Generationen & Soziale Gerechtigkeit

Sozialstaat mit Zukunft – behauptet die KOMMUNE optimistisch. Und das in Zeiten, wo andere die Krise vornehm als ungewisse "Zukunft des Sozialstaates" ausrufen und schon sein Ende beschwören. Solidarität aber ist keine nostalgische Veranstaltung. Eine Neubestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs ist nötig. Mit unserer neuen Reihe wollen wir Anstöße liefern für eine Sozialpolitik jenseits von kurzatmigen Eingriffen. – Im zweiten Teil: Gesundheit.

Die Zukunft der Gesundheit

Harry Kunz

Europaweit und durchaus unabhängig von Versorgungsstrukturen und politischen Weichenstellungen führen die Alterung der Gesellschaft und eine auf Leistungsexpansion angelegte Medizin zu einem Anstieg der Gesundheitsausgaben. Für das deutsche Gesundheitssystem ist diese Entwicklung besonders brisant. Denn 9 von 10 Bürgern sind hier zu Lande in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert. Deren einkommensabhängiges Beitragsaufkommen stagniert mit dem Rückgang der Erwerbstätigenzahl, während medizinischer Fortschritt und gesellschaftliche Alterung Mehrausgaben erforderlich machen. Wird ein solidarisches Gesundheitswesen zwischen den Mühlsteinen sinkender Einnahmen und wachsender Ausgaben zerrieben oder gibt es Alternativen zur "Mehr-Klassen-Medizin"?

Der medizinische Fortschritt trug in den letzten Jahrzehnten erheblich zur Steigerung der Lebenserwartung bei: Von 1960 bis 1995 stieg diese bei Männern um 6,8 Jahre und bei Frauen um 8,1 Jahre. Eine kürzlich von den Vereinten Nationen vorgelegte Studie prognostizierte, dass sich mittelfristig die Lebenserwartung bei Männern von 74 auf 79 und die der Frauen von 80 auf 84 Jahre erhöhen wird.

Verbreitet geht mit der Annahme einer wachsenden Zahl alter Menschen die Vorstellung einher, dass proportional oder gar überproportional der Anteil Kranker und Pflegebedürftiger ansteige. Hier sind jedoch Differenzierungen notwendig. Denn auf der einen Seite verbessert sich der Gesundheitszustand nachfolgender Generationen fortlaufend: Die meisten Angehörigen des Geburtsjahrgangs 2000 werden länger und länger gesünder leben als beispielsweise die Angehörigen der ersten Nachkriegsgenerationen. Indem der medizinische Fortschritt die Sterberate von Menschen jungen und mittleren Alters senkt, steigt gegenläufig allerdings auch die Zahl behinderter und schon in jüngeren Jahren dauerhaft gesundheitlich beeinträchtigter Personen an.

Gleichzeitig verschiebt sich mit der steigenden Lebenserwartung bei der Mehrheit jener Lebensabschnitt in ein höheres Alter, wo verstärkt mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu rechnen ist. Eine US-amerikanische Untersuchung von Kenneth Manton zeigt, dass die Krankheitsanfälligkeit von über 65-jährigen Personen im Zeitverlauf abnimmt. Typische Alterserkrankungen junger Alter (60 bis 75 Jahre) gehen zurück und stellen sich oft erst zehn Jahre später ein. Mantons Berechnungen zufolge sparte die staatliche US-Gesundheitsversorgung Medicare seit 1982 Aufwendungen in Höhe von 200 Milliarden DM Dollar ein, weil alte Menschen länger gesund bleiben.1 Zugleich können Behandlungen, die früher nur bei Jüngeren Erfolg versprachen, nunmehr auch bei Senioren sinnvoll eingesetzt werden. Im Ergebnis konzentrieren sich Hilfs- und Pflegebedürftigkeit stärker in der Phase des Hochbetagtseins.

Die These "Mehr Kranke mit einer verbesserten Medizin" behauptet demgegenüber, dass die Siege der Medizin die Zahl der Kranken im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung erhöhen und zugleich mehr altersspezifische Erkrankungen bewirken. Indem der Tod medizinisch  hinausgezögert werden kann, breiten sich demnach insbesondere chronische Krankheitszustände und Mehrfacherkrankungen aus.2 Ein Beispiel bilden die bereits erreichten und die für die nächsten Jahre erwarteten Erfolge der Krebsbehandlung, die die Sterblichkeit verzögern, aber eine langjährige Behandlung, Rehabilitation und Nachsorge notwendig machen.

