Wie stabil ist das neue Konsensmodell?

Gesellschaftliche Potenziale für eine Alternative zur "Neuen Mitte"

Klaus Dräger

In der bundesdeutschen und europäischen Politik herrscht inzwischen nahezu ein Allparteienkonsens der "Neuen Mitte". Von der Essener Erklärung der neuen CDU Angela Merkels bis zur Mehrheitsmeinung der Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnisgrünen, von der Europäischen Kommission, dem Europäischen Rat bis zur konservativ-liberalen Mehrheit des Europäischen Parlaments besteht ein breiter Konsens über die Notwendigkeit eines "Neoliberalismus mit anderen Mitteln".

Im Mittelpunkt steht dabei ein angebotsorientierter Neokorporativismus zwischen Unternehmerverbänden, Gewerkschaften und Staat, der im "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" und in den Ergebnissen der aktuellen Tarifrunden allmählich Tritt fasst. Die Stichworte der neuen "Konsenspolitik" lauten Niedriglohnsektor, moderate Lohnpolitik, Vorrang der Inflationsbekämpfung, eiserne Sparpolitik, radikale Abgabenentlastung der Unternehmen, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Standorte, Beschleunigung des Innovationstempos im Hightech-Sektor und in der Internet-Ökonomie, Wachstumsschübe durch Deregulierung und Privatisierung, "Renaissance der Selbständigkeit" und die Rückkehr zu Ordnungsmachtdenken, Geostrategien und Krieg als Ultima Ratio der Politik (Kosovo-Krieg, neue NATO-Strategie, EU-Eingreiftruppen, EU-Osterweiterung). Arbeitsplätze, gar "Vollbeschäftigung" durch Innovation, Internet, Wachstum, Entfesselung der Marktkräfte und drastisch gesenkte Steuern und Abgaben heißt die gemeinsame hoffnungsfrohe Botschaft.

Das Postulat der "nachhaltigen Entwicklung" hat ausgedient und kommt nur hier und da noch in salbungsvollen Sonntagsreden vor. Der europäische Sozial- und Wohlfahrtsstaat soll einer "Modernisierung der Sozialsysteme" weichen, damit Deutschland und die EU sich besser den Herausforderungen der "Globalisierung" stellen können. Die Unterschiede der Parteien reduzieren sich damit eher auf Nuancen. Diese sind keineswegs unbedeutend, lauten aber etwa so: Sollen eher die kleinen und mittleren Unternehmen oder besser die umsatzstarken global players<D> vorrangig von Unternehmenssteuersenkungen profitieren? Braucht eine moderne Cyberspace-Ökonomie einen globalisierten, flexiblen Arbeitsmarkt, also "Computer-Inder" (BILD) und ein begrenztes Multi-Kulti im Interesse der Wirtschaft, oder finden sich die nötigen Fachkräfte auch in Europa oder in Kirchheim-Teck?

In unserem Buch "Zukunftsfähigkeit und Teilhabe"<D> (Dräger/Buntenbach/Kreutz, VSA 2000) haben wir die politischen Konzepte dieses bewusstlosen "Modernisierungsdenkens" ausführlich analysiert, das auch die Ideenwelt der "Neuen Mitte" und des "Dritten Weges" prägt. Ausgehend von den Kampfbegriffen des "Dritten Weges" – Teilhabegesellschaft, aktiver Staat, Empowerment und vieles mehr – haben wir Alternativen im Sinne einer zukunftsfähigen Entwicklung skizziert. Angesichts der erdrückenden Breite des gegenwärtig herrschenden Konsenses über ein neoliberales Gesellschaftsmodell stellt sich allerdings die Frage: Gibt es überhaupt ein gesellschaftliches Subjekt für einen Politikwechsel von links? Oder muss sozial-ökologische Reformpolitik sich auf einen langen Marsch durch die Wüste eines neu erstarkten Neoliberalismus gefasst machen?

