Holzwege und Alternativen

Gesundheitsversorgung im Zangengriff sinkender Einnahmen und vermehrter Ausgaben

Budgetieren und Rationieren

Gesetzlich verordnete Budgetierung bildet eine im deutschen Gesundheitswesen gängige Praxis. Seit fast 20 Jahren ist die ärztliche Gesamtvergütung gedeckelt. Krankenhäuser arbeiten seit 1972 mit Budgets. Diese sektoralen Budgets zementieren bestehende Versorgungsstrukturen, orientieren sich nur schwerfällig an wandelnden Bedürfnissen von Patienten und behindern somit neue Entwicklungen. Beispielsweise könnten rund ein Drittel der in Krankenhäusern erbrachten Leistungen kostengünstiger teilstationär oder ambulant erbracht werden. Rotgrün wollte deshalb ein Globalbudget an die Stelle der aktuellen sektoralen Deckelungen setzen. Ein solches Budget würde den finanziellen Rahmen dessen umreißen, den die Gesellschaft für eine solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung auszugeben bereit ist. Die Gleichzeitigkeit von Mangel und Überfluss im Gesundheitssystem kann ein solches Budget aber nicht aufheben. Denn die internen Machtverhältnisse des Medizinbetriebs und bestehende regionale, krankheitsbezogene, behandlungs- und anbieterspezifische Versorgungsdiskrepanzen werden nicht angetastet. Verteilungsgerechtigkeit und ökonomische Effizienz blieben weiterhin auf der Strecke. Budgetierungen können den Umfang und die Qualität von Gesundheitsleistungen folglich nicht optimieren.

Selbstbeteiligung statt Solidarität?

Die wichtigste Strategie der Kostenverlagerung bildet der seit Jahren beschrittene Weg, durch Zuzahlungen auf Arzneien, Kuren und Hilfsmittel die Privathaushalte zu belasten. Mit den mittlerweile wieder abgeschwächten Zuzahlungen nach dem GKV-Neuordnungsgesetz von 1997 war jede fünfte Verordnung vom Versicherten selbst zu zahlen. Die bislang betriebenen Zuzahlungsregelungen belasten neben chronisch Kranken in erster Linie Ältere, da mit zunehmendem Alter auch die Inanspruchnahme medikamentöser Therapien steigt.

Von Selbstbeteiligungen verspricht man sich ein höheres Kostenbewusstsein der Patienten. Tatsächlich findet aber eine qualitative Steuerung nicht statt: Therapeutisch sinnvolle Arzneien und Hilfen werden ebenso belastet wie umstrittene Angebote. Und höhere Eigenbelastungen führen auch nur bei schmalem Portemonnaie zu einem Rückgang der Inanspruchnahme. Eigenbeteiligungen belasten ausschließlich Kranke und sind deshalb trotz Härtefallregelungen in besonderer Weise blind gegenüber dem sozialen Dilemma der Medizin: Gerade jene Bevölkerungsgruppen, die am stärksten auf gesundheitliche Hilfen angewiesen sind, sind materiell und persönlich am wenigsten in der Lage, Eigenvorsorge zu betreiben.

"Versicherungsfremde" Leistungen?

Als versicherungsfremde Leistungen gelten solche Leistungen, die den Kassen aus sozial- oder familienpolitischen Gründen übertragen wurden, die aber in keinem direkten Zusammenhang mit einer notwendigen Gesundheitsversorgung stehen. Betriebs- und Haushaltshilfen, Mutterschafts- und Sterbegeld zählen hierzu ebenso wie die Kostenübernahme bei Sterilisationen und Schwangerschaftsabbrüchen oder die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen. Würden umstrittene Hilfen wie Sterilisationen, Kinderbetreuung während einer Kur oder künstliche Befruchtung vollständig aus dem Leistungskatalog der Kassen gestrichen, würden die Mehrkosten unmittelbar die betroffenen Privathaushalte belasten. Andere sozial- und familienpolitisch unumstrittene Maßnahmen müssten hingegen durch neue staatliche Hilfen ersetzt werden. – Derzeit geht allerdings auch Rotgrün den umgekehrten Weg, Kranken- und Pflegeversicherung mit neuen Aufgaben zu belasten und gleichzeitig die Einnahmebasis zu beschneiden.11

