebed, dem Ministerpräsidenten Primakow und dem weißrussischen Präsidenten Lukaschenko.

Alle vier teilen mit Jelzin ein personalisierendes Verständnis von politischer Herrschaft: Es kommt nicht auf Regeln, sondern auf eine starke Hand an. Die Regeln legt der Hausherr fest. Alle vier stehen in Distanz zu den liberalen Reformern der Jahre 1992 bis 1998. Die von dem damaligen Ministerpräsidenten, Jegor Gajdar, verordnete Preisfreigabe habe zum wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Absturz geführt, von dem sich das Land nicht mehr erholt habe. Die von Anatolij Tschubajs durchgeführte Voucher-Privatisierung sei Betrug gewesen. Die Steuern seien so stark erhöht worden, daß sie die legale Produktion strangulierten. Die Kredite seien nicht in die Wirtschaftsentwicklung, sondern in Löhne, Renten und Sold geflossen; sie seien also nicht profitabel angelegt worden, sondern in selbstverschuldeten Finanzlöchern versickert. Der Westen habe diese Mißwirtschaft aus Torheit oder in böser Absicht unterstützt.

Diese Kritik ist heute Gemeingut fast des ganzen politischen Spektrums bis hin zu den Duma-Liberalen von "Jabloko" um Grigorij Jawlinskij. Aber die Heilungsrezepte sind sehr unterschiedlich, falls sie überhaupt existieren.

Lushkow ist eine facettenreiche Gestalt. Er hat Anfang Dezember 1998 durch die Gründung einer eigenen Partei, "Vaterland" (Otetschestwo), begonnen, sich eine politische Infrastruktur zu schaffen. Heftig kritisiert er die schlitzohrigen Privatisierungen und die monetaristische Wirtschaftspolitik von 1992-1998. Dabei hat er selbst erfolgreich gewirtschaftet. Heute präsentiert er sich als Sozialdemokrat der "neuen Mitte". Seine Referenzfiguren sind Tony Blair und Gerhard Schröder. Und doch propagiert er eher klassisch sozialdemokratische Positionen: Er will demokratische Freiheiten und eine Marktwirtschaft mit starken sozialstaatlichen Elementen. Leider unterscheidet auch Lushkow nicht immer haarscharf zwischen öffentlichem und privaten Interessen. Er verstand es, seine politische Macht für eigene geschäftliche Interessen zu nutzen und wurde in seiner Amtszeit reich.

Immerhin erscheint Lushkow frei von sowjetischen Nostalgien. So wandte er sich entschieden gegen den Beschluß der Duma, das Denkmal Feliks Dzershynskijs, des Gründers der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka (später GPU, NKWD, KGB) vor deren einstigen Hauptquartier, der Lubjanka, wieder zu errichten; es war erst 1991 in einem Befreiungsakt von seinem Sockel gerissen worden. Zugleich greift er immer wieder Stimmungen in der Bevölkerung auf. So hofierte er zeitweise den weißrussischen Diktator Lukaschenko, ließ in Moskau Händler aus der Kaukasusregion schikanieren oder füllte Moskau mit geschmacklosem Plunder.

Lebed hat sich, unerfahren wie er war, Probleme gemacht, seit er im Juni 1998 Gouverneur von Krasnojarsk wurde. Ursprünglich hatte er sich von der Moskauer Großbank "Rossijskij Kredit" sponsern lassen. Damit begab er sich in Abhängigkeit von Kräften, die die regionale Industrie steuerten und an ihr verdienten. Als er jene saubere Politik machen wollte, die er versprochen hatte, wurden seine Verbündeten, die er teilweise selbst in mächtigen Positionen installiert hatte, zu erbitterten Feinden. Immerhin erkannte er die Durchstechereien und Unterschlagungen jener, die in der Region wirklich mächtig sind; es wurde einsam um ihn, aber er hat sich offenbar nicht korrumpieren lassen. Nun ist er für eine Wirtschaftsdiktatur, für strikte Steuerpolitik, für Bankrotte ineffizienter oder betrügerischer Unternehmen und für den Kampf gegen die Korruption. Wie oft in Rußland, tritt bei Lebed grimmige Entschlossenheit an die Stelle programmatischer Präzision. Das ist öffentlichkeitswirksam und könnte kompensieren, daß er sich von jenen hat zum Gimpel machen lassen, die er zu bekämpfen versprach.

Primakow ist der älteste. Er bringt aus seiner bisherigen Tätigkeit als sowjetischer und russischer Politiker Erfahrung, Geschick und Geduld ein. In den Konflikten seiner bisherigen Amtszeit hat er sich halten können, was wenige andere geschafft hätten. Er beherrscht das politische Taktieren und hat ein Gespür für Kompromisse. Er wäre dem Westen wahrscheinlich am liebsten, weil er berechenbar ist und Stabilität zu garantieren scheint. Seine Chancen sind aber durch seine jüdische Herkunft gemindert. Er könnte sie nur durch außerordentliche politische Erfolge kompensieren. Aber die sind nicht in Sicht.

Am unangenehmsten wäre der jetzige weißrussische Präsident Lukaschenko. Die russisch-weißrussische Union, der sich nun auch Serbien anschließen will, könnte ihm den Weg in den Moskauer Kreml öffnen. Lukaschenko reflektiert am stärksten jene Stimmungen, die sich nach sieben Jahren Wirtschaftskrise, Verarmung, Kriminalität, Korruption, Unterschlagung und Hoffnungslosigkeit verbreitet haben. Er steht für eine Rückkehr zur sowjetischen Kommandowirtschaft, zur Rüstungsindustrie und zur Diktatur. Er steht für die Abschaffung von verwirrender Pressefreiheit und überflüssigen Menschenrechten, für den Kampf gegen die westliche Zersetzung und für eine slawisch-christliche Gemeinschaft. Anders als seine Konkurrenten ist er überdies ein hinreißender Redner. Seine Chancen hängen allerdings von einer Verwirklichung der Union ab, und die wäre nur gegen die russischen Führungsgruppen zu realisieren - auch gegen jene, die sie heute öffentlich begrüßen.

Solange Primakow im Amt ist, bleibt die Situation in der Schwebe. Wenn er zum Kosovo-Krieg patriotische Töne anschlägt, dann kann ihm das niemand übelnehmen; angesichts der innenpolitischen Stimmung hat er keine Alternative. Daß er durch den neuen IWF-Kredit gestützt wurde, zeigt, daß man im Westen die Situation durchschaut. Aber es ist auch offenkundig, daß der Kredit nur zur Abzahlung von Kreditschulden eingesetzt werden kann. Die Zahlungskrise ist nur aufgeschoben. Eine Lösung ist nicht in Sicht.