Das neue Subjekt entsteht im Auge der Kamera

"Big Brother" und andere Inszenierungen von postmoderner Identität

Martin Altmeyer

Wo aufgeregte Politiker und wohlmeinende Medienkritiker vor Beginn der 100-Tage-Veranstaltung, dem PR-Kalkül des Senders folgend, noch von einem Angriff auf die Menschenwürde sprachen ("Menschenzoo"), hat im deutschen Feuilleton längst der Tiefendiskurs über die zeitdiagnostische Bedeutung dieser Reality-Soap eingesetzt, an dem sich unser Autor mit einigen Thesen beteiligt. Was verbirgt sich unter der Oberfläche des neuen Formats, bei dem sich wie in einer Zangenbewegung die Banalisierung des Fernsehens und die Theatralisierung des Alltags zu einem gut koordinierten Angriff auf jene intellektuellen, ästhetischen und moralischen Standards formieren, an denen wir unsere Vorstellungen vom "guten Geschmack" – um nicht zu sagen: vom "richtigen Leben" – gerne orientieren möchten?

Gegenwärtig können wir erleben, wie die exklusiven Reservate des medialen Narzissmus den einfachen Schichten des Volkes und der Jugend geöffnet werden, die sich massenhaft um Teilnahme in Soap-operas, Daily-Talkshows und – das neueste Format des globalisierten Fernsehens – Reality-Soaps bemühen, deren Zielgruppe sie zugleich sind. Einmal selbst auf dem Bildschirm zu sein und gesehen zu werden, ist offenbar zu einer zeitgenössischen Sehnsucht geworden, die in den Sendungen der neuen Spaßkultur bedient wird. In diesen Wochen konzentriert sich das Interesse auf "Big Brother", wo Jugendliche in der Spätadoleszenz, wie wir sie aus den vorabendlichen Seifenopern kennen, in einem Wohn-Container mit Lageratmosphäre einhundert Tage lang "Zusammenleben in der Gruppe" spielen – von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten, aber von zahllosen Kameras beobachtet und von Mikrophonen belauscht, die bis in die Gemeinschafts-Schlafräume (es gibt nach Geschlechtern getrennte, wie in der Jugendherberge) reichen und in das Badezimmer, dessen Benutzung auf knappe Zeiten beschränkt ist.

I. "Big Brother" ist ein gruppendynamisches Labor zur Erzeugung von Medien-Subjekten

Die Sendung ist zunächst konstruiert wie eine jener Game-Shows, bei denen die Kandidaten in einem Ausscheidungswettbewerb gegeneinander antreten, bis am Ende einer übrig bleibt und den großen Preis gewinnt, eine viertel Million Mark in diesem Fall. Die zehn Personen sollen in einer Wohngemeinschaft "authentisch" zusammenleben, ohne dass (mit einigen Ausnahmen) etwas vom Außen in das Innen eindringt. Sie sind sich selbst überlassen und unterliegen lediglich wenigen Spielregeln und Wochenaufgaben, die das Zusammenleben beeinflussen. Gelegentlich unterbricht der Sender dieses Konzept einer "geschlossenen Gesellschaft", wenn er zur Belebung der drohenden Langeweile eine Band im Vorgarten aufspielen oder einen Starfriseur zum kollektiven Hairstyling aufschneiden lässt und mit Verona Feldbusch einem sinkenden Stern zum vorübergehenden Mitwohnen und neuen Erglühen verhilft. Ansonsten soll das gezeigt werden, von dem sich der Sender den größten Reiz und die höchste Quote bei den Zuschauern erhofft: das unverfälschte Leben.

In der Idylle der Gruppe herrscht aber unterschwellige, durch das Ausscheidungsritual sublim geschürte Konkurrenz. Die Bewohner selbst müssen nämlich dem Publikum am Bildschirm jeweils zwei aus ihrer Mitte zum telekommunikativen Abschuss freigeben. Das Ritual der "Nominierung" – so nennt "Big Brother" diese Form der sozialen Ausgrenzung, die alle zwei Wochen in einem "Sprechzimmer" stattfindet und höchste Zuschauerquoten garantiert – erfordert eine kommunikative Kompetenz besonderer Art: jemanden an den Pranger zu stellen, ohne die solidarische Pose aufzugeben. Die Belastung ist ähnlich wie bei einem Assessment-Center zur Auswahl von zukünftigen Führungskräften, in dem die Kandidaten ebenfalls gleichzeitig Teamfähigkeit zeigen und Durchsetzungsvermögen in der Konkurrenz unter Beweis stellen, aber vor allem den Beobachtern hinter dem Einwegspiegel gefallen müssen.

