Wie nationalistisch sind eigentlich die Nationalisten?

Versuch über Bosnien – Reise nach Mostar. Teil 3

Ernst Köhler

Schillernder Nationalismus ist keineswegs nur ein Herrschaftsinstrument von Slobodan Milosevic – auch Teilen der Opposition ist er eigen. Unser Autor stellt Überlegungen zu serbischen Mentalitäten und nationalistischen Machtstrategien zur Diskussion, hinterfragt die Hochflut nationalistischer Aggressivität.

Mostar gilt vielen Kommentatoren als frühes Fanal für die grausame Realität des Krieges in Ex-Jugoslawien. Ernst Köhler spürte mit seinem Projekt "Versuch über Bosnien – Reise nach Mostar" in seinen beiden ersten Beiträgen Flucht und Rückkehr, Zerstörung und Wiederaufbau nach.

Wie schreibt man angemessen über Nationalismus? Und über eine Gesellschaft, die sich offenkundig unter den Bann des Nationalismus begeben hat? Es hieße, nach der Macht dieser Macht fragen. Unangefochten dürfte sie auch vonseiten ihrer engeren Gefolgschaft kaum je sein. Menschen lassen sich unter bestimmten Bedingungen eine zeitlang von ihr beherrschen und deformieren. Bei Licht betrachtet heißt das: dem Nationalismus erlauben, alles andere an Gedanken und Erfahrungen totzuschlagen. Es geht aber nicht. Er kriegt sie nicht tot. Bei der nächsten Gelegenheit rühren sie sich wieder. Anders gesagt: Der Nationalismus verfügt über keine nennenswerten spirituellen Ressourcen. Er ist eine politische Option unter politischen Optionen, kein Glauben. Und von den ungeheuerlichen Verbrechen, die Menschen im Namen ihrer Nation begehen, kann man auch nicht ohne weiteres auf die Macht der nationalistischen Ideologie über ihr Denken und Fühlen schließen: Auch ein Mensch ohne politische Wahnvorstellungen, ohne Fanatismus, ein Mensch, der sich vielleicht nur einzureden versucht, er sei ein konsequenter Patriot – zum Beispiel aus Angst vor Isolierung -, kann im geeigneten Umfeld zum Verbrecher und Mörder werden. Ist es nicht naiv anzunehmen, Motive und Taten müssten sich einigermaßen entsprechen?

Aber zunächst sollten wir uns immer fragen, wer gerade mit dem Nationalismus Politik macht. Und wann. Das bringt uns dann schon fast wie von selbst zu einer nüchternen oder profanen Sicht des Nationalismus in einem Land. Der Weg führt vom Studium einer Machtstrategie zu gewissen Mutmaßungen über eine Mentalität – nicht andersherum. Im Moment (unmittelbar nach dem Machtwechsel in Zagreb) drängt sich der Vergleich zwischen Serbien und Kroatien auf: "Vor allem aber hatte man sich in Kroatien mit der Loslösung von Titos Jugoslawien und der nationalen Selbstständigkeit, was immer auch nachher geschah, mehr Demokratie, einen besseren Lebensstandard und einen Aufbruch nach Europa erhofft ... In Serbien hingegen ging es beim Zerfall Jugoslawiens um die Wiederherstellung der angeblich verlorenen ,Würde des serbischen Volkes‘, um nationale Ziele also. Wohlstand und Demokratie wurden nicht versprochen. So weist das Regime bis heute, und das im Innern mit Erfolg, jegliche Verantwortung von sich und macht für alle Rückschläge den Westen verantwortlich, der das alte Jugoslawien zerschlagen habe und auch Serbien zerstückeln wolle" (Kroatien als Vorbild für Serbien?, NZZ, 9.2.00).