Im Ergebnis dürfte sich zukünftig zwar bei vielen Senioren das Krankheitsgeschehen auf die letzten Lebensjahren konzentrieren. Vielfach aber wird das Mehr an Lebensjahren durch mehr Klinikaufenthalte und einen höheren Bedarf an Medikamenten, Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen erkauft werden. Insgesamt wird mit der Alterung der Gesellschaft folglich ein deutlicher Anstieg der Gesundheitskosten verbunden sein.

Mehr als die Hälfte der Gesamtausgaben für über 80-Jährige entfallen auf Krankenhauskosten. Doch: Nicht Hochaltrigkeit für sich mündet in eine Explosion der Krankenhausausgaben. Vielmehr weiten diese sich erst in den letzten Lebensjahren eines Menschen deutlich aus. Und mit zunehmendem Alter gehen die Kosten für Todkranke in ihrem letzten Lebensjahr sogar deutlich zurück. Vielfach werden bei Hochbetagten medizinisch mögliche Eingriffe als sinnlos oder als zu riskant eingeschätzt. Ab der Altersgruppe der Siebzigjährigen sind die Krankenhauskosten von Patienten im letzten Jahr vor ihrem Tod rückläufig. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Sterbenden in Krankenhäusern sinkt schon ab einem Alter von 40 Jahren. (Vgl. Tabelle: Zusammenhang von Sterbealter und Krankenhaustagen) Dieser Trend dürfte sich mit der Pflegeversicherung und dem Ausbau von Hospizen vermutlich ausweiten.3 Weil aber zugleich mehr alte Menschen an schweren Erkrankungen leiden werden, werden sich die Krankenhauskosten auch demografisch bedingt erhöhen.

Krankheit als Feld der feinen Unterschiede

Krankheit ist nicht allein ein medizinisches Konstrukt, sondern wird in hohem Maße kulturell geprägt. Sicherlich gibt es einen Kern an medizinisch definierbaren Störungen, der jenseits kultureller Überformungen von jedermann als Krankheit oder Behinderung erachtet werden: Menschen, die an Aids oder Krebs leiden, gelten kulturübergreifend als Kranke. Wer querschnittgelähmt ist, ist sicherlich behindert. Doch in vielen Fällen gilt: andere Länder, andere Zeiten – andere Kranke. Noch vor 50 Jahren galt etwa Homosexualität als eine Krankheit. Auch heute versucht der Medizinbetrieb, dem medizinischen Zugriff zu unterwerfen, was nicht sozialen Normerwartungen entspricht. Auf der anderen Seite bieten sich die Medizin und verwandte psychosoziale Berufe zunehmend als lebensbegleitende Beratungs- und Unterstützungsinstanzen für die vergrößerten Lebensgestaltungsoptionen und den damit verbundenen Entscheidungsunsicherheiten an. Zugleich entstehen im Horizont medizinischer Machbarkeit neue Ansprüche. In einem Vollversicherungsschutz verheißenden Gesundheitssystem haben neben den Anbietern von Gesundheitsleistungen auch die Patienten ein materielles Interesse an einer Ausweitung des Krankheitsbegriffs. Alterserscheinungen, körperliche Makel und Schönheitsfehler begründen in dem Moment einen Behandlungsanspruch, wo die Medizin eine Behandlungsoption verspricht.

Doch eine Medizin, die dem technologischen Imperativ folgt, Machbares auch zu realisieren, verschärft bestehende Spaltungen. Wo es um "Krankheit" oder "Behinderung" geht, spielen soziale Differenzen hinein: Wohnort, Bildungsstand und Einkommen entscheiden mit über den Krankheitswert einer Disposition oder eines Verhaltens. Zugleich bringt die Medizin neue soziale Unterschiede hervor. "Die heutige medizinische Wissenschaft hat wirkungsvolle Mittel der Lebensverlängerung in der Hand. Doch der Charakter dieser Technologien – vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, ihre exorbitanten Kosten – verhindert ihre universale Anwendung. Der Zugang zu einem längeren Leben ist bereits technologisch stratifiziert", schreibt der britische Soziologe Zygmunt Bauman (in Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg 1999, S. 279 f.). Zwar ersetzt ein Teil der medizinischen Neuerungen vorhandene Techniken oder Therapien. Dies kann die Gesundheitskosten häufig sogar reduzieren. Beispielsweise werden heute Eingriffe kostengünstig ambulant durchgeführt, wo früher ein längerer Krankenhausaufenthalt erforderlich war. In sehr vielen anderen Fällen aber ist medizinischer Fortschritt ein Sichvorwagen auf Neuland.