Die Beobachter und letzten Entscheider sind bei "Big Brother" die Fernsehzuschauer, aber der Sender steuert das, was sie zu sehen bekommen und wie sie es sehen sollen. Durch die gezielte Auswahl von Szenen, unter einer widerlichen Begleitkommentierung von Gruppendynamik und Persönlichkeitszügen durch einen "medizinischen Astrologen" oder sonstige "Experten" und mittels einer ölig-hysterischen Moderation werden die Ereignisse medial aufbereitet. Im banalen Fluss des Alltagsgeschehens werden Bedeutungen markiert, Soziogramme aufgestellt und Charakterprofile konstruiert. Kerstin wurde als kühl-berechnende Intellektuelle verkauft, die selbst ihre sexuelle Beziehung zu Alex für den eigenen Erfolg einsetzt; Manu ließ sich gut als selbstverliebte Intrigantin inszenieren und wurde entsprechend herausgemobbt; während Zlatko ("Sladdi") den unbedarften, aber unverbogenen und liebevoll umsorgten Macho spielen durfte, der inzwischen zum Medien-Hype geworden ist – bei dessen Abschied konnte der schleimige Jürgen (Typ: Call-Boy aus dem Proll-Milieu), der sich um den neuen Freund gekümmert hatte wie ein DDR-Trainer um seinen einfältigen Boxer, öffentlichkeitswirksam einsame Tränen vergießen. Jürgen gilt seitdem als Favorit auf den Hauptpreis der Show.

Dabei geht es in diesem gruppendynamischen Labor gar nicht so sehr darum, wer am Ende gewinnt. Zlatko hat nach seinem frühen Ausscheiden durch eine verkaufsträchtige CD ein Vielfaches der Preissumme verdient, die ihm entgangen ist. Als tumbes, aber authentisches Produkt lässt er sich glänzend vermarkten. Stefan Raab hat ihm den Beinamen "The Brain" verliehen und damit zu seinem hübschen Erfolg in der Welt der neudeutschen Spaßkultur beigetragen, wie es ihm schon bei der streitbaren sächsischen Hausfrau mit dem "Maschendrahtzaun" gelungen ist. Durch Fernsehauftritte bei quotenträchtigen Talkshows hat er seinen Marktwert weiter gesteigert und ist zur Kultfigur der Jugend aufgestiegen. "Big Brother" hat wie eine öffentliche Casting-Agentur funktioniert, bei der unter interaktiver Beteiligung der Zuschauer ein Star geboren worden ist. Zlatko ist das Produkt eines medialen Labors, in dem die Marktgängigkeit von Versuchspersonen erprobt und gleichzeitig hergestellt wird. Es ist ein Warentest, in dem über die zirkulären Prozesse der Rückkoppelung und Selbstreferenz vom Fernsehen das zu testende Produkt überhaupt erst geschaffen wird. Zlatko ist, systemisch betrachtet, ein Mediensubjekt, das für Zuschauerquoten sorgt, die durch ihr Verhalten wiederum seinen Subjektstatus als Kult konstituieren.

Die politisch nur allzu korrekte These einer Funktionalisierung von Menschen für die Zwecke des Mediums muss deshalb durch eine weitere ergänzt werden, die den Subjekt-Objekt-Zirkel schließt: die Funktionalisierung des Mediums für die Menschen zu ihren eigenen Zwecken.

II. Reality-Soaps und Daily-Talkshows kommen einem verbreiteten und tief sitzenden Bedürfnis nach öffentlicher Spiegelung entgegen, in der sich das Private reflektieren kann