Eine besondere Aufmerksamkeit kommt der beitragsfreien Mitversicherung von Familienangehörigen, insbesondere von nicht erwerbstätigen Ehepartnern zu. Bundesweit zahlen 29,3 Prozent der Versicherten als Familienangehörige keine eigenen Kassenbeiträge. Die kostenfreie Mitversicherung beinhaltet zudem eine starke Ungleichbelastung von Ein- und Zweiverdienerpaaren. Vorrangig diskutiert werden eine obligatorische Beitragsbelastung des Ehepartners nach Erreichen bestimmter Altersgrenzen des Kindes oder eine Beitragspflicht nur für kinderlose Paare. In jedem Fall würde ein starker Druck in Richtung auf eine vermehrte Erwerbstätigkeit von Frauen gehen. Auf dem Arbeitsmarkt benachteiligte Frauen würden zusätzlich diskriminiert.12

Das liberale Modell

Eine solidarisch finanzierte Basisversorgung und private Zusatzleistungen will statt der heute geforderten "medizinisch notwendigen" Gesundheitsversorgung die solidarisch finanzierte Krankenversorgung auf eine "funktionale" Behandlung beschränken. Zwei Varianten stehen zur Diskussion. Beim "Zwiebelmodell" würden heute schon gängige Prinzipien der PKV auf die GKV übertragen. Hier hat der Versicherte die Möglichkeit, bestimmte Leistungskomplexe aus dem Versicherungsschutz auszuklammern. Lediglich ein Kern von gesundheitlichen (und wirtschaftlichen) Großrisiken bliebe weiterhin geschützt. Alternativ könnten vom Versicherten obligatorische Kernleistungen durch freiwillige Zuwahlleistungen ergänzt werden. Doch was sind eine Basisversorgung sichernde Kernleistungen? Allein medizinisch-naturwissenschaftlich ist dies nicht zu bestimmen. Der Sachverständigenrat für Gesundheit zählt in seinem Gutachten von 1994 alle Notfallbehandlungen zu den Kernleistungen. Akute Erkrankungen wären erst dann Teil der Basisversorgung, wenn sie lebensbedrohende Ausmaße annehmen. Daneben bezieht sich der Sachverständigenrat auch auf (wirtschaftliche) Großrisiken kostenintensiver Heilungsverfahren, die die Leistungsfähigkeit des Einzelnen überfordern. Bagatellleistungen wären vom Versicherten selbst zu übernehmen. Andere Kriterien bilden der Grad der Vorhersehbarkeit und der Beeinflussbarkeit: Brillen, Zahnbehandlungen und ähnliche mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretende Beeinträchtigungen fielen ebenso vollends in den Bereich der Eigenvorsorge wie Krankheiten oder Gebrechen, die in hohem Maße durch das Verhalten vermeidbar sind. Heftig diskutiert werden auch Modelle, wo die durch eine Behandlung gewonnene Lebensqualität als Kriterium für Regelleistungen oder eigenfinanzierte Zusatzleistungen fungiert.

Insgesamt wird zweierlei deutlich: Aufteilungen in Regel- und Wahlleistungen sind mit dem GKV-System durchaus vereinbar und werden in Ansätzen auch schon praktiziert. Zugleich wären die tatsächlichen Einsparungen der GKV eher gering – zumindest wenn die Abwehr von medizinischen und wirtschaftlichen Großrisiken weiterhin zum Kernbestand der Regelleistungen zählt. Rationieren, Budgetieren und Kostendämpfen blieben weiterhin die Hauptaufgaben staatlicher Gesundheitspolitik. Viele Befürworter einer teilweisen Marktliberalisierung setzen denn auch eher auf die Wachstumspotenziale und Gewinnchancen eines Konsumgütermarktes für Gesundheitsprodukte, der dem Spiel von Angebot und Nachfrage überantwortet wird.13

Wesentliche Leistungsausgrenzungen, etwa von typischen Alterserkrankungen oder von Unfällen nach Risikosportarten, würden neben Härtefallregelungen auch die Versicherung entsprechender Risiken mit sich bringen. Um Trittbrettfahrer-Effekte zu vermeiden wäre eine Pflichtversicherung entsprechender Risiken plausibel. In dieser Perspektive könnten Leistungsausgrenzungen einen Einstieg in einen Systemwechsel von einem umlagefinanzierten in ein kapitalgedecktes Finanzierungssystem bilden.