Der Boom von Organtransplantationen, Prothesen und der Unterstützung von Körperfunktionen durch Herzschrittmacher, Hirnschrittmacher (für Epilepsie- und Parkinson-Kranke) oder künstliche Nieren weitet den medizinischen Zugriff auf Feldern aus, wo sich noch vor kurzem nichts machen ließ. Ebenso werden die erwartete längere Lebenserwartung bei Krebs und die Züchtung menschlicher Organe die Sphäre des Machbaren vergrößern. Schließlich bringen verbesserte Diagnosechancen – auch wenn ihnen keine verbesserten Therapiechancen entsprechen – eine neue Gruppe Behandlungsbedürftiger in der Grauzone zwischen Prävention und Akutbehandlung hervor: Menschen ohne Beschwerden und Krankheitssymptome, bei denen aber eine hohe Krankheitsdisposition diagnostiziert wurde.4

Soziale Selektion und Rationierung als Folgen medizinischen Fortschritts?

Im Umgang mit dem der Medizinentwicklung innewohnenden sozialen Sprengstoff sind zwei politische Strategien erkennbar: Eine stärkere politische Einflussnahme auf die technische Entwicklung der Medizin oder eine Rationierung medizinischer Angebote. Weil das Innovationsrisiko für die Hersteller medizintechnischer Apparaturen auf Grund der Versicherungsfinanzierung gering ist, ist das medizintechnische Innovationstempo hier zu Lande sehr hoch. Eine Auswahl unter Aspekten der Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit findet hingegen kaum statt. Der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen fordert in seinem Sondergutachten von 1995 deshalb eine stärkere Einflussnahme der Politik auf den medizinischen Fortschritt: "Soweit möglich und sinnvoll sollten prospektive, pauschale Vergütungsformen dem medizinischen Fortschritt Orientierung auf eine stärkere präventive, therapeutische und/oder Ausgaben senkende Ausrichtung nahelegen."5

Statt einer derartigen Lenkung der Medizintechnik-Entwicklung nach medizinischen und ökonomisch-sozialen Kriterien geht die Gesundheitspolitik seit Jahren den Weg der Rationierung. Die im Sozialgesetzbuch festgelegte "einnahmeorientierte Ausgabenpolitik" und die Budgetierungspraxis fördern auf der untersten Ebene medizinisch nicht begründbare Behandlungsbegrenzungen. Was tun Krebsärzte und Kardiologen mit beschränktem Budget, wenn die Behandlung eines Patienten einen Kostenaufwand verursacht, mit dem fünf andere Patienten zu retten wären? Und wie verändern sich Indikationen und Therapien, wenn Budgets am Jahresende ausgeschöpft sind?

Leid tragende der heute anarchischen, weil durch keine vernünftigen und akzeptanzfähigen Kriterien bestimmten Rationierung sind insbesondere Hochbetagte, chronisch Kranke, Behinderte und Benachteiligte. – Gruppen, die eigene Gesundheitsanliegen nicht machtvoll zur Geltung bringen können.6

Die Gesundheitskosten einer ergrauten Gesellschaft

Der im Verhältnis zur Einkommensentwicklung überproportionale Anstieg der Gesundheitsausgaben bildet ein international zu beobachtendes Phänomen. Die personalintensiv erbrachten Leistungen des Gesundheitswesens, der medizintechnische Fortschritt und Einnahmeausfälle durch die Massenarbeitslosigkeit bildeten in der Vergangenheit die wichtigsten Ursachen. Auch 1999 stiegen die Leistungsausgaben je Mitglied um 2,2 Prozent, die beitragspflichtigen Einnahmen um 1,65 Prozent. Ein positives Finanzergebnis konnte nur durch die Neuregelung der 630-DM-Jobs erreicht werden.