Umkämpfte gesellschaftliche Milieus

Peter von Oertzen beschrieb das rot-grüne Potenzial 1994 auf Basis einer umfangreichen empirischen Untersuchung einer Forschungsgruppe der Universität Hannover1<D> so:

"Von allen wirksamen Faktoren differenziert diese Arbeitnehmerorientierung das SPD-Potenzial am stärksten vom Unions- und FDP-Potenzial. Die stärkste Konzentration gesellschaftskritischer und arbeitnehmerorientierter Einstellungen findet sich im Kombinationspotenzial von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. ... Es gibt eine spezifisch ausgeprägte gesellschaftliche Basis für Rot-Grün, und sie ist zu beschreiben als jung, überdurchschnittlich qualifiziert, gesellschaftskritisch, arbeitnehmerorientiert, links."2<D>

Ende der Achtzigerjahre verortete von Oertzen bei den Grünen das größte Potenzial, mit einer entsprechenden systematischen Politik vor allem die Milieus der "neuen ArbeitnehmerInnenschichten" für sich zu gewinnen und der SPD dort entscheidendes Terrain streitig zu machen. Die Grünen vergeigten diese Chance mit ihrer einseitig auf die Klimafrage zugespitzten Wahlkampagne 1990. Sie überließen Oskar Lafontaine das Feld, mit seinem modernistisch daherkommenden "Fortschritt-90-Programm" die spritzigere Synthese von ökologischem Umbau und sozialer Erneuerung zu vertreten.

Unter anderen politischen Vorzeichen – inzwischen war der soziale und ökologische Umbau passee und "Innovation und Gerechtigkeit" angesagt – wiederholte sich dieses Muster bei der Bundestagswahl 1998. Die SPD gewann vor allem frühere WählerInnen von CDU/CSU, Grünen und Nichtwählende für sich. Professor Michael Vester analysiert: "Der Stimmenzuwachs (von 36,4 auf 40,9 Prozent) kam vor allem aus der modernen Arbeitnehmermitte; die SPD verbesserte sich bei den Arbeitern auf 48 Proeznt (bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern sogar auf 61 %), bei den Angestellten auf 42 Prozent (CDU/CSU 31 %). Die Grünen (6,7 %) haben in der modernen Arbeitnehmermitte verloren, waren aber in ihrer Hochburg, dem Avantgardelager, besonders erfolgreich."3<D>

Vester typologisiert die bundesdeutsche Gesellschaft auf Basis empirischer Studien in vier Gruppen:

1. Die Avantgarde<D>, die sich durch kritisches Engagement auszeichnet: Menschen aus mobileren, individualisierten und jüngeren Milieus mit hoch qualifizierten Berufsbildern und freieren Lebensstilen aus den unteren, mittleren und oberen Gesellschaftsschichten (24 % der Gesellschaft).

2 Die moderne Arbeitnehmermitte<D> – moderne und gut ausgebildete Facharbeiter und Angestellte in mittleren Einkommens- und Bildungsstufen der Wirtschaftswundergeneration. Sie zeigt zwar Reforminteresse, ist jedoch durch den wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel stark desillusioniert und wahrt skeptische Distanz zu allen Parteien, Institutionen und zur "sozialen Marktwirtschaft" (25 % der Gesellschaft).

3. Die konservative Mitte<D>, aus kleinbürgerlichen und konservativ-technokratischen Milieus (gehobene Selbstständige, Freiberufler, Wissenschaftler, leitende Angestellte etc.) stammend, die sich durch entschiedenes Erfolgs-, Hierarchie- und Machtbewusstsein und allgemeine Zufriedenheit mit der gegebenen gesellschaftlichen Grundordnung auszeichnet (24 % der Gesellschaft).

4. <D>Die Deklassierten<D> – Angehörige der älteren Generation aus traditionellen Berufsgruppen und schlecht ausgebildete Jüngere aus sozial benachteiligten Milieus. Sie sind als Verlierer der Modernisierung enttäuscht, von sozialen und kulturellen Netzen zunehmend abgekoppelt und überwiegend ressentimentgeladen (27 % der Gesellschaft).