Die besorgte Befürchtung, es handele sich bei den Bewohnern des "Big Brother"-Hauses bloß um Objekte eines ausufernden medialen Voyeurismus, die von den auf Quote und kommerziellen Gewinn schielenden Fernsehmachern ausgebeutet werden, ist von den Insassen selbst entschieden zurückgewiesen worden. Ihr Protest gegen die Anmassungen des Opferschutzes durch linksliberale und wertkonservative Feuilletonisten, fromme Kirchenmänner und parteiübergreifende Vertreter der medialen Staatsaufsicht war schlagend. Die Stunde Privatheit pro Tag, also eine kleine Freiheit von Kamera und Mikro, die man ihnen unter dem Druck von Öffentlichkeit und Zensurbehörden zugestanden hat, wollten sie gar nicht haben: was sie wären, könnten sie auch zeigen, schließlich hätten sie nichts zu verbergen. Sie brauchen keinen Intimraum, sie wollen sich zeigen. Die angeblichen Opfer beanspruchen gar nicht jene private Sphäre, in der sie selbst und ihre alltäglichen Verrichtungen vor dem öffentlichen Blick geschützt wären. Sie nutzen vielmehr die Chance auf öffentliche Aufmerksamkeit, die ihnen das Medium bietet, und wenn es nur für einige Tage oder Wochen ist, in denen "Big Brother" sie der Anonymität ihres trostlosen Alltags entreißt.

Immerhin bietet die Reality-Soap mit ihrem beruhigend-bedrohlichen Motto ("Du bist nicht allein!") mehr als die wenigen Minuten in den Talkshows, die inzwischen auf allen Kanälen am Nachmittag grassieren. Dort dürfen einfache Menschen ihre zwischenmenschlichen Probleme und gescheiterten Lebensprojekte öffentlich vorstellen, angeregt vom empathisch zuhörenden oder ungeduldig penetrierenden Moderator, der ihre Schamgrenzen mehr oder weniger behutsam öffnet und sie zu intimen Geständnissen ebenso einlädt wie zu erbitterten Angriffen auf ehemalige Liebespartner, verhasste Eltern oder ungeliebte Geschwister. "Ich halte es nicht mehr aus: Mein Vater schlägt meine Mutter!" "Meine beste Freundin hat mich betrogen!", "Mein Kind verhungert – und ich kann nichts tun!", heißen die Themen dieser Sendungen, die sich vor johlendem, hämischem, mitleidigem oder empörtem Publikum mit der Psychopathologie des Alltagslebens befassen, manchmal auch mit schweren klinischen Störungen. Psychotherapeutische Schweigepflicht oder seelsorgerliche Diskretion werden ad absurdum geführt, wenn die vorgeführten Leiden und psychischen Defekte vor einem Millionenpublikum ausgebreitet werden, unter der Hilfestellung von selbst ernannten Fernseh-Therapeuten oder -Pfarrern, die ein reichhaltiges moderatorisches Arsenal einsetzen, die Attitüde des gnadenlosen Investigators einbegriffen.

Die "Tyrannei der Intimität", wie Richard Sennett (Frankfurt/M. 1986) die Auflösung der öffentlichen Sphäre und ihr Zerfließen mit der Privatsphäre einmal genannt hat, empfindet das Publikum aber keineswegs als tyrannisch. Es delektiert sich, in den Studios und an den Bildschirmen, an dieser Art von Selbstentblößung, und wir dürfen annehmen, dass sich die meisten unter den Zuschauern selbst gerne vor der Kamera sähen und sich bloß nicht trauen oder noch nicht zum Zuge gekommen sind. Ob man Sendungen wie "Big Brother" als die "Explosion des Privaten" betrachten soll, wie Andreas Zielcke das tut (in der SZ, 22.4.00), mit Ulrich Greiner als "neuen Exhibitionismus" geißeln kann und als Ausdruck von "krampfhaften Zuckungen einer Gesellschaft, die sich planvoll entblößt" (Zeit, 27.4.00) oder als "die größte Grenzüberschreitung, seit es Fernsehen gibt", dekuvrieren muss, für welche "die Zuschauer dem Medium die Absolution erteilt" haben (Sandra Kegel in der FAZ, 10.5.00) – es scheint sich um ein mediales Vergnügen am Intimen zu handeln, dem auch in den geschwätzigen und doch so unsäglichen Talkshows am Nachmittag gefrönt wird und, unter der aufmunternden Begleitung von Lilo Wanders oder Naddel, der grotesk aufgeblasenen Bohlen-Freundin, in den nächtlichen Vorführungen privater Sexualgewohnheiten; im "Swinger-Club", wo die vorgeführte Sexualität unter fremden Augen den Reiz bereits vermehrt, verdoppelt die anwesende Fernsehkamera die narzisstische Lust am Selbst noch einmal.