Systemwechsel ...

Anhänger einer kapitalgedeckten Krankenversicherung glauben, dass durch einen Systemwechsel insbesondere die Finanzierungsprobleme des demografischen Umbruchs besser zu bewältigen sind. Jeder versicherungspflichtige Beitragszahler müsste einen Kapitalstock ansparen, von dem die laufenden und insbesondere die im Alter erwarteten Kosten finanziert würden. Ziel wäre eine Abkehr von dem prekären Generationenvertrag, auf dem das Umlageverfahren basiert, zu einem System der Generationenadäquanz, wo sich Beiträge und Leistungen innerhalb einer Generation entsprechen. Jede Generation sorgt für sich selbst: Beiträge in jungen Jahren enthielten neben der Absicherung des aktuellen Krankheitsrisikos auch eine Sparkomponente für die Gesundheitskosten im Alter.

Eine kapitalgedeckte Pflichtversicherung zumindest bestimmter gesundheitlicher Risiken wird aber auch mit deren Gerechtigkeitsvorsprung gegenüber bestehenden Zuzahlungsregelungen begründet. Selbstbeteiligungen übertragen die Kosten auf den einzelnen Kranken. Ein Solidarausgleich fehlt. Eine risikoäquivalente Pflichtversicherung würde hingegen einen Austausch zwischen Gesunden und Kranken erreichen. Für Bezieher niedriger Einkommen, kinderreiche Familien und Rentner wären aber erhebliche Zusatzbelastungen zu erwarten, wenn die bisher im GKV-System betriebene Umverteilung zu Gunsten dieser Gruppen nicht durch staatliche Sozialtransfers (z.B. die Übernahme des Versicherungsbetrages von Kindern) kompensiert würde.

Letztlich scheitert ein solcher Systemwechsel, jedenfalls im nationalen Maßstab, aber an der Politik. Denn im Übergangszeitraum von der umlagefinanzierten zur kapitalgedeckten Krankenversicherung würden die Beitragszahler doppelt belastet: Das eigene Risiko wäre abzusichern und die Krankheitskosten für die Rentnergenerationen, die umlagefinanzierte Beiträge entrichtet haben. Zwar muss auch im umlagefinanzierten System zukünftig die Doppelbelastung des eigenen Krankheitsrisikos und die Subventionierung der Älteren getragen werden. Doch treten hier die Belastungsspitzen erst nach 2020 ein, während ein Systemwechsel die heutigen Beitragszahler (und Wähler) zu Gunsten zukünftiger Krankenversicherter belasten würde.

... oder mehr Geld ins System?

Der sinkende Bruttolohnanteil am Volkseinkommen, die Massenarbeitslosigkeit und die Frühverrentung zehren schon heute an der Einnahmebasis der Kassen. Selbst bei größeren Leistungseinschnitten werden die demografisch bedingten Beitragssatzbelastungen zukünftig nicht durch Produktivitätsfortschritte kompensiert werden. Eine erweiterte Einnahmebasis der Kassen ist unabweisbar – wenn wir an den ethischen und sozialpolitischen Prämissen unserer Verfassung festhalten wollen.

Eine Veränderung der Einnahmestruktur wird in drei Richtungen diskutiert:

– Eine Neufassung der Beitragsbemessungs- und der Versicherungspflichtgrenze.

– Eine generelle Krankenkassenpflicht für alle.

– Eine Einbeziehung zusätzlicher Einkommensarten.