Diese vier Milieutypen haben keineswegs einheitliche Vorlieben für bestimmte Parteien. Insbesondere das Avantgarde-Milieu ist politisch sehr heterogen und stellt das "Modernisierungsferment" in verschiedenen Parteien (Grüne 30 %, SPD 40 %, CDU/CSU 20 %). Es ist daher ein stark umkämpftes und ständig im politischen Umbruch begriffenes WählerInnensegment. Unter den Deklassierten gibt es WählerInnen aller Parteien, aber insbesondere einen hohen Anteil an NichtwählerInnen und rechtsradikalem Protestpotenzial. Auch die moderne Arbeitnehmermitte kann sowohl von schwarz-gelb als auch von rot-grün erfolgreich angesprochen werden. Dafür müssen Modernisierungsthemen und tolerantere und offenere Lebens- und Politikstile im Zentrum ihrer Kampagnen stehen. Eine im Sinne von Angela Merkel oder Jürgen Rüttgers modernisierte CDU hätte hier ebenso Chancen wie sein sozialdemokratischer Gegenpart Wolfgang Clement, aber auch die Lafontaine-SPD, sozialstaatlich orientierte Grüne oder – bezogen auf den Westen – eine PDS, die sich von den kulturellen Barrieren der Ostalgie und des dazugehörigen "Traditionalismus" freigeschwommen hat.

Mögliche Bruchlinien im neoliberalen Konsens

Vester interpretiert die zunächst wahlpolitisch erfolgreiche Strategie der "Neuen Mitte" als "Integrationsideologie", die zwangsläufig Interessengegensätze überbrücken und beschönigen müsse. Die Einbindung des Milieus der Deklassierten sei so lange äußerst schwierig, wie Massenerwerbslosigkeit und soziale Unsicherheit anhalten. Auch für die neue Mitte prophezeit er ein erhebliches Spaltungspotenzial: "Dieser Riss wird vor allem zwischen den neuen Hegemonen<D> – der Elite der mehr oder minder modernisierten Technokraten – und der neuen Arbeitnehmermitte verlaufen. Wenn in der Mitte die Angst vor Arbeitslosigkeit und ungewisser Zukunft abnimmt, wird deutlicher, dass sich jener untere Teil der Neuen Mitte mit der passiven Rolle, für mehr soziale Sicherheit bescheidenere Tarifabschlüsse hinzunehmen, nicht abfinden wird."4<D>

Als Konsequenz der von der "Neuen Mitte" enttäuschten Reformerwartungen, so prophezeit Vester, "kommt es mit der Zeit zu verschiedensten neuen Protestbewegungen der moderneren sozialen Gruppen – insbesondere Arbeiter und Angestellte, Schüler und Studierende, Frauen und diskriminierte Gruppen. Ihre Forderungen werden sich nicht auf materielle Umverteilungen beschränken: Sie wollen mitbestimmen, wenn es um ihre Zukunft geht".5<D>