Botho Strauss hat bekanntlich (im "Abschwellenden Bocksgesang") den Vorschlag gemacht, den Teilnehmern von Talkshows lebenslang ihr Recht auf Privatsphäre abzuerkennen, das sie gar nicht mehr beanspruchen. Seine Verachtung der medialen Inszenierung von Bedeutung, der sich der einsame Dichter durch stille Konzentration auf Literatur und Distanz vom Kulturbetrieb zu entziehen versucht, hat freilich einen elitären Zug. Dem feinsinnigen Diagnostiker gesellschaftlich vermittelter Lebens- und Beziehungsformen, der sich gelegentlich in die germanische Mythologie verirrt, stehen nämlich – wenn er sich doch einmal medial zu Wort meldet und das Zeitgeschehen kommentiert – die Spalten von Spiegel oder Zeit jederzeit offen. Das gilt aber nicht für jedermann und hat es in der Vorgeschichte der modernen Medien überhaupt nicht gegeben, dass nämlich Hinz und Kunz sich einem anderen Publikum als der Familie, dem Stammtisch oder dem Sportverein vorstellen dürfen. Ihr privates Leben in aller Öffentlichkeit zu zeigen war früher ein Privileg des Adels, seiner historischen Nachkommenschaft in den dekadenten Kreisen des Bürgertums oder eben der Protagonisten des modernen Showbusiness. Sie mussten sich gefallen lassen, privat ausgeforscht zu werden, und es hat ihnen ja auch gefallen, weil es ihnen Bedeutung verliehen hat. Das interaktive Fernsehen hat dieses Privileg auf eine gewisse Weise demokratisiert. Jeder kann, wenn er will, die Chance zur identitätsstiftenden Medialisierung seiner Person nutzen. Wenn dabei Triviales, Banales, Langweiliges herauskommt – "so what". Man zeigt, was man kann oder hat, auch wenn die Kamera Regie führt.

Damit bin ich bei meiner dritten These, denn wir finden dieses mediale Muster der Identitätsbildung auch bei anderen Gruppen als bei den Teilnehmern von Reality-Soaps und Talkshows.

III. Postmoderne Identität entsteht durch medienvermittelte Inszenierungen des Authentischen, in denen Ereignisse im Raum zwischen Realität und Fiktion produziert werden

Dass Politiker auf Bildern "gut rüberkommen" müssen, vor allem im Fernsehen, gehört in der Mediengesellschaft zur Schlüsselqualifikation des politischen Personals, für das der "Café-Deutschland"-Maler Jörg Immendorf, ehemaliger Maoist und neuerdings Männerfreund von Jürgen Möllemann, kürzlich eine Berufsausbildung gefordert hat. Wer etwas werden will, muss sich in die Kamera drängen – die Kamera muss ihn lieben, und sie liebt die Prominenz, die sie selbst herstellt. Helmut Kohl, der immer so tat, als verachte er die Medien, hat das Medium selbst noch gegen seine scheinbaren Macher ausgespielt. Der gerade wieder auferstandene Berlusconi in Italien ist ein erkennbar hybrides Produkt dieses inzestuösen Zusammenspiels von Politik und Medien, bei dem man sich nicht nur die Bälle zuwirft und wechselseitig voneinander profitiert, sondern ohne den anderen nicht das wäre, was man ist: eine mutuell parasitäre Zwei-Einheit. Bei den sagenumraunten Spin-Doctors im Hintergrund ist deshalb nicht mehr auszumachen, ob sie Politik- oder Medienberater sind – es gibt keinen Unterschied.

Nicht nur Zlatko ist unter dem Auge der Kamera ein anderer geworden, auch Hans Eichel oder Angela Merkel haben ihre Identität gewechselt. Oder erkennen wir den blassen und schließlich abgewählten hessischen Ministerpräsidenten im selbstbewusst strahlenden Finanzminister wieder, der die Solidität des nationalen Haushalts wiederherstellt und zur Gallionsfigur der Regierung Schröder geworden ist? Und die moralische Integrität und emotionale Wärme ausstrahlende neue Parteivorsitzende der CDU – ist sie, einst von Helmut Kohl als Symbol der Wiedervereinigung adoptiert, noch jene biedere und ungeschlachte Teutonin aus der DDR mit dem melancholischen Mienenspiel, als die wir sie kennen gelernt hatten? Jürgen Möllemann, immer schon ein Meister der medialen Inszenierung und eine Weile gerade deshalb als unseriös in der politischen Versenkung verschwunden, ist vom Zeitgeist jetzt erst eingeholt und mitsamt seiner totgesagten Partei in die Gunst gerade der jungen Wähler zurückgebracht worden; sein gekonnter Auftritt bei und für "Big Brother" kam rechtzeitig. Nicht länger die überzeugende diskursive Begründung einer politischen Position in der Konkurrenz mit einer anderen, sondern die "wahrhaftige" Selbstinszenierung in den Medien verschafft Anerkennung. Authentizität, Echtheit, scheint der Schlüssel zu sein – und er zwingt den Politiker, wie Richard Herzinger in einem klugen Beitrag über "Die wirklichere Wirklichkeit" erkennt (Zeit, 18.5.00), "nicht zu rücksichtsloser Ehrlichkeit, sondern zur Vervollkommnung seiner Darstellungskünste in der Rolle der ehrlichen Haut".