Aber das kann man so nicht stehen lassen. Kein Zweifel, dass Slobodan Milosevic sich mit Hilfe einer gezielten und demagogischen Dramatisierung der Kosovo-Frage an die Macht katapultiert hat. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit: Serbien hat Milosevic hochkommen lassen, weil er sich dem Land glaubwürdig als ein Vorkämpfer des ansonsten in Jugoslawien preisgegebenen ancien régime anzubieten wusste (vgl. Ivan Vejvoda, Serbian Perspectives, in: A. Danchev, Thomas Halverson, ed., International Perspectives on the Yugoslav Conflict, London 1996, S. 106). Und ancien régime bedeutete im Kern durchaus Auskommen, Arbeitsplätze, soziale Sicherheit – jedenfalls für jene Schichten der serbischen Gesellschaft, die von einem Wandel und Umbruch à la Kroatien und Slowenien kaum anderes als Verarmung zu erwarten hatten. Man versteht den Aufstieg dieses Führers nicht, wenn man der politischen Öffentlichkeit oder Halböffentlichkeit in Serbien einen absolut irrationalen, "mythischen", von allen konkreten, materiellen Interessen abgekoppelten Chauvinismus unterstellt. Die Politik Milosevics war immer zweigleisig – zugleich "konservativ"-jugoslawistisch und aggressiv-nationalistisch, und es gab durchaus Konstellationen, in denen er sich speziell in der nationalen Frage von Teilen der Opposition übertrumpfen ließ. Das Spiel mit politischen Akzentverschiebungen gehört gerade zum besonderen Geschick und Raffinement dieses Machthabers. Eine genauere Rekonstruktion der serbischen Politik in den 90er-Jahren kann etwa zeigen, dass es die Gefährdung seiner Macht in der Belgrader Massenrebellion vom März 1991 war, die Slobodan Milosevic dazu veranlasste, die großserbische Karte auch seinerseits auszuspielen:

Through 1987-90 Milosevic’s strategy had been formulated within the framework of a federal Yugoslavia, in which Serbia, under his control, would play the leading role. From March 1991, however, Milosevic became the enthusiastic advocate and executor of "Great Serbia" ideas. This concept of the creation of a territorial state, formed out of elements of Yugoslavia, in which all Serbs would be able to live had formerly been the preserve of Milosevic’s nationalist opponents (Robert Thomas, Serbia under Milosevic. Politics in the 1990s, London 1999, S. 86).

1994 wird das Regime diese Entscheidung bekanntlich wieder korrigieren – nicht zuletzt unter dem Druck der internationalen Wirtschaftssanktionen, die Milosevic und seine Verhandlungstaktik letztlich auch Ende 1995 in Dayton bestimmen werden. Man fragt sich, wie diese Sanktionen überhaupt ein solches Gewicht hätten erlangen können, wenn es der Führung in Belgrad nicht auch immer um die Wahrung eines "linkspopulistischen" Profils gegangen wäre (vgl. auch Robert Thomas, Serbia under Milosevic, S. 163 ff.). Bei der Distanzierung von 1994 bleibt es freilich nicht. Im Frühjahr 1997 schließt sich Milosevic wieder enger mit Karadzic zusammen. Die unmittelbare Absicht ist, Biljana Plavsic und ihre von Banja Luka aus betriebene Politik der neuen Flexibilität abzublocken. Aber im Grunde geht es um viel mehr:

Milosevic had managed to survive a winter of massive protests in the streets of Belgrade and other major cities as he tried to deprive the opposition of their victory in the local elections. But it was obvious that the ground was beginning to shake under him. The economy continued downhill, it was increasingly obvious that Montenegro was intending to assert its rights far more forcefully in opposition to Milosevic, and most of all there were the distant rumblings from tension building up in Kosovo. Milosevic had every reason to try to consolidate his position as much as he could (Carl Bildt, Peace Journey. The Struggle for Peace in Bosnia, London 1998, S. 334).