Derzeit wird die Finanzierungslage der gesetzlichen Kassen durch den kostenentlastenden Geburtenrückgang entschärft. Dieser Effekt wird sich künftig ins Gegenteil (fehlende Beitragszahlungen) verkehren. Vor allem nach 2010 werden sich die Auswirkungen des demografischen Umbruchs auf die Gesundheitssysteme zuspitzen. Durch den Generationenvertrag und die Umlagenfinanzierung wird dies in der GKV zu einer besonders starken finanziellen Belastung der Erwerbstätigen führen. Der noch bestehende Konsens, dass die individuelle Zahlungsfähigkeit keine Zugangsbarriere zur notwendigen Prävention und Gesundheitsbehandlung darstellen soll, ist spätestens dann gefährdet: Gängige Berechnungen der zukünftigen GKV-Beitragsentwicklung gehen längst von einer (Alters-)Rationierung medizinischer Leistungen aus.7 Immerhin betrugen die durchschnittlichen Gesamtkosten für einen männlichen GKV-Versicherten über 80 Jahre bereits 1995 6893,70 DM und lagen damit fünf Mal so hoch wie bei einem Jungen unter 14 Jahren. Bei den weiblichen Versicherten waren die Ausgaben mit 6721,43 DM bei den Hochbetagten sechs Mal höher als bei versicherten Mädchen unter 14 (vgl. Schaubild: Entwicklung der Pro-Kopf-Ausgabenprofile).

Der Anstieg der Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheitsleistungen gewinnt in einer alternden Gesellschaft, insbesondere vor dem Hintergrund einer rückläufigen Anzahl von Beitragszahlern, an Brisanz. Weder eine vermehrte Einwanderung von Menschen jüngeren Alters noch eine aktive Familienpolitik können den dramatischen Wandel der Relation von Nicht-mehr-Erwerbstätigen zu den Erwerbstätigen stoppen. Dem Schneeballeffekt folgend wird allein auf Grund der Geburtenraten der letzten Dekaden die Zahl der Sechzigjährigen und Älteren deutlich steigen, die der Zwanzig- bis Sechzigjährigen schrumpfen.8

Für die Kassen von Bedeutung sind auch die Gesamtausgaben für die Versicherten. Hier ergeben sich mit dem demografischen Wandel widersprüchliche Entwicklungen. Einerseits steigen die Ausgaben mit der wachsenden Zahl älterer Menschen an. Zum anderen ist die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen mit sinkender Bevölkerungszahl rückläufig. Art und Ausmaß der Zuwanderung bilden daher zentrale Bezugsgrößen für das zukünftige Gesundheitswesen: Unter der Annahme einer stark limitierten Zuwanderung würden die GKV-Behandlungsausgaben auf Grund der Alterung der Bevölkerung bis zum Jahre 2016 ansteigen und danach mit dem Rückgang der Bevölkerung wieder auf das heutige Niveau absinken. Wird durch eine verstärkte Zuwanderung der Bevölkerungsrückgang abgebremst, würde die Ausgaben steigernde Wirkung der gesellschaftlichen Alterung hingegen weniger abgepuffert, sodass bis etwa 2029 mit ansteigenden Behandlungsausgaben zu rechnen wäre.9

Immer mehr Krankenkassenbeiträge?

Schon bislang gelang es der Politik der "Kostendämpfung" nicht, den Trend zu steigenden Beitragssätzen zu brechen. Die Alterung der Gesellschaft bedeutet vor allem nach 2010 einen zusätzlichen, dreifachen Angriff auf die Beitragssatzstabilität: Erstens verändert der demografische Umbruch in der gesetzlichen Krankenkasse das Verhältnis von erwerbstätigen Beitragszahlern zu Rentnern: Das Verhältnis von Rentnern zu erwerbstätigen Mitgliedern wird sich von etwa 0,4 im Jahr 1993 auf über 0,8 im Jahr 2040 verdoppeln. Zwar zahlen auch Rentner Beiträge. Trotzdem sind die Ausgaben für diese Versichertengruppe doppelt so hoch wie die Einnahmen: 1997 hatte die Krankenversicherung der Rentner 44,7 Milliarden DM Einnahmen, aber 100,2 Milliarden DM Ausgaben. 1957 verursachte ein Rentner noch ein Drittel weniger an Ausgaben als ein erwerbstätiges GKV-Mitglied. 1970 wurde für Rentner etwa genauso viel ausgegeben wie für Erwerbstätige. 1995 betrugen die Ausgaben für Rentner bereits das 1,8fache der Ausgaben für erwerbstätige Mitglieder in der GKV. Ohne Reformen würde der Subventionsbedarf bis 2040 einen Umfang erreichen, der dem heutigen gesamten Beitragssatz entspricht.