Wie in einem Spiegelkabinett wissen wir nicht mehr, was die Sache und was Inszenierung, was greifbar-lebendig und was bloße Spiegelung ist. Realität, Fiktion und Medienwelt schieben sich in einer Weise übereinander, dass Differenzierungen immer schwerer fallen. Eben von dieser Melange leben aber die Privatsender und verheißen im Reality-TV die Aura des Authentischen, in die das voyeuristische Auge der Kamera Einblick verspricht. Unter den Desideraten des Marktes legen sie (aber nicht nur sie) Formate auf, in denen wir nicht bloß den Schönen und Reichen in den Ausschnitt oder ins Wohnzimmer schauen, sondern auch am Privatleben der Underdogs teilhaben dürfen. Die vornehme FAZ (zugegeben: in der provinziellen Sonntagsausgabe, nicht im Feuilleton) bekrittelt an den deprimierenden Daily-Talks weniger das Fehlen von Scham oder Diskretion, sondern vor allem die atemlose Hast der Moderatoren und die mangelnde Artikulationsfähigkeit der ungebildeten Gäste, welche die sozialanthropologische Kulinarie verderben: "Deshalb bleibt auch der Erkenntnisgenuss (!) aus, den man manchmal gewinnt, wenn man einfachen Menschen zuhört" (Peter Lückemeier am 21.5.00).

Wir erkennen jetzt deutlicher die real-fiktiven Konturen der Medienwelt, die das Authentische sucht, um es in Pose zu setzen. Die Bildzeitung führt ihren Lesern das traurige Schicksal der Geiseln auf einer fernen asiatischen Insel täglich als Inszenierung einer Seifenoper vor, mit selektivem Blick auf eine deutsche Familie: die schwer erkrankte Mutter in ihrem täglichen seelischen Verfall, der rührend besorgte und zugleich so hilflose Vater und der jugendliche Sohn, dem in der Stunde der Not noch eine zärtliche Romanze mit einer libanesischen Mitgefangenen angedichtet wird – "Opfer im Rollenspiel" (SZ, 10.5.99). Die fällige Medienkritik bleibt uns aber im Halse stecken, wenn wir erfahren, dass der in Deutschland gebliebene ältere Sohn der Familie, Marketing-Experte, die Exklusivrechte an der Vermarktung des tragischen Familienereignisses an SAT1 verkauft und sich beim Anschauen der leidenden Mutter am Bildschirm von der Fernsehkamera des Senders selbst publikumswirksam beobachten lässt. Wir müssen befürchten, dass die Eltern ihren so clever missratenen Sohn nicht zur Rede stellen werden, wenn sie wieder freikommen – falls eine Freilassung in das zynische Kalkül ihrer philippinischen Entführer passt. Auch diese betreiben nämlich, mit Hilfe und auf Kosten ihrer Opfer, das identitätsstiftende Spiel: Ganz Kinder der Globalisierung und nicht nur im stolzen Gebrauch ihrer Waffen, sondern auch im Umgang mit Mikrofon und Kamera geübt, gewinnen sie erst im medialen Spiegel der weltweiten Aufmerksamkeit ihre Identität als islamische Kämpfer für die Unabhängigkeit des südphilippinischen Archipels.