Die Serben, anders als die Kroaten, ein Fall von perfekter, widerspruchsfreier Selbstmystifikation? Ohne Sinn für die politische Realität, für die ökonomischen Existenzgrundlagen, für die eigenen Lebensinteressen? Was wir bisher haben, sind nur die politischen Manöver oder Schachzüge des Herrschers in krisenhaften Situationen. Wir befinden uns auf der "Angebotsseite" der Politik. Von hier aus lässt sich nicht direkt auf die Beherrschten und ihr politisches Denken schließen. Wie "Untertanen" nehmen sie sich jedenfalls kaum aus. Was wir im Halbnebel noch erkennen können, ist die Konkurrenz oder Verschlingung mehrerer Interpretationen der "nationalen Frage". In Serbien ist bekanntlich auch immer die Ebene des "kollektiven Gedächtnisses" oder, weniger feierlich gesagt, des historiographischen Revisionismus von Belang. Ein Geschichtsbild, das sich um die legendäre, frisierte Figur eines Draza Mihajlovic und den vermeintlichen Heroismus der Tschetniks im Zweiten Weltkrieg rankt, traf gerade bei den Anhängern Slobodan Milosevics auf ein Geschichtsbild, das immer noch vom Kult der Partisanen zehrte. (Genauer betrachtet, ist selbst noch das Erbe der Tschetniks auf das bitterste umstritten – zwischen der Version etwa eines Vuk Draskovic, die die monströsen Vertreibungspläne des Zweiten Weltkriegs pietätvoll unterschlägt, und der Version eines Vojislav Seselj, die sie ganz im Gegenteil wörtlich nimmt und als Handlungsanweisung begreift.) Und vermutlich begriffe man auch die Symptome der politischen Hilflosigkeit im gegenwärtigen Serbien kaum, wollte man sie zu direkt und ausschließlich auf die unrühmliche Bilanz der ökonomisch wahnwitzigen "Blut und Boden"-Strategie zurückführen – und nicht eben auch auf den endgültigen Verlust einer sozialistischen Zukunftsperspektive. Oder weniger herablassend: auf den Untergang einer modernen Variante von "moral economy", die auch der Masse der Besitzlosen und Arbeiter wenn nicht "Wohlstand", so doch eine fundamentale Sicherheit im Leben versprochen hatte.

Eine weitere unerlässliche Vorsichtsmaßnahme im Umgang mit dem Phänomen des Nationalismus wäre so etwas wie die mittlere Dehnung des Fokus. Man muss den regionalen und zeitlichen Rahmen der Beobachtung nur ein wenig lockern, und sogleich tritt neben und hinter einer nationalistischen Massenmobilisierung von immerhin temporärem Erfolg eine ganze soziale Welt der politischen Misere hervor: eine vielschichtige Phänomenologie der Desillusionierung und der Erbitterung, der Vereinzelung und des Rückzugs in eine von schweren Sorgen verdüsterte Privatheit. Niemand wird ernstlich bestreiten wollen, dass die Menschen sich unter dem Druck der Ereignisse politisch bewegen. Verbissen und wider die Evidenz des Scheiterns hält ein Teil von ihnen vielleicht noch eine zeitlang an dem politischen Großprojekt fest, dem sie sich nun einmal angeschlossen haben. Aber dann kommt unvermeidlich der Zeitpunkt, da sich die große Mehrheit der Bevölkerung die politische Niederlage eingesteht. Und dem Regime seine Siegesmeldungen nicht länger abnimmt. Das alles sind wohlvertraute Einsichten der seriösen Berichterstattung über die serbische Politik der Neunzigerjahre. Das Problem liegt eher in einer gewissen Neigung unserer Publizistik, den einen Geisteszustand zu scharf vom anderen abzugrenzen. Es gibt da einen Hang zu säuberlichen Idealtypen des politischen Massenverhaltens. Man schreibt nicht selten über den politischen Fanatismus, als könne er sich nicht schon morgen zu zersetzen beginnen – als sei er nicht bereits im Moment seines lautstarken öffentlichen Auftretens von ganz anderen Haltungen umlagert und vielleicht schon unterminiert. Und das Klima der Ernüchterung wiederum sieht sich präsentiert, als verdanke es sich dem Bruch, der definitiven Abrechnung mit dem gestern noch triumphierenden Fanatismus. Diese "manichäische" Methodik der politischen Analyse lässt den Fanatismus kompakter, geschlossener erscheinen, als er ist. Und der Ernüchterung andererseits verleiht sie oft genug die allzu sympathischen Züge des gesunden Menschenverstandes und einer populären, fast schon demokratischen Aufmüpfigkeit und Respektlosigkeit. Es ist der sprichwörtliche, gewissermaßen universale Mann auf der Straße, der uns hier zu begegnen scheint. Erlauben wir es doch besser den Zuständen, sich ineinander zu schieben, sich zu überlappen, sich zu verfilzen.