Die Risse in der "Neuen Mitte" bedrohen allerdings nicht nur die SPD. Schon vor der Bundestagswahl 1998 hatte Hubert Kleinert die Ausdifferenzierung des bündnisgrünen WählerInnenpotenzials treffend beschrieben: "In ihrem Kern aber sind die Grünen heute eine in sich widerspruchsvolle Kombination aus alt-grüner ökologischer Wachstumskritik<D>, einer gemäßigten, inzwischen eher defensiv vertretenen Variante der permissiven 68er-Werte<D> sowie einem modernistischen Marktwirtschaftspragmatismus<D>, der im Grunde auf eine moderne Variante des Sozialliberalismus mit ökologischen Einsprengseln hinausläuft. Ihre Wähler reichen von jungen Nachwuchs-Brokern mit ökologisch-bürgerrechtlichem Touch, denen die SPD zu altmodisch und staatsfixiert ist, über gemäßigt Linke mit viel sozialdemokratischem Gedankengut, die fast ebenso gut den neueren Lafontaine wählen könnten, bis zu ökologischen Traditionalisten, denen selbst eine vorsichtige Wendung zu technologischem Fortschrittsoptimismus Schwierigkeiten bereitet. Angesichts dieser wachsenden Heterogenität ihrer eigenen Anhängerschaft, die sich an den Rändern kaum noch berührt, haben die Grünen lange versucht, ähnlich wie Schröder auf die überwölbende Medienperformance ihres Vormanns Fischer zu setzen."6<D> Dieser Wandel zur virtuellen Partei <D>bringt jedoch immer weniger Erfolg. Ihren wahlpolitischen Zenit haben die Bündnisgrünen längst überschritten. Ob neue Grüne <D>mit neoliberaler Orientierung sich eine dauerhafte neue soziale Basis schaffen können, die sie über der für eine Funktionspartei lebenswichtigen 5-%-Marke hält, ist nicht völlig auszuschließen, aber auch keineswegs sicher.

Die Enttäuschung über uneingelöste Reformerwartungen insbesondere in der modernen Arbeitnehmermitte ist die Achillesferse des rot-grünen Projekts der "Neuen Mitte". Hier liegt ein Potenzial für die sozial-ökologische Linke, für das sie erst eine milieugerechte Ansprache finden muss. Vesters Klassifizierung der "Milieus der alltäglichen Lebensführung" zeigt die möglichen Verbindungen zu anderen gesellschaftlichen Gruppen an. Die unterschiedlichen Segmente der modernen Arbeitnehmermitte (modernes Arbeitnehmermilieu, leistungsorientiertes Arbeitnehmermilieu) können am ehesten auf die Milieus der politisch nicht völlig apathisch gewordenen "Deklassierten" und auf jene Teile der Milieus der "Hedonisten" und  "Liberalintellektuellen" ausstrahlen, die ein Bewusstsein für sozial-ökologische Verantwortung gewonnen haben. Nicht zuletzt die Regierungspropaganda um Kosovo-Krieg und Türkei-Panzer hat viele Menschen aus den letztgenannten Gruppen moralisch von Rot-Grün entfremdet.

Linke Erneuerung durch Umgruppierung

Eine erneuerte Linke darf sich deshalb nicht ausschließlich als Interessenvertretung der ModernisierungsverliererInnen und Marginalisierten verstehen, wenn sie Erfolg haben will. Sie muss vielmehr auf eine politische Umgruppierung quer durch die verschiedenen hier angesprochenen sozialen Milieus setzen. Die Anliegen der breiter werdenden Schichten der sozial Ausgeschlossenen gilt es mit den Fragen der Gestaltung der "Wissensgesellschaft", der demokratischen Beteiligung auf Augenhöhe, der Umverteilung und des ökologischen Umbaus zu verknüpfen.

Ein rot-grünes sozial-ökologisches Reformprojekt, auf das vor der Bundestagswahl so viele gehofft hatten, gibt es nicht mehr. Die "Politik der zweiten Chance" hat die Strategie der Regierungsbeteilung zur Durchsetzung sozial-ökologischer Reformen unfruchtbar gemacht. Auf der Ebene der Parteipolitik betrifft dies nicht nur SPD und Grüne, sondern auch die PDS. Mittelfristig träumen so manche in der Parteiführung von einer Mitte-Links-Regierung auf Bundesebene nach französisch-italienischem Vorbild. Für die PDS ist allerdings ebenso wenig wie zuvor für die Bündnisgrünen eine Strategie in Sicht, wie sie mit der gegenwärtigen SPD einen tragfähigen Minimalkonsens über sozial-ökologische Reformpolitik finden kann.

