Editorial

Michael Ackermann

Nach der NRW-Wahl herrschte große Aufregung: "Auslaufmodell Rot-Grün" hieß es, und allenthalben großes Staunen über einen putzmunteren Möllemann. Dabei waren weniger dessen "fulminanter Wahlkampf", ein Auftritt am "Big-Brother"-Container oder seine Themen entscheidend für die fast 10 Prozent, es waren vor allem einige Grundannahmen, die die Wahl prägten: 1. Der Sieg einer SPD-geführten neuen Regierung stand in der öffentlichen Meinung weitgehend fest. 2. Die Zufriedenheit mit der rot-grünen Regierung war denkbar gering. 3. Auch die potenzielle Anhängerschaft der CDU setzte nicht auf ihren eigenen Sieg. 4. Eine Veränderung der Kons-tellation, ein "Aufmischen" der SPD-Vorherrschaft, konnte für etliche Wähler offensichtlich nur heißen, die FDP zu stärken. So ging nicht nur die Wahlbeteiligung im Allgemeinen und der Stimmenanteil für die beiden großen Parteien weiter zurück, die FDP, erfreute sich neben der Wählerwanderungsströmen von CDU (150.000) und SPD (100.000), schließlich auch eines Zuflusses von 50.000 grünen Stimmen.

Die extremen Schwankungen bei den Wählerbewegungen zwischen Bundestagswahl 1998, Kommunalwahl 1999 und der Landtagswahl 2000 sind frappierend (sie betragen bei der SPD gut 14, bei der CDU knapp 16 Prozent, bei der FDP immerhin auch mehr als 5 Prozent). Sie lassen den Schluss zu, dass parteipolitische Präferenzen immer vager werden.

Der Spiegel (21/00) aber stilisierte die NRW-Wahl zu einer Abstimmung von Jungwählern gegen die "68er" (also die Grünen) und für die FDP – und rief sogleich  eine neue Spezies aus: die "Ich-Generation". Die setzt sich laut Spiegel aus erfolgreichen Internet-Geschäftsleuten, Web-Gründern, also lauter "Jungdynamikern", zusammen. "Ihre Werte heißen Individualität und Modernität, Leistungsbereitschaft und natürlich materieller Erfolg, wie die neueste Shell-Jugendstudie ermittelt hat." Denen stünden die "Bedenkenträger" und rot-grüne "Reglementierer" gegenüber. Die Folge: "Ähnlich wie 1968 erlebt die Republik dabei einen Aufstand der Jungen gegen die Alten, aber leise und unaggressiv. Diesmal funktioniert der Kulturkampf nach den Gesetzen des Kapitalismus. Es ist der Drang nach Freiheit und Selbstverwirklichung – befördert durch die Börse und das Internet."

Selbst wenn man die Beschreibung durch eine an 68er-Klischees entlangschreibende Spiegel-Truppe für halbwegs realistisch hielte, müsste sich auch diese "neue Generation" trotzdem sagen lassen, dass die flotte Alltagskultur keine Selbstverständlichkeit ist, oder wie Peter Schneider im gleichen Spiegel dagegenhält: "Nicht einmal ihr würdet in der Gesellschaft leben wollen, die ihr hättet, wenn es unseren Aufbruch nicht gegeben hätte ..."

Den Bündnisgrünen nützt ein solcher Hinweis zurzeit allerdings wenig. Auf der einen Seite werden sie in ihrer Regierungstätigkeit von einem großen Teil der Öffentlichkeit als "Bremser" oder "Verhinderer" wahrgenommen, auf der anderen Seite schlägt ihnen aus dem eigenen Umfeld das Misstrauen entgegen, grüne Grundsätze in einer kompromisslerischen Politik mit der SPD zu Gunsten einer sesselklebenden "68er-Manier" zu verraten. In einem suggerierten gemeinsamen "Marsch durch die Institutionen" stopfen nun selbst FAZ-Kommentatoren Joschka Fischer und Gerhard Schröder in einen Sack, um mit ihm das gesamte Umfeld der Bündnisgrünen als "Etablierte" durchzuprügeln. Da passt es doch, wenn Rezzo Schlauch, Lockerungsübungen und Spaß in Sachen Auto signalisierend, den Sportwagenfan raushängt.

Unauflöslich abträglich begleiten all diese Umstände die Grünen nun insbesondere in NRW, wo eine Möllemann-FDP jederzeit und zu jeder Bedingung bereit ist, sie zu beerben. Wäre es da nicht besser, an einigen zentralen Punkten auf Alternativen zu bestehen, sich dem Diktat der Clement-SPD zu entziehen und die Koalition zu verlassen?

Das wäre sinnvoll, wenn die Grünen sogleich eine vehemente Oppositionsrolle in der Gesellschaft übernehmen könnten. Diese aber ist parteipolitisch so wenig zu erkennen wie eine allseits beschworene "programmatische Erneuerung" parallel zur Regierungsbeteiligung. Die Partei ist seit ihrer Gründung – und war auch schon als Oppositionspartei – um etliche Sollbruchstellen herum organisiert, ihr Eintritt in die Regierung(en) hat die Bruchstellen zwischen den verschiedenen Erwartungen der Mitglieder und der Wählerschaft nur noch verstärkt, ein Ausstieg aus der Regierung würde den Bruch wohl endgültig herbeiführen. Denn für einen konsequenteren Ausstieg aus der Atomenergie, den Einstieg in neue Energien, eine Verbesserung des Bildungswesens, den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und einen "knallharten" Kampf für Arbeitsplätze und mehr soziale Gerechtigkeit (um ein paar Beispiele zu nennen) gibt es gegenwärtig – jenseits einer diffus reformerisch orientierten Anhängerschaft – keine jener massenhaften und radikaleren "neuen, sozialen Bewegungen", deren Teil so viele von uns in den Siebziger- und Achtzigerjahren waren. Wenn es also tatsächlich ein "Konsensmodell" unter Einschluss der Grünen geben sollte (so Klaus Dräger in seinem Beitrag in "Debatte", S. 31), dann fragt sich, ob diesem Modell eine – wiederum – diffus definierte und orientierte Linke allein mit "Vernetzungen" beikommen kann, wie sie etwa auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu mit dem Projekt eines Zusammenschlusses "europäischer Bewegungen" anstrebt. Für diese Zeitschrift sind solche Fragen kein Anachronismus, sondern wieder einmal ein Hinweis auf den Sinn ihrer Existenz.