Im Unterschied zur gesetzlichen Rentenversicherung besitzt die GKV eine obere Einkommensgrenze, bei deren Überschreiten zwar eine freiwillige Versicherungsberechtigung fortbesteht, die Versicherungspflicht aber entfällt. Diese Grenze der Versicherungspflicht, die zugleich das maximal beitragspflichtige Einkommen festlegt, liegt bei 75 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rente.14 Während die Bemessungsgrenze bei der Rente zugleich die Höchstgrenze der zu erreichenden Renten definiert, sind die Leistungen der Krankenversicherung – mit Ausnahme des Krankengeldes – beitragsunabhängig. Diese Regelung steht somit nicht nur dem Prinzip solidarischer Finanzierung entgegen, sondern befördert auch eine Risikoselektion zwischen privaten und gesetzlichen Kassen: Wer die Wahl hat, wird vor allem dann freiwillig die gesetzlichen Kassen wählen, wenn die voraussichtlichen Gesundheitskosten (inklusive mitversicherter Familienangehöriger) so hoch sind, dass die Tarife der privater Versicherungen ungünstiger sind. Das Ergebnis: Besonders Menschen mit "besseren" Risiken entscheiden sich für die Privaten. Eine Anhebung von Beitragsbemessungsgrenze und Versicherungspflichtgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung würde eine Verringerung des GKV-Beitragssatzes um rund 5 Prozent (bei völligem Wegfall der Versicherungspflichtgrenze um 7 Prozent) ermöglichen, da den Mehreinnahmen mit Ausnahme des erhöhten Krankengeldes keine zusätzlichen Ausgaben gegenüber stehen.

Eine allgemeine Versicherungspflicht für die gesamte Wohnbevölkerung in der GKV würde neben Personen ohne Krankenversicherungsschutz insbesondere Beamte und Selbstständige einbeziehen. Auch dieses Modell würde die Finanzierungssituation der Kassen ebenso verbessern wie eine Berücksichtigung anderer Einkommensarten (z.B. Mieten, Kapitalerträge).15

Kommunitär-politische Modelle

Diese wollen Rationierungsentscheidungen durch politisch legitimierte Gremien, etwa einen nationalen Gesundheitsrat aus Vertretern der Kassen, Ärzte, Krankenhäuser, Versicherten und der Politik, treffen lassen. Im Unterschied zu den heute gängigen und absehbaren Rationierungen durch Wartelisten oder durch nicht medizinisch motivierte ärztliche Behandlungsbegrenzungen bietet die konstitutive Vorabrationierung medizinischer Kapazitäten einen demokratisch legitimierten, veränderbaren und für Sachrationalität zumindest offenen Entscheidungsprozess, der tragische Entscheidungssituationen auf der untersten Stufe nicht zum künftigen Regelfall medizinischer Rationierung erhebt. Das medizinisch Notwendige der Medizin zu überlassen bedeutet einen "entwürdigenden Kampf zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten sowie unter verschiedenen Arztgruppen", bekennt der Ärztefunktionär Frank Montgomery freimütig.16 Angesichts einer Entwicklung der Medizin zu einem umfassenden Beratungs- und Serviceangebot ist die Definition des medizinisch Notwendigen, also die Grenzziehung zwischen Gesundheitsleistungen und sonstigen Konsumgütern und Dienstleistungen, eine politische Aufgabe.

Fazit:
Zwischen Machbarkeitsdenken und neuen sozialen Spaltungen

Trotz mancher Reformen blieben die Strukturen des Leistungsgeschehens im Gesundheitswesen bislang unangetastet. Kostendämpfung reduziert sich auf eine bloße Umkehrung des ehedem gewährten Gießkannenprinzips. Dies kann überflüssige und ineffektive, aber mit machtvollen Interessen ausgestattete Diagnoseverfahren und Behandlungen nicht zurückdrängen. Nur durch eine stärkere Einflussnahme der Politik auf  die Technikentwicklung und die Ausrichtung von medizinischen Innovationen ist eine effektivere Medizin zu erreichen. Dies setzt aber voraus, dass Gesundheitspolitik Ziele und Prioritäten einer zukünftigen Gesundheitsversorgung definiert.