Viele grün-fundamentalistische oder revolutionär-sozialistische Linke ziehen bei der Koalitionsfrage den Umkehrschluss, Regierungsbeteiligungen seien aus prinzipiellen Gründen abzulehnen. Allein durch konsequente Oppositionspolitik lassen sich zwar Modifizierungen der Regierungspolitik durchsetzen oder bestimmte Entwicklungslinien verzögern und verhindern. Dies hat der Widerstand der Anti-AKW-Bewegung in den Achtzigerjahren exemplarisch gezeigt. Sie ermöglicht allerdings nicht die Neugestaltung von Politik entlang einer alternativen Entwicklungslogik. Entscheidend für einen solchen Politikpfad ist das Zusammenspiel einer entschlossenen, reformorientierten Regierung auf Grundlage eines politischen Minimalkonsenses und von sozial-ökologischen Reformbewegungen in der Gesellschaft, die an der Umsetzung der Reformpolitik vor Ort teilnehmen und eine zögerliche Regierung durch eigene Aktionen unter Druck setzen können. Beide Bedingungen – ein sozial-ökologischer Minimalkonsens<D> der Regierenden und aktive, selbstbewusste Bewegungen<D> – sind derzeit bekanntlich nicht gegeben. Der Erneuerungsprozess der Linken muss deshalb durch politische Umgruppierungen darauf hinwirken, diese Bedingungen herzustellen. Ein Ausblenden der Regierungsfrage wird ihr dabei nicht viel nützen.

Manche Linke in Grünen und PDS glauben offenbar, durch die Drohung mit einer Koalitionsbereitschaft gegenüber der CDU mehr Druck auf die SPD ausüben zu können.7<D> Weil mit der CDU aber auch kein sozial-ökologischer Minimalkonsens formulierbar ist, sondern nur eine ähnliche Modernisierungspolitik wie mit Schröder, wird dies die Strategen der "Neuen Mitte" nicht schrecken. Die Linke irritiert mit solchen Gedankenspielen allerdings ihre treuesten AnhängerInnen. Denn die Koalitionsdebatten in Richtung CDU signalisieren, dass die Linke im Bündnis mit den Konservativen die gleichen Maßnahmen passieren ließe, die sie an Rot-Grün als nicht eingelöste Reformpolitik kritisiert.

Mit einer bloßen Neuauflage der "postmaterialistischen" Politik der Grünen in den Achtzigerjahren – die heimliche Sehnsucht vieler AktivistInnen aus dem linksgrünen Milieu – kann die nötige politische Umgruppierung ebenfalls nicht bewerkstelligt werden. Dafür sind die Anliegen der Ökologie, der Emanzipation von Frauen, der Demokratisierung, der Integration von ImmigrantInnen und Flüchtlingen inzwischen zu sehr mit der neuen Verteilungsfrage<D> verknüpft.

Allianzen für bewegungsorientiertes Handeln

Vorrangige Aufgabe der Linken ist es deshalb zunächst, in der Gesellschaft Potenziale für sozial-ökologische Reformpolitik neu zu bündeln und die Verständigung auf ein gemeinsames strategisches Projekt zu fördern. Nichts ist momentan wichtiger, als die unterschiedlichsten Menschen in ihrem Bestreben zu bestärken, dass sie selbst etwas tun und sich mit anderen über gemeinsame Ziele verständigen müssen. Wenn sie weder von der rot-grünen neuen Mitte noch von einer aus ihren Fehlern Profit schlagenden CDU über den Löffel balbiert werden wollen, müssen sie sich schon selber und gemeinsam wehren, statt resignativ sogar noch aus der "Zuschauerdemokratie" auszusteigen. Damit ist die Suche nach geeigneten Themen, Leitbildern und Strukturen für "bewegungsorientiertes" gemeinsames Handeln über parteipolitische Grenzen hinweg aktuell die vorrangige Aufgabe für die Linke.