Der mediale Rückkoppelungsprozess in der Erzeugung von Identität, von dem die Politik, die Kulturindustrie einschließlich des Kunstbetriebs, der professionelle Sport leben, er hat inzwischen selbst die Wissenschaften ergriffen, deren Geldzufluss ohne mediales Ballyhoo zu versiegen droht und deren Protagonisten sich dieser Aufgabe zunehmend stellen. Wissenschaftliche Institutionen halten sich eigene PR-Abteilungen, Craig Venter ist ein begnadeter Verkäufer seines Human-Genom-Projekts. Und Peter Sloterdijk kann man getrost als Trommler für die Gentechnologie bezeichnen, auch wenn er für die eigene Sache den Stock rührt und einem das Trommelfell schmerzt dabei. Die Inszenierungen, ganz gleich, ob die des Selbst oder der Politik, der Kunst oder der Wissenschaft, einer Entführung als Familiendrama oder als Akt des Freiheitskampfes – sie alle bedürfen für ihre Wirksamkeit einer Spiegelung, die sie erst zu signifikanten Ereignissen macht. Die Reflexion durch die Medien verleiht die Anerkennung, ohne die ein Ereignis sich als etwas Bedeutsames gar nicht konstituieren kann.

Meine letzte These befasst sich mit der reflexiven Qualität postmoderner Identitätsbildung, in deren Zentrum der Narzissmus als ein intersubjektives Geschehen steht: gesehen und anerkannt werden.

IV. Der mediale Narzisssmus verweist auf die intersubjektive Dimension von Identität: Das Eigene entsteht im Spiegel des Anderen

Seit Freud wissen wir, dass sich in den Abweichungen von der Normalität deren innere Strukturen am besten erkennen lassen. So wie die Psychopathologie uns über die dynamische Funktionsweise des Unbewussten aufklärt, erfahren wir an den marginalisierten Rändern der Gesellschaft etwas über deren innere Dynamik. Wir wissen beispielsweise von der einschlägigen Sozialforschung (in Deutschland die Untersuchungen des Soziologen Heitmeyer und des Kriminologen Pfeiffer), dass der gewalttätigen Jugendkriminalität ein paradoxes Anerkennungsproblem zu Grunde liegt, welches sich schon in der Tat selbst, erst recht aber in ihrer medialen Spiegelung zeigt: Die Angst der Opfer und die öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen so etwas wie Anerkennung, selbst wenn die Rückmeldung negativ ist; denn auch negative Anerkennung bedeutet Identität. Die rechtsradikalen Jugendlichen, die in aller Öffentlichkeit ein Asylanten-Wohnheim "abfackeln" oder Ausländer "abklatschen", profitieren vom Identitätsgewinn durch ein beobachtendes Publikum ebenso wie randalierende Hooligans, wenn sie einen Polizisten vor den Augen der Kameras zum Krüppel prügeln oder sich mit den Anhängern des Gegners blutige Straßenschlachten liefern. Die narzisstische Dimension liegt im Bewusstsein des Gesehen- und Beachtetwerdens, das häufig ein unbewusstes ist.

In den USA hatte ich kürzlich Gelegenheit, eine Variante dieses pathologischen Musters postmoderner Identitätsfindung zu studieren, die sich am Beispiel eines neuen Verbrechenstypus zeigt, der in der medialen Spiegelwirkung geradezu aufgeblüht ist. Es ist jene Art von publikumswirksamen Tötungsdelikten, bei denen die klassischen Motive kriminellen Verhaltens weitgehend überdeckt sind von der alles beherrschenden Fantasie, öffentlich Beachtung zu finden und Aufmerksamkeit zu erregen. Im Amerikanischen heißen sie "rampage killing", übersetzt etwa: Morden im Rampenlicht, auf offener Bühne. Dieser neue Typus von Verbrechen ist ohne die Medialisierung einer Gesellschaft gar nicht zu denken, das reflektierende Licht der Öffentlichkeit wird situativ gesucht. Wie beispielhaft beim Columbine-Highschool-Massaker vor einem Jahr werden diese Taten in der Regel am hellichten Tag und gelegentlich mit protzenden Ankündigungen, immer unter der Anteilnahme von Zuschauern und möglichst bei laufenden Kameras begangen und enden mit dem spektakulären Shoot-out und der Festnahme oder dem Suizid am Schauplatz, entweder durch provoziertes Polizeifeuer oder mit der eigenen Waffe. Es geht, so könnte man die Sache verstehen, um die letzte Inszenierung einer öffentlichen Anerkennung, die den Tätern zum ersten Mal so etwas wie Identität verleiht: Einmal mit einer spektakulären Tat im Fernsehen sein und dann sterben. Ausdruck von pathologischem Narzissmus, wie wir ihn auch aus den Inszenierungen des amerikanischen Kinos kennen (To Die for, Natural Born Killers, Fight Club), werden solche Taten vom existenziellen Bedürfnis gespeist, in einer anonymen und verschlossenen Welt, die den Tätern keine Spiegelung bieten, gesehen zu werden und Bedeutung zu erhalten.