Zweitens gehen mit dem erwartbaren medizintechnischen Fortschritt für ältere Menschen erhebliche zusätzliche Gesundheitsausgaben einher. Die vermehrten Gesundheitskosten für Ältere sind nicht nur demografisch bedingt. Vielmehr verbinden sich diese Effekte mit Kostensteigerungen, die die medizinischen Neuerungen für die Älteren mit sich bringen.

Drittens muss die wachsende Finanzierungslast zur Subventionierung der Rentner von deutlich weniger Erwerbstätigen getragen werden. Beitragserhöhungen und/oder Einschränkungen des GKV-Leistungsspektrums sind deshalb unumgänglich. Nur wenn die Politik die gesetzlich verankerte "einnahmeorientierte Ausgabenpolitik" durch die Rationierung medizinischer Leistungen durchsetzt, dürfte – abhängig vom medizinischen Fortschritt, von der Entwicklung der Erwerbssphäre (Entwicklung der Arbeitsplatzbeschaffung, der Ausbildungszeiten, der Lebensarbeitszeit, der Berufstätigkeit von Frauen, usw.) und der Zuwanderung – der Beitragssatz in den nächsten 40 Jahren bei rund 16 Prozent zu stabilisieren sein. Auch der Gesundheitsökonom Veit Oberdieck widerspricht der die Gesundheitspolitik heute leitenden "Kostendämpfungsillusion": "Die demografische Entwicklung und die Veränderung der medizintechnischen Versorgung sind für die GKV zentrale Beitragssatz steigernde Effekte. Vor allem ab 2020 ließen sich mäßige Beitragssatzsteigerungen – wenn überhaupt – nur noch mit einer sehr eng umgrenzten Grundversorgung realisieren, wodurch die Gesundheitsversorgung durch die GKV wohl massiv eingeschränkt würde."10

Ähnliche Tendenzen sind auch bei den privaten Krankenversicherungen (PKV) absehbar. Deren Ausgabenentwicklung verläuft – abgesehen von den Einflüssen unterschiedlicher Leistungskataloge – analog denen der gesetzlichen Kassen. Auch die Privaten werden von der durch die wachsende Seniorenzahl bedingten Ausgabensteigerung betroffen, zumal ein Wechsel mit dem Erreichen des Verrentungsalters zur GKV heute für Privatversicherte nicht mehr möglich ist. Das für die gesetzlichen Kassen hinzukommende Problem deutlicher Einnahmeausfälle im Gefolge einer geringeren Geburtenrate trifft sie hingegen kaum. Während in der umlagefinanzierten GKV die Beitragshöhe an das jeweilige Einkommen gekoppelt ist, orientieren sich die PKV-Beiträge ausschließlich am individuellen Erkrankungsrisiko des Versicherten. Bei ihnen werden die durchschnittlichen Ausgaben für einen Versicherten folglich über den Lebenslauf hinweg durch seine Prämien gedeckt.

1 Vgl. hierzu: Zweiter Bericht der Enquetekommission Demographischer Wandel, Bonn 1998, 411 f.

2 In Deutschland wird die Medikalisierungsthese des Alterns ("Mehr Medizin – mehr kranke Senioren") vor allem von dem Statistiker Walter Krämer vertreten. (Ders. Die Krankheit des Gesundheitswesens. Fischer, Frankfurt/Main 1989; Ders. Wir kurieren uns zu Tode. Campus, Frankfurt/Main 1993).

3 Die unter den Krankenhauskosten liegenden Aufwendungen einer Hospizunterbringung werden – bis auf einen Patienteneigenbetrag – allerdings gleichfalls von den Krankenkassen finanziert. (Vgl. den Beitrag "Menschenwürde im Alter unbezahlbar ?" in Kommune 1/00, 17-20).

4 Vgl. zu den ethischen Problemen und sozialen Folgen am Beispiel der Krebsgendiagnostik den Beitrag "Genmedizin" in Kommune 3/00, 57-59.