Gilt die These, dass die solidarische Gesundheitsfinanzierung mit der zunehmenden Angebotsausweitung der Medizin an soziologische Grenzen der Solidarität stößt, so steht das Ziel einer maximalen Gesundheitsversorgung in einem unaufhebbaren Konflikt zur Gerechtigkeit. Für Schwächere werden die Mittel fehlen, die neuen Möglichkeiten der Medizin zu nutzen.

Neue Finanzierungswege müssen eröffnet werden: Eine Ausweitung der Beitragspflicht auf die gesamte Wohnbevölkerung ist schon unter dem Gesichtspunkt gerechter Lastenverteilung überfällig. Sozialpolitisch unabdingbar ist es freilich, Kinder von dieser Beitragspflicht zu befreien oder ihre Beiträge durch staatliche Transfers zu subventionieren. Auch für nicht erwerbstätige Ehepartner werden sich nur Beiträge im Bereich der Niedriglohnabschläge durchsetzen lassen. Deshalb wird auch eine allgemeine Beitragspflicht den GKV-Kassen nur begrenzte Zusatzeinnahmen bringen. Fast wichtiger wäre es, andere Einkommensarten (Mieten, Kapitalerträge, etc.) in der Beitragspflicht zu berücksichtigen.

Dennoch werden die Krankenkassenbeiträge ansteigen und den Erwerbstätigen insbesondere von 2010 bis 2040 sehr hohe Lasten aufbürden. Um hierfür Akzeptanz zu sichern, bedarf es einer neuen Festigung des sozialen Sinns einer solidarischen Gesundheitsversorgung – und deren Grenzen.

Um die besonderen demografischen Belastungsspitzen bis 2040 abzufedern, muss die Gesundheitsversorgung zugleich um neue Elemente ergänzt werden. Entweder wird es zur expliziten Ausgrenzung medizinisch notwendiger Leistungen kommen oder Finanzschwächere werden durch gesteigerte Zuzahlungen indirekt ausgegrenzt. Oder man entscheidet sich für eine kapitalgedeckte obligatorische Versicherung bestimmter Leistungsbereiche. In Frage kommen hierfür expandierende Leistungsbereiche, die bislang nur unzureichend finanziert werden. Beispiele bilden die akutmedizinische Versorgung und Rehabilitation der Opfer schwerer Verkehrsunfälle und von Risikosportarten oder die psychosoziale Sterbebegleitung. Allerdings bedeuten weitere Pflichtversicherungen insbesondere für wirtschaftlich Schwächere  neue Zusatzbelastungen.

Die zukünftig größte Herausforderung an das Wertesystem des Sozialstaats bilden vermutlich Rationierungen in der Medizin. Reicht es aus, deren ethische Problematik ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, um so einen Veränderungsdruck zu erzeugen? Oder sind die Realität der Rationierung zu akzeptieren und ethisch akzeptable Verfahren ihrer Praxis zu entwickeln?

Wenn das Mögliche und das (wirtschaftlich und sozial) Machbare in der Medizin zunehmend auseinander klaffen, so ist von einer expliziten Rationierung, etwa durch einen Nationalen Gesundheitsrat, mehr Klarheit und Wahrheit zu erwarten als von der heute anarchischen Selektion auf der untersten Ebene. Insbesondere wird das "medizinisch Notwendige" in Abgrenzung von sonstigen gesundheitlichen Dienstleistungen neu zu definieren sein. Zwar fehlen hierzu konsensfähige und allgemein als gerecht und fair anerkannte Entscheidungskriterien. Die öffentliche Auseinandersetzung um resultierende Wertkonflikte könnte aber eine Chance bieten, immer wieder nach einem Ausgleich zwischen Medizinentwicklung und Gerechtigkeit zu suchen.

11 Beispielsweise bedeutet die politische Maxime: "Drogensüchtige sind Kranke" eine erhebliche Zusatzbelastung für die Krankenkassen. Die von Gesundheitsministerin Fischer geforderte (und sachlich gebotene!) Verbesserung der Pflege Altersverwirrter vergrößert die Ausgaben der Pflegekassen. Gleichzeitig streicht Rotgrün die Beiträge Arbeitsloser für die Pflegeversicherung in diesem Jahr um rund 400 Mio. DM zusammen!