Die identitätsstiftende Spiegelung in der Aufmerksamkeit des Anderen ist aber nicht etwa per se das kranke Produkt einer gesellschaftlichen Epoche, eine soziale Pathologie. Sie kündet nicht von einer postmodernen Auflösung des Selbst, wie die klassische linke Kulturkritik im Einklang mit der Gegen-Moderne unheilschwanger tönt, wenn sie das Verschwinden des Subjekts in der Postmoderne beklagt. Dessen Autonomie, ohnehin ein Privileg bürgerlicher Sozialisation, war auf Verhältnisse intersubjektiver Anerkennung stets angewiesen, lebensgeschichtlich zunächst durch die familiären, dann die gesellschaftlichen Repräsentanten des Anderen, die zur Identitätsfindung notwendig dazugehören. Das hat Hegel schon gewusst, und seit ihrer linguistischen Wende hat die Philosophie diesen Zusammenhang in den Strukturen der Sprache wieder entdeckt. Am intersubjektiven Paradigma orientiert sich die Diskurstheorie von Jürgen Habermas ebenso wie die Anerkennungstheorie von Axel Honneth. Säuglingsforschung und psychoanalytische Objektbeziehungstheorie haben die selbst-konstitutive Funktion des Anderen im frühesten Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt ausgemacht: Es gibt den Säugling nicht ohne die Mutter, die ihn hält und anschaut. Spiegelnde Anerkennung ist eine anthropologische Basisinteraktion, in der Hominisation stattfindet und das Subjekt sich intersubjektiv erst bildet.

Dass der Mensch sich aus seiner genetischen Basis entfaltet wie der Apfel aus dem Kern, ist eine naive Vorstellung, welche die Fortschritte der Humanwissenschaften unter dem Paradigma der Intersubjektivität ignoriert, übrigens gerade auch die der Neurobiologie, die dabei ist, ihre Cartesianische Suche nach dem Homunkulus im Kopf zu Gunsten interaktionistischer Modelle aufzugeben. Wenn Sloterdijk diese monadologische Idee in seiner an der Aufklärung verzweifelten Spekulation auf den gentechnologisch erzeugten "neuen Menschen" wieder aufwärmt, zeigt seine Fantasie bloß das allzu Flache, das dem Tiefendenken gelegentlich eigen ist. Das "Wesen des Menschen" – um es mit Sartre zu sagen – besteht gerade darin, dass er keins hat; der Mensch, weil er bis in seinen "Kern" auf Anerkennung angewiesen ist, erschafft sich selbst. Gewiss, das Genom enthält Potenzial, ermöglicht Entwicklungen und setzt Grenzen; aber ohne Antworten aus der Umwelt, ohne die vermittelnde Perspektive des anderen, ohne den exzentrischen Blick auf das Selbst lässt sich das Potenzial nicht realisieren.

Identität ist als solitäre nicht vorstellbar. Sie entsteht im Medium des Sozialen – und genau deshalb können die neuen Medien, weil sie brüchiger Identität neue Form versprechen, an einem elementaren Bedürfnis ansetzen: Sie bilden öffentliche Spiegel für die eigene prekäre Selbstvergewisserung. Gerade in seinen interaktiven Formaten bedient das Fernsehen als Leitmedium der Epoche dieses Bedürfnis, als Parabolspiegel der Postmoderne sozusagen. Der Begriff einer "Culture of Narcissism", von Christopher Lasch (Das Zeitalter des Narzissmus, München 1980) bereits vor zwanzig Jahren als Zeitdiagnose in Anlehnung an einen psychoanalytischen Sprachgebrauch vorgeschlagen, enthüllt allmählich seine mediale Konnotation. Heute wissen wir, dass der Narzissmus mitnichten jene selbstsüchtig-solipsistische (psychoanalytisch: objektlose) Haltung ist, die den Anderen nicht braucht. Der Andere – in Form des antwortenden Gegenüber, des interessierten Zuschauers, des anerkennenden Publikums – wird sogar in einer unbedingten Weise gebraucht: als Spiegel für das eigene Selbst, das sich in der Reaktion der Umwelt erst gesehen, erkannt und geliebt fühlt. Diese elementare intersubjektive Rückmeldung, die schon die Selbstwerdung des Säuglings begleitet, wenn er im Lächeln der Mutter einen ersten Blick auf sein eigenes Wesen erhält, scheint in der medialen Spiegelung in einem universellen Sinne das (Medien-)Subjekt hervorzubringen.