5 Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000. Bonn 1995, Tz. 343.

6 Ausführlich hierzu: Th. Moormann. Rationierung im deutschen Gesundheitswesen? Stuttgart 1999; G. Feuerstein/ E. Kuhlmann (Hg.), Rationierung im Gesundheitswesen, Wiesbaden 1998.

7 So unterstellt die Prognos AG, die im Auftrag der Rentenversicherer zuletzt 1998 die Beitragssatzentwicklung der bundesdeutschen Sozialsysteme für die nächsten 40 Jahre analysierte, dass der Anstieg des Behandlungsaufwands für Ältere und Hochbetagte begrenzt wird. Ohne eine derartige Altersrationierung medizinischer Leistungen seien GKV-Beitragssätze um 15 Prozent angesichts des demografischen Wandels mittelfristig nicht haltbar (Prognos AG, Perspektiven der gesetzlichen Rentenversicherung für Gesamtdeutschland, Frankfurt/Main 1998).

8 Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag: Generationen und soziale Gerechtigkeit in Kommune 4/00, 29-33

9 Vgl. hierzu: Zweiter Bericht der Enquetekommission Demographischer Wandel, a.a.O., 418 ff.

10 V. Oberdieck, Beitragssatzexplosion in der gesetzlichen Krankenversicherung, Hamburg 1998, 154.

 

Von der Armenfürsorge zur Gesundheit für alle

Die ersten gesetzlichen Regelungen über Krankenkassen fallen in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Neben den meist auf Gemeindeebene organisierten Hilfskassen für Fabrikarbeiter und Handwerksgesellen ist das Knappschaftsgesetz von 1854 wegweisend für die künftige Sozialgesetzgebung. Mit dem Gesetz über eine Krankenversicherung von 1883 wurde das Solidarprinzip einkommensabhängiger Beiträge eingeführt. Allerdings beschränkten sich die Leistungen der anfangs über 15000 Kassen im Wesentlichen auf einkommensabhängige Entgeltzahlungen im Krankheitsfalle. In der Folgezeit wurden weitere Gruppen von Erwerbstätigen einbezogen. Von 1880 bis 1913 erhöhte sich der Anteil GKV-Versicherter an der Gesamtbevölkerung von 5 auf 25 Prozent. Die Reichsversicherungsordnung von 1914 schrieb diese Ausweitung fest. Gemeindekrankenkassen wurden in den Allgemeinen Ortskrankenkassen zusammengefasst.

1930 wurde die beitragsfreie Familienmitversicherung eingeführt, 1941 eine Krankenversicherung der Rentner. 1956 wurden die Pensionäre generell den übrigen Versicherten gleichgestellt. Vom jeweiligen Rentenanspruch wurde eine Pauschale an die Krankenkassen abgezweigt, die einen Leistungsanspruch gegenüber den Kassen begründete. Die während der NS-Diktatur aufgehobene Selbstverwaltung in der GKV wurde in den 50er-Jahren wiederhergestellt, die Beitrags- und Leistungsvorschriften der Reichsversicherungsordnung erneuert. In der Folgezeit wurden die Solidargemeinschaft der GKV und der Leistungskatalog weiter ausgebaut: In den Siebzigerjahren wurden Zahnersatz und Kieferorthopädie sowie Vorsorge- und Früherkennungsprogramme in das GKV-Leistungsspektrum übernommen. Die Krankenhausversorgung wurde verbessert, mit der Einführung des mittlerweile wieder gekappten Selbstkostendeckungsprinzips von Krankenhäusern aber auch die Ausgaben ausgeweitet. Parallel dehnte sich der Adressatenkreis der GKV auf Behinderte, Rehabilitationsbedürftige, Studenten und Personen aus, die keine/geringe eigene Beiträge zahlen.

In den letzten 25 Jahren stiegen die hälftig vom Mitglied und seinem Arbeitgeber getragenen Beiträge zur GKV trotz mancher auf Beitragssatzstabilität fixierten Reform von gut 8 auf 13,5 Prozent an.

 

Zusammenhang von Sterbealter und Krankenhaustagen in den letzten zwei Lebensjahren

Sterbealter

50

60

70

80

90

Krankenhaustage in den letzten zwei Lebensjahren

54

53

48

43

29

Quelle: Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (1996), S. 101.