12 Die vielfach angenommenen hohen GKV-Zusatzeinnahmen (z.B. S. Busch /A. Pfaff / Ch. Rindsfüßer. Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Düsseldorf 1996, 63 ff.) bei einer Beitragspflicht nichterwerbstätiger Ehepartner beruhen auf heute unrealistischen Annahmen. Warum sollte ein nichterwerbstätiger Partner eines Gutverdienenden die Hälfte von dessen GKV-Beitrag zahlen, wenn ein Ausweichen auf einen "Schein-630-DM-Job" mit dessen niedrigem Sozialbeitrag möglich ist?

13 P. Oberender, A. Hebborn. Wachstumsmarkt Gesundheit. Frankfurt/Main 1994, 147 f., 152 ff.

14 1999 betrug die Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung in den alten Bundesländern 8000,- DM monatlich, entsprechend lag die Bemessungsgrenze der Krankenversicherung bei 6375 DM/Monat.

15 Vgl. zu diesen Angaben: S. Busch/A. Pfaff/Ch. Rindsfüßer, a. a. O.

16 Zeit, 9.9.99.

 

Altersverwahrlosung, Pflegeindustrie oder neue Menschlichkeit?

Zu wenig öffentliche Beachtung finden die Folgen der demografischen Alterung für die Zukunft der Pflege. Mit der Pflegeversicherung sollte ab 1995 eine Grundversorgung zur Abdeckung pflegebedingter Aufwendungen sichergestellt werden. Sie bildete vor allem eine Antwort auf die steigende kommunale Sozialhilfebelastung durch pflegebedürftige Senioren. Die mittel- und langfristigen Folgen der gesellschaftlichen Alterung blieben unberücksichtigt.

Dabei hat die Alterung der Gesellschaft auf Grund der hohen Altersabhängigkeit des Pflegebedarfs für dieses soziale Sicherungssystem besonders gravierende Auswirkungen. In der Altersgruppe der über 80-Jährigen sind 280 von 1000 Personen pflegebedürftig, bei den Vierzigjährigen hingegen nur vier. Ob mit dem Anstieg der Zahl Hochbetagter proportional auch der Pflegebedarf wächst, hängt davon ab, wie groß der Anteil derjenigen ist, die zukünftig gesund ein hohes Alter erreichen. Geht man von konstanten alters- und geschlechtsspezifischen Pflegebedarfs-Wahrscheinlichkeiten aus, so würde in den nächsten Jahrzehnten die Zahl der Pflegebedürftigen von derzeit 1,6 Millionen Bürgern auf 2,5 bis 2,8 Millionen ansteigen. Die tatsächliche Entwicklung kann aber erheblich abweichen. Denn die Entwicklung des Pflegebedarfs ist in hohem Maße von politischen Weichenstellungen abhängig. Eine neuere US-amerikanische Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass rund zwei Drittel aller mit dem Altern verbundenen Vorgänge veränderbar sind. Dies gelte auch für schwere Beeinträchtigungen körperlicher und geistiger Fähigkeiten.1 Entscheidungen im Gesundheitssystem etwa über eine Rationierung medizinischer Leistungen oder einen Wegfall von Rehabilitationsmaßnahmen, die einer Pflegebedürftigkeit entgegenwirken, haben somit einen erheblichen Einfluss auf den Pflegebedarf. Relevant ist insbesondere, ob auch bei jenen Senioren, deren Krankheitsbilder chronisch verlaufen und bei denen gehäuft mehrere Krankheiten auftreten, Rehabilitationsmaßnahmen ausgebaut werden. Eine verstärkte Rehabilitation könnte auch eine dauerhafte Pflegebedürftigkeit vermeiden, vermindern oder zumindest verzögern.