Slavoj Zizek hat in einem "Die Kamera liebt dich" betitelten Beitrag zu "Big Brother" diesen narzisstisch-spiegelnden, subjektkonstituierenden Charakter des Fernsehens benannt (SZ, 28.3.00): Die Leute bräuchten "den Blick der Kamera als Beweis für ihre Existenz" und hätten eher Angst davor, "nicht die ganze Zeit von dieser Macht beobachtet zu werden". Die von Orwell noch beschworene Horror-Vision einer Dauerbeobachtung ist offenbar zu einer Hoffnung konvertiert – nur dass es im Jahr 2000 nicht mehr der "Grosse Bruder" Staat ist, der observiert, sondern das Fernsehen. Die Intimsphäre muss offenbar nicht mehr vor dem Zugriff der Behörden geschützt werden, sie wird freiwillig dem Auge der Kamera preisgegeben und den Marktmechanismen ausgeliefert. Die Teilnehmer von Talkshows und Real-Life-Soaps bieten sich dem Medium an, weil sie sich davon eine Steigerung ihres Werts versprechen, in einer Münze, die auf dem Markt des medialen Narzissmus etwas zählt: angeschaut werden, auffallen, sich unterscheiden, etwas Besonderes sein. Der Narzissmus, einst eine Domäne von Kindheit, Pubertät und Adoleszenz, ist in einer Welt penetranter Medialisierung derart sozialisiert, dass wir uns mit Neil Postman fragen können, ob die Kindheit verschwindet, weil sie sich in eine infantilisierte Gesellschaft hineinschiebt (vgl. dazu Susanne Gaschke in der Zeit, 19.4.00), oder mit Adorno, ob es sich um eine kollektive Regression unter der totalisierenden Herrschaft der Warenproduktion handelt, welche auch das Selbst zur Ware macht, die verkauft werden muss.

In jedem Fall passen die narzisstische Bedürftigkeit von Teilnehmern solcher Sendungen und die voyeuristisch-identifikatorische Haltung der Zuschauer gut zusammen mit den kommerziellen Zielen der Sender. Die Moderatoren sind Mediatoren in diesem kollusiven Dreieck. Dass dabei ein Preis erhoben wird, gehört zum Markt dazu; wo viele profitieren, gibt es einige, die zahlen müssen. Inzwischen verfolgen medienkritische Zeitungsartikel oder Fernsehsendungen das Schicksal von Talkshow-Gästen, die sich vom veranstaltenden Sender vorgeführt, aufgehetzt, enttäuscht oder fallen gelassen fühlen, und verleihen ihnen eine neue Identität: als Opfer. Aber haben diese nicht gewusst, dass sie Figuren in einem Spiel sind, dass die verlockenden Angebote des Fernsehens ihrem bildschirmgerechten und quotenfördernden Auftritt galt – und nicht ihrem wahren Selbst, falls sie so etwas überhaupt ausgebildet haben? Gilt für die gläubige Teilnehmergemeinde der neuen interaktiven TV-Formate immer noch, was Adorno und Horkheimer in ihrer "Dialektik der Aufklärung" der Kulturindustrie einmal vorhielten, dass sie "ihre Konsumenten um das (betrügt), was sie ihnen immerwährend verspricht"? Sind sie nicht doch das Subjekt einer medialen Veranstaltung, die sie zwar zum Objekt macht, aber gerade dadurch der Namenlosigkeit entreißt und ihnen zur Existenz verhilft – das "neue" Subjekt eben, das im Auge der Kamera entsteht? Videor, ergo sum!

Martin Altmeyer arbeitet an einer intersubjektiven Konzeption des Narzissmus. Dazu erschien in der Psyche 54/2000: "Narzissmus, Intersubjektivität und Anerkennung". In der Kommune 4/00 erschien zuletzt sein Artikel: "Seelenverwandtschaft von Grünen und CDU? Zur komplementären Sozialpsychologie zweier Parteien".