Interessant und ärgerlich wird es, wenn sich das Fehlurteil einer massiven politischen Voreingenommenheit verdankt. Wer im April 1996 den Stadtteil Grbavica in Sarajevo mit eigenen Augen gesehen hat, hat seine Schwierigkeiten mit der Darstellung, die der Exodus der Serben bei Carl Bildt findet. Die Verwüstung des Stadtteils spielt der damalige High Representative der internationalen Staatengemeinschaft in Bosnien herunter. Er verharmlost sie besser gesagt bis zur Unkenntlichkeit. So braucht er sich auch nicht mit der politischen Haltung auseinander zu setzen, die sich in der Demolierung der verlassenen Wohnblocks Luft verschafft hat. Die Serben von Sarajevo haben gar keine politische Haltung. Sie sind nur eine tragische Masse von Fliehenden, aus guten Gründen Flüchtenden. Mit Momcilo Krajisnik, dem prominenten SDS-Politiker, dem Mann Pales, als ihrem – in seiner tiefen lebensgeschichtlichen Verbundenheit mit Sarajevo auch selber schon ein wenig tragisch anmutenden – Sprecher! Aber die muslimische Macht, der Sarajevo nach den Bestimmungen von Dayton jetzt praktisch zufällt, hat dafür eine politische Haltung. Die Verantwortung für den Massenexodus liegt letztlich bei der SDA und Alija Izetbegovic, die nur noch mit wohlfeilen Worten und schon längst nicht mehr mit Taten, etwa mit konkreten vertrauensbildenden Maßnahmen, für die Wiederherstellung eines multiethnischen Sarajevo eintreten. Der Verdacht, dass Pale hier seine Hand im Spiel gehabt und den spektakulären Auszug durchgesetzt haben könnte – auch gegen die noch unentschiedenen eigenen Leute, taucht nur ganz am Rande und in einem einzigen Satz auf. Die eigenartige Geschlossenheit, das Blockartige und Abrupte des Massenexodus, das doch sehr an ähnliche Verhaltensweisen serbischer Bevölkerungsgruppen im Krieg gemahnt, bleibt unangesprochen und unhinterfragt. Carl Bildt zieht es vor, alles, was auf eine politische Fernsteuerung von dieser Seite hindeuten könnte, in seinem Epos der Angst, der Verzweiflung und der Flucht verschwinden zu lassen. Im Grunde geht es dem Autor nur um die eigene Mission im Land. Seine Bemühungen um ein reintegriertes Bosnien nehmen in dieser Phase und in dieser Sache geradezu leidenschaftliche, kämpferische Formen an. Das muss man fairerweise einräumen. Der Exodus der Serben aus der Hauptstadt ist ein enormer Rückschlag. Was er sonst noch ist oder sein könnte, verblasst und verschwimmt im persönlichen Drama des Beauftragten (vgl. Carl Bildt, Peace Journey, a. a. O., Kap. 10: Fragile Beginnings of Peace, S. 162 ff.).

Bei einem eintägigen Besuch in der Ruinenstadt Vukovar im Sommer 1996 hatten wir Gelegenheit, eingehend mit einer inoffiziellen, man kann ruhig sagen: basísdemokratisch beauftragen Vertreterin der serbischen Bevölkerung vor Ort (Einheimische und Flüchtlinge) zu sprechen. Was die Frau sagte, klang alles ziemlich vernünftig oder pragmatisch: vor allem die Furcht vor einer neuerlichen Massenvertreibung, wenn Ostslawonien demnächst wieder an Kroatien zurückfallen würde, erschien zu diesem Zeitpunkt nur allzu berechtigt. Dennoch blieb ein Bodensatz von Verbitterung, fast möchte man sagen: von Verletztheit, spürbar, und unsere Gesprächspartnerin war freimütig genug, ihre Verachtung für Slobodan Milosevic und sein Desinteresse am Schicksal der kroatischen und bosnischen Serben auch direkt auszusprechen. Diese Leute waren bemüht, sich nichts vorzumachen. Sie waren offensichtlich bereit, sich auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Die Alternative wäre auch eine chancenlose, hoffnungslos pauperisierte Flüchtlingsexistenz in Serbien gewesen. Lieber das Risiko eingehen, in Kroatien zu Bürgern zweiter Klasse herabgedrückt zu werden, als in Serbien ohne jede Zukunft dahinvegetieren. Aber den Krieg – und die eigene Rolle darin – zu überdenken, das war etwas anderes. Davon schienen diese Menschen noch weit entfernt. Wie lange würde das Bild von Milosevic als einem Verräter ohne alle Prinzipien eine genuine, kritische und selbstkritische Erinnerung noch blockieren? Es war ein emotional und ideologisch hochaufgeladenes Bild, und man würde sich immer wieder daran vergiften können.