Netzwerke sind dafür zunächst die nahe liegende Alternative. Es ist bei dieser Organisationsform nachrangig, ob einzelne Aktive ein bündnisgrünes, sozialdemokratisches, PDS- oder gar kein Parteibuch haben. Solange gemeinsame Strategien, Konzepte und Aktionen entwickelt werden können, die als Bereicherung für den eigenen Handlungsradius empfunden werden, machen Netzwerke politisches Handeln einfacher. Die Netzwerkform erleichtert es auch, die unterschiedlichen sozialen Milieus des potenziellen Reformlagers zielgerechter anzusprechen.

Die verschiedenen, häufig an Einzelthematiken orientierten Netzwerke in der Bundesrepublik stehen vor einer entscheidenden Frage: Entweder sie beißen sich vereinzelt und mit ihren jeweiligen schwachen Kräften an der rot-grünen Konterreform die Zähne aus – oder sie versuchen, aus ihren jeweiligen Blickwinkeln Gemeinsamkeiten mit anderen Netzwerken und Initiativen zu finden und einige wenige gemeinsame Strategien und Aktionen zu entwickeln. Erste Schritte einer Verständigung in dieser Richtung werden bereits von der "Initiative für eine andere Politik" (Erfurter Erklärung), vom "Netzwerk für eine zukunftsfähige Politik" und vom "Jugendbündnis für eine zukunftsfähige Politik" gemeinsam mit weiteren Initiativen in Angriff genommen. Die drei Bündnisstrukturen versammeln in unterschiedlicher Zusammensetzung ein Spektrum aus Wissenschaft, Menschenrechts-, Umwelt- , Frauen- und Dritte-Welt-Gruppen bis zu kritischen GewerkschafterInnen.8<D>

Netzwerke werden kaum Bestand haben können, wenn sie nur aus der Willensanstrengung weniger geboren werden. Wirksam und handlungsmächtig werden sie erst, wenn sie sich in ihren Aktivitäten auf zeitgemäße Formen von Bewegung beziehen können und diese unterstützen und weiterentwickeln. Deshalb wird auch bei der sich entwickelnden Zusammenarbeit zwischen den Netzwerken in der Bundesrepublik viel davon abhängen, ob es gelingt, über die traditionellen Strukturen hinaus Menschen aus den verschiedensten Milieus neu anzusprechen und zu motivieren sowie eine offenere politische Kultur der Einmischung zu entwickeln.

@ZU1 = Optionen für eine marginalisierte Linke

@BODY O.E. = Programmatisch-konzeptionelle Erneuerung, die Entwicklung von Strategien, die Ansprache heterogener sozialer Milieus, der Aufbau funktionstüchtiger Strukturen und gemeinsame Aktionen können in der weiteren Zusammenarbeit der Netzwerke dabei in einem dialogischen Prozess Hand in Hand gehen. Interessierte politische Kräfte in Parlamenten und Regierungen können die öffentliche Wirkung der Netzwerke verstärken, indem sie sich positiv auf deren Forderungen und Aktionen beziehen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten sowohl mediale als auch parlamentarische Unterstützungsarbeit leisten.9<D> Gelingt dieses Zusammenspiel, so würde es in Deutschland überhaupt wieder möglich, strategische politische Alternativen in eine massenwirksame Diskussion zu bringen.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu unternimmt gerade den Versuch, verschiedene Initiativen und Gruppen auf europäischer Ebene zu sammeln, um gemeinsam für die Alternative eines "sozialen Europas" zu streiten. Dies könnte ein Ansatzpunkt für einen europäischen Strategiedialog der noch weitgehend nationalstaatlich orientierten Initiativen und Verbände bilden, der die Folgen eines Europas der Börsen und Finanzmärkte populär thematisiert.

Das Potenzial zum Aufbau einer anti-neoliberalen politischen Strömung, die auf gemeinsamen Interessen von Frauen, MigrantInnen, "neuen ArbeitnehmerInnen", prekär Beschäftigten und neuen Selbstständigen gründet, ist durchaus vorhanden. Die politische Kunst wird darin liegen, diese Interessen so miteinander zu verknüpfen, dass eine wahrnehmbare, attraktive und plurale gesellschaftliche Strömung wider den herrschenden Zeitgeist entsteht. Sie könnte Unzufriedenheit in Engagement für politische Alternativen umwandeln. Dies ist die entscheidende Aufgabe im Erneuerungsprozess der politischen Linken in Europa und in Deutschland.