Eine unbekannte Größe für die Pflege der Zukunft bildet auch die Versorgungsstruktur bei einem insgesamt eindeutig auf Wachstum ausgerichteten Pflege- und Hilfsbedarf. Heute werden noch fast drei Viertel der Leistungsempfänger der Pflegeversicherung ambulant gepflegt. Mit dem Wandel der Familie und der demografischen Entwicklung ergeben sich zwangsläufig Veränderungen: Die rückläufige Zahl von Frauen in mittlerem Lebensalter und der Trend zu Einpersonenhaushalten sowie die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit fördern den Rückgang der Pflege durch Familienangehörige noch. Wer an ihre Stelle treten kann, ist offen.

Der seit Juli 1996 geltende Beitragssatz zur gesetzlichen Pflegeversicherung von 1,7 Prozent wird deutlich ansteigen, 1999 gab die Pflegeversicherung erstmals mehr Geld aus, als sie einnahm. In diesem Jahr wird mit Fehleinnahmen von rund 670 Millionen DM gerechnet. Unterstellt, dass die Gesundheitsentwicklung nicht durchgängig zu einer Verlängerung eines gesunden Lebens führt und die jetzigen Qualitätsstandards der ohnehin nur eine Mindestsicherung garantierenden Pflegeversicherung beibehalten bleiben, dürfte sich der Beitragssatz in den nächsten 40 Jahren etwa verdoppeln.

1 J. W. Rowe, R. L. Kahn (Hg.) Successfull aging, New York 1998.

 

 

Literaturempfehlungen:

Das Märchen von der Kostenexplosion (B. Braun/H. Kühn/H. Reiners) Frankfurt/M. (Fischer TB) 1998
Engagierte Verteidigungsschrift der GKV als solidarischer Antwort auf das soziale Dilemma der Medizin. Umso ärgerlicher ist die völlige Problemignoranz gegenüber den Umbrüchen, die sich mit der gesellschaftlichen Alterung und dem medizintechnischen Fortschritt ergeben.

Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (S. Busch/A. Pfaff/Ch. Rindsfüßer) Düsseldorf (Hans-Böckler-Stiftung) 1996
Prägnant werden verschiedene Modell zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, zur Neuordnung der Familienmitversicherung und zur Ausweitung des GKV-Versichertenkreises in ihren Finanzierungskonsequenzen vorgestellt. Eine Erörterung der soziologischen Rahmenbedingungen und Restriktionen der verschiedenen Modelle mitsamt den daraus resultierenden politischen Durchsetzungschancen fehlt hingegen.

Zweiter Bericht der Enquetekommission Demographischer Wandel, Bonn (Deutscher Bundestag) 1998
Wer zugespitzte Thesen zu den Auswirkungen des demografischen Umbruchs auf die sozialen Sicherungssysteme erwartet, wird enttäuscht. Als fundierte und faktenreiche Materialgrundlage zu dieser Debatte ist der Enquete-Bericht dennoch unerlässlich. (Derzeit nur als CD-Rom erhältlich bei: Dt. Bundestag, Ref. Öffentlichkeitsarbeit, Charles-de-Gaulle Straße 6, 53113 Bonn)

Rationierung im Gesundheitswesen (G. Feuerstein/E. Kuhlmann; Hg.) Wiesbaden (Verlag Ullstein Medical) 1998
Spannende Einführung in das "Dickicht von konkurrierenden Werten, Normen, Zielen und Rationalitäten" medizinischer Rationierungs- und Selektionspraktiken

Rationierung im deutschen Gesundheitswesen? (Th. Moormann) Stuttgart (Ibidem Verlag) 1999
Vergleich der Praxis medizinischer Rationierung in Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland. Ein Beleg für die Überlegenheit eines Gesundheitssystems ist nicht feststellbar. Stets wirkt die Medizin sozial diskriminierend. Akzeptanzfähige Rationierungskriterien fehlen.

Beitragssatzexplosion in der gesetzlichen Krankenversicherung? (V. Oberdieck) Hamburg (Steuer- und Wirtschaftsverlag) 1998
Materialreiche Darstellung der Auswirkungen demografischer Umbrüche und des medizintechnischen Fortschritts auf die Gesundheitsversorgung. Lesenswert, selbst wenn man den Reformvorschlägen (u.a. ein teilweise auf Kapitaldeckung basierendes GKV-System und die Abschaffung der Arbeitgeberbeiträge zur GKV) nicht folgen mag.