Und wenn wir den Weg der jetzt erneut alarmierten serbischen Flüchtlinge in Ostslawonien zurückverfolgen, treffen wir erst recht auf eine obskure Komplexität:

Schon vor der Operation "Bljesak" im Mai 1995 und der Wiedereroberung Westslawoniens war die "Krajina" im Zerfall begriffen. Eine über vierjährige Krise hatte die begrenzte Lebensfähigkeit der Region erschöpft, besonders den Raum um Knin, der von der Bihac-Tasche in seinem Hinterland eingeengt wurde. Vor dem August 1995 schon hatte über die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung das serbisch kontrollierte Gebiet verlassen. Die Militarisierung ließ die Wirtschaft verkümmern und lieferte sie dem Schwarzmarkt aus. Angesichts dieser Demoralisierung konnten nicht einmal Mladics Siege in Ostbosnien den Widerstandswillen der Krajina-Serben stärken. – Das Tempo des serbischen Zusammenbruchs und das Ausmaß der Massenflucht der serbischen Bevölkerung in der ersten Augustwoche 1995 war trotz allem überraschend, sodass vielfach ein geheimer Handel zwischen Tudjman und Milosevic vermutet wurde (Mark Almond, Dayton und die Neugestaltung Bosnien-Herzegowinas, in: Dunja Melcic, Hrsg., Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Opladen/ Wiesbaden 1999, S. 447). Dergleichen liest man so gut wie nie. Das Überraschende, Undurchsichtige dieser Fluchtbewegung wird in aller Regel glatt verleugnet. Was könnte schon überraschend und undurchsichtig sein an einer serbischen Massenflucht vor der kroatischen Armee? Und die Vorgeschichte von Zerfall und Demoralisierung wird gleich mitkassiert. Sie könnte ja das lupenreine Bild der "ethnischen Säuberung" trüben.

Letztes Beispiel: Unter den Bomben der NATO schart sich Belgrad, schart sich fast das ganze Land um seinen Präsidenten. Was immer sich vorher an Wandel, Opposition, Machtzerfall angebahnt haben mochte, jetzt ist erst einmal Schluss damit. Auch in dieser Hinsicht ist also der Krieg die falsche und kontraproduktive Lösung. Er wirft den an sich schon schwachen und schwierigen Demokratisierungsprozess in Serbien zurück. Das war im Kosovokrieg wochenlang der Tenor eines guten Teils der bundesdeutschen Medien. Entsprechende Kommentare aus Serbien selbst kamen da gerade zupass. Nicht selten stammten sie aus Kreisen der serbischen Opposition, die guten Grund hatte, den Mantel der Barmherzigkeit über die eigene Erfolglosigkeit auszubreiten. Dann gab es da die täglichen Popkonzerte im Zentrum Belgrads und die vermeintlich todesmutigen Protestanten auf den Brücken – Gesten des Trotzes und des Kraftmeiertums, die bald wieder von der Bildfläche verschwinden würden. Ungeachtet seiner katastrophalen strategischen Misserfolge und der zuletzt bewiesenen Unfähigkeit, das Glaubwürdigkeitsproblem und den Handlungszwang des Westens in der Kosovofrage auch nur zu begreifen, war Slobodan Milosevic hier zu Lande immer vor allem als ein schwarzer Meister, um nicht zu sagen: Genius der politischen Taktik, wahrgenommen worden. Fehler machte immer nur der Westen, und jetzt war er dem überlegenen Gegenspieler paradoxerweise auch noch an der internen Front der Machterhaltung zu Hilfe geeilt.

Nur mühsam konnten sich gegenüber dieser machtfixierten Weisheit anders lautende Stimmen zur Geltung bringen: Danach war der nahezu einhellige patriotische Protest der Serben gegen die Bomben eine Sache, die Popularität des Regimes und seines Führers eine andere. Es war dies nur eine erste und elementare Differenzierung, aber sie lenkte die Aufmerksamkeit immerhin auf die serbische Gesellschaft zurück und dementierte die peinlich vulgäre Psychologie des kopflosen Zusammenrückens unter wem auch immer.