Vom Autor erschien zum Thema jüngst: "Zukunftsfähigkeit und Teilhabe. Alternativen zur Politik der rot-grünen Neuen Mitte" (Klaus Dräger/Annelie Buntenbach/Daniel Kreutz) Hamburg (VSA-Verlag) 2000 (124 S., 14,80 DM)<D>

1 Michael Vester, Peter von Oertzen, Heiko Geiling, Thomas Hermann, Dagmar Müller: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Hannover 1991; demnächst neu bei Suhrkamp aufgelegt.

2 Peter von Oertzen: Eine neue gesellschaftliche Basis für Rot-Grün?, in: spw<D> 77, 1994.

3 Michael Vester: Die Neue Mitte: Wer oder was ist das?; in: Psychologie heute<D>, Februar 1999.

4 Ebenda

5 Ebenda.

6 Hubert Kleinert: Ende des Honeymoons; in: Die Woche<D>, 15.5.98.

7 So etwa Frieder O. Wolf/Frithjof Schmidt: Dritter Weg für Deutschland – eine Alternative zum ökosozialen Umbauprojekt? Grünes Grundsatzprogramm und politische Perspektiven nach einem Jahr rot-grüner Regierung, Andere Zeiten<D>, 5/99. Dort wird unter der Überschrift "Von der privilegierten Partnerschaft (mit der SPD) zum ergebnisorientierten Handelsabschluss" gefordert: "Verhandelt werden kann je nach Wahlergebnissen mit allen, abgeschlossen wird bei tragfähigen Ergebnissen mit dem, der die größten Zugeständnisse an grüne Ziele macht." Zwar bietet die gegenwärtige Verfasstheit der Union nach Auffassung der Autoren keine Grundlage für eine Koalitionsbildung auf Bundes- oder Landesebene. Aber: "Wir sehen auch die deutlichen Richtungskämpfe in der Union, deren Ausgang noch offen ist. Die etwa vom NRW-Parteichef Jürgen Rüttgers angekündigte Veränderung der Programmatik wird ebenso genau zu analysieren sein wie die programmatischen Veränderungen bei der SPD."

8 Die drei genannten Netzwerke haben auf einem gemeinsamen Treffen am 6.11.1999 in Frankfurt/Main vereinbart, künftig stärker zusammenzuarbeiten und eine gemeinsame Debatte über die inhaltliche Bestimmung eines sozial-ökologischen Politikwechsels zu beginnen. Auch wenn etwa die "Initiative für eine neue Politik" noch 1998 etwa 80000 Menschen zu einer Großdemonstration in Berlin zur Abwahl Kohls und für einen Politikwechsel mobilisieren konnte, handelt es sich bei den genannten Netzwerken noch nicht um eine neue "außerparlamentarische Bewegung". Abgesehen vom regionalen Anti-Atom-Widerstand im Wendland, dem bundesweiten Widerstand gegen die Castor-Transporte und punktuell aufflackernden Aktionen von Gewerkschaften und Erwerbslosengruppen für Arbeit und soziale Gerechtigkeit ist die Mobilisierungskraft der außerparlamentarischen Reformkräfte in Deutschland kaum noch vorhanden. Die Kooperation der Netzwerke bietet zunächst nicht mehr als ein Diskussionsforum für AktivistInnen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und ein "Experimentierlabor" für künftige Aktionsformen zum Aufbau breiterer Bewegungen. Damit erfüllt sie aber eine wichtige Funktion für den Erneuerungsprozess der Linken.

9 Immerhin verfügen die kleinen Gruppen linker Bundestagsabgeordneter in