Im Bosnienkrieg hatte das "heimliche" Serbien geschwiegen. Die offizielle Linie, nach der Serbien selbst sich ja nicht im Krieg befand, war wohl zu bequem und verführerisch gewesen. Im Kosovokrieg beginnt der pays réel zu sprechen. Ungewöhnliche Dokumente "von unten" gelangen jetzt in unsere Zeitungen. Man findet in ihnen alles an Überdruss, Besorgnis und Sehnsucht, das man von den Bürgern eines antidemokratischen, bankrotten und weltweit isolierten Kleinstaates auch erwarten sollte. Einige der Informationen, die wir jetzt erhalten, stellen unser Urteilsvermögen direkt in Frage: Und es waren bei der Beerdigung des ermordeten Publizisten Savko Curuvija 11000 Menschen. Viele unter ihnen werden sich die Zukunft der Kosovaren und ihre eigene nur ohne Milosevic denken können – nur denken, nicht aussprechen. Sonst würden sie weder das Kriegsrecht noch die Lynchjustiz der Belgrader Straße überleben. Sie haben in diesen Zeiten keine Stimme (Herta Müller, Die Entfesselung der Perversion, FAZ, 5.5.99; wieder abgedruckt in: Frank Schirrmacher, Hrsg., Der westliche Kreuzzug, Stuttgart 1999, S. 137 ff.). Diese eine Zahl, die übrigens nirgends sonst auftauchte, gibt mehr zu denken als viele der an sich sorgfältig recherchierten Stimmungsbilder in unseren Tageszeitungen. Auf der anderen Seite gab es da zumindest während des Kosovokriegs eine weit verbreitete Weigerung, über Schuld und Verantwortung zu reden. Sogar angesehene Dissidenten waren von dieser Haltung nicht frei. Mit Angst hat das wohl kaum etwas zu tun. Eine solche Weigerung hat es bekanntlich auch in Nachkriegsdeutschland gegeben. Man kann nur hoffen, dass die Serben nicht so viel Zeit brauchen wie die Deutschen – nämlich zwei volle Jahrzehnte –, ehe sie das Schweigen brechen. Da die Verantwortung der Serben unter Milosevic nicht mit der der Deutschen unter Hitler zu vergleichen ist, gibt es dafür vielleicht auch gewisse Chancen. Am 29. Juni 1999 bringen die ARD-Abendnachrichten eine Reportage über eine Massendemonstration in Cacak. Einer der Redner, Milan Protic, spricht überraschend von Schande und Scham. Er entschuldigt sich vor der ganzen Welt für die Verbrechen der Serben im Kosovo. Der Mann, Mitte 50, spricht mit fester, unverkrampfter Stimme. Es ist ein bedeutsamer, ein bewegender Auftritt, der Format und großen Mut erfordert.

Man sollte die heikle Frage des Eingeständnisses von Verantwortung und Schuld auch nicht zu eng mit der Frage der Demokratisierung Serbiens verknüpfen. In der Bundesrepublik jedenfalls konnte die Demokratie sehr wohl ohne die Mithilfe von Aufrichtigkeit und ohne eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit aufgebaut werden. Es war eher umgekehrt: zuerst Formaldemokratie und dann, als relativ späte Frucht der Formaldemokratie (und des neu erworbenen Wohlstands!), der öffentliche Bruch mit der Politik des Totschweigens.

Wie schreibt man angemessen über Nationalismus? Die Frage ist, so könnten wir unsere bisherigen Überlegungen zusammenfassen, falsch gestellt. Angemessen schreiben lässt sich nur über ein jeweils konkretes und dem Wandel unterworfenes politisches Szenarium, in der der Nationalismus – als ein Faktor unter anderen Faktoren – seinen ebenfalls wechselnden Einfluss entfaltet. Und sich unter Umständen selber verändert. Noch einmal: nicht um an die Macht zu kommen, sondern um sich an der Macht zu halten, hat der Führer Serbiens mit "Großserbien" zu arbeiten begonnen – gegen eine Bevölkerung, die Anfang 1991 ihr "1989" nachzuholen ernstlich entschlossen schien. Zuerst Panzerfahrzeuge, dann "Großserbien" – das war die Reihenfolge der Abwehrmaßnahmen. Nackte Gewalt, neues Design – und die Sequenz sollte den Unterdrückten tatsächlich entgangen sein? Man darf sich hier auch keine "deutschen" Verhältnisse vorstellen. In Serbien bleibt auch unter den Bedingungen der Diktatur kaum etwas ungesagt. In der stark zersplitterten politischen Szene des Landes gibt es immer einen Politiker, der seinen momentanen Gegenspieler auf den Punkt bringt – öffentlich, versteht sich, und mit rücksichtsloser Schärfe. Milosevic wirft Seselj, mit dem er gestern noch paktierte, heute seine Kriegsverbrechen in Bosnien vor. Und Seselj seinerseits nimmt in aller Öffentlichkeit das bloß instrumentelle Verhältnis Milosevics zu Nation und Vaterland auseinander (Vgl. Robert Thomas, Serbia under Milosevic, a. a. O., S. 136 ff. u. S. 199 ff.). In diesem Treibhaus der ewigen Polemik zwischen stets wechselnden Kontrahenten muss jede politische Naivität bereits im Keim absterben.

Und heute, nachdem die Hochflut nationalistischer Aggressivität sich verlaufen hat, ist Slobodan Milosevic noch immer an der Macht. Er hat ja noch die Polizei.

Die Nation, die Geschichte, die Tradition gehören der Welt des Imaginären an. Sie sind "erfunden". Man muss aber hinzufügen, dass es mit der Zeit unattraktiv und beschwerlich werden kann, die Tradition immer wieder neu zu erfinden. Man kann es auch lassen. Man kann eine Tradition auch verschimmeln lassen. Ein Blick zurück auf die Formierung jenes Nationalismus, der sich in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre aufzulösen beginnt, kann das verdeutlichen. Für Kroatien hat Christopher Cviic die Fehlentwicklung bis in den unglücklichen Verlauf des "kroatischen Frühlings" zurückverfolgt:

Perhaps inevitably, the Croats’ instinctive response to Tito’s purge, which they saw as a full-scale attack on their basic national identity, was to concentrate on defending national symbols, the Croat language and culture, and so on. Unfortunately, there was little or nothing there for Croatia’s Serbs to identify with. They felt left out and, with memories of Pavelic’s extremist brand of Croat nationalism still fresh in their minds, apprehensive about the future. This growing Croat-Serb rift, set against the background of increasing Croat rejection of Yugoslavia, was one reason why there was no joint Croat-Serb struggle for democracy and civil rights in Croatia or, indeed in Yugoslavia as a whole. While more and more Croats were coming to reject Yugoslavia, most Serbs (including supporters of democratic change) continued to take it from the Serb national point of view. Among the Croats, unfortunately, the increasing emphasis on the purely "national" aspects of the anti-regime struggle led to a de-emphasis of democracy, pluralism and civil rights as the struggle’s principal aims (Christopher Cviic, Slovene and Croat Perspectives, in: A. Danchev and Th. Halverson, International Perspectives on the Yugoslav Conflict, London 1996, S. 129).

Inzwischen scheint Kroatien dabei, die damaligen Entscheidungen zu überdenken und zu korrigieren. Auch für Serbien besitzen wir eine Analyse von vergleichbarer Luzidität. Danach vermochte sich der Nationalismus im Serbien der 80er-Jahre nicht zuletzt deshalb so leicht durchzusetzen, weil er sich selbst als erzdemokratisch präsentieren und auch begreifen konnte. Eine Pionierrolle spielte dabei ausgerechnet der Verband serbischer Schriftsteller:

Im alten Regime, das sich vor dem Aufzeigen von nationalen Problemen und Spannungen gescheut hatte, weil es darin unter anderem die Gefahr eines erwachenden Nationalismus sah, waren Auseinandersetzungen über nationale Fragen bestenfalls unpopulär und schlimmstenfalls verboten. Das Wort zur Lage der Kosovo-Serben zu begreifen, bedeutete daher die Entfernung des  Schlosses von einem bis dahin unter Verschluss gehaltenen Thema und den Zugang zu einem neuen Raum der Redefreiheit. Schon das machte diese Geste exemplarisch demokratisch, vereinbar mit allem, was der Verband seit Anfang der Achtziger unternommen hatte ... Ginge es nicht in die Gesamtheit (Gesamtentwicklung, E. K.) ein, den die Ideologie des Nationalismus im vorhergehenden Jugoslawien, aber auch in Serbien selbst, genommen hatte, wäre das Engagement des Serbischen Schriftstellerverbandes in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre bloß grotesk gewesen. Sein ganzer Inhalt erschöpfte sich im endlosen Exerzieren der Idee, dass die Serben, alle und seit je, nur Opfer gewesen seien. In diesem Kontext wird der Nationalismus, nach dem karikierten romantischen Modell des neunzehnten Jahrhunderts, zur Kraft der demokratischen Umgestaltung und der Schriftsteller zur Figur eines Trägers nationaler Interessen stilisiert. Dieses überlebte Konzept saugte die letzte Kraft aus dem einstigen Dissidentenpotenzial. Das Dissidententum verdorrte in seiner elementarsten Form, der Opposition zum Regime, und zwar zu einem, das bereits in hohem Maße tot war (Drinka Gojkovic, Die Geburt des Nationalismus aus dem Geiste der Demokratie. Der Serbische Schriftstellerverband und der Krieg; in: Irina Slosar, Hrsg., Verschwiegenes Serbien. Stimmen für die Zukunft?, Klagenfurt-Salzburg 1997, S. 161 f. u. S. 176).

Auch das ist Vergangenheit – ungeachtet der unsäglichen Romantizismen, die ein populärer Führer wie Vuk Draskovic immer noch bei jeder Gelegenheit von sich gibt. Das Dissidentum hat sich erholt oder erneuert. Die Kolonialherrschaft im Kosovo hat man verloren. Oder ist man endlich los. Für sich selbst haben die Serben eigentlich immer Demokratie gefordert, was immer das heißen mochte. Inzwischen hat sich der Antikommunismus wieder dem Gedanken der Demokratie geöffnet, wie man ihn sonst in der Welt versteht. Die antiwestlichen Verschwörungstheorien des Regimes scheinen langsam nur noch das Regime und seine unmittelbare Anhängerschaft zu mobilisieren. Was Slobodan Milosevic auf dem Parteikongress der Sozialisten im Februar 2000 vorgetragen hat, beweist nur, dass er den Kontakt zu seinem Land vollständig verloren haben muss. Man fühlt sich fast an Ryszard Kapuscinskis Parabel vom König der Könige erinnert (dt. Ausgabe Frankfurt/M. 1995). "Serbien sei vom jugoslawischen Auflösungskrieg verschont geblieben, es habe die ökonomische und soziale Stabilität bewahrt, der jugoslawische Staat und die ‘jugoslawische Idee’ hätten überlebt, trotz allen Anfechtungen durch innere und äußere Feinde. Die Partei habe das Mögliche geleistet und mehr als das Mögliche. Die Weltregierung aber habe im Balkan anderes im Sinn. Ihr Ziel sei der Zerfall der Gesellschaft, der Niedergang des Staates, die Orientierungslosigkeit der Menschen"(NZZ, 19./20.2.00).

Der Druck auf das Machtzentrum bleibt dennoch schwach. Die allgemeine Skepsis den Oppositionsparteien gegenüber kann sich freilich auf handfeste Erfahrungen berufen. Wir halten uns unwillkürlich an die Sozialpsychologie, wenn wir über Serbien nachdenken. Es ist immer gleich der müde, zermürbte Mensch in seiner Verwirrtheit, der uns in den Sinn kommt – bestenfalls! Aber die besagte Reserviertheit, das Misstrauen der Unzufriedenen gegenüber der Opposition, könnte auch auf Wachheit und Kritikvermögen beruhen. Die Opposition ist nicht überzeugend – nicht nur, weil sie zerstritten ist. Was hätten ein Zoran Djindjic und seine Demokratische Partei den breiten Massen der Verarmten real anzubieten? Die Loser der "Modernisierung" kommen in der FDP-Programmatik dieser Partei gar nicht vor (die soziale Enge und Exklusivität seiner Politik scheint für Djindjic nicht einmal ein Problem zu sein – anders als sein schillernder Nationalismus, über den er sich vor deutschem Publikum schon wortreich ausgelassen hat). Der Westen hat das Land in Schutt und Asche gelegt. Das Russland des Vernichtungskriegs in Tschetschenien fasst er hingegen mit Samthandschuhen an. Das ist die Doppelmoral des Westens. Dennoch scheint sich Serbien diesmal nicht in der alten Opferrolle verbarrikadieren zu wollen. Der Wunsch nach einer schrittweisen Normalisierung der Lebensverhältnisse ist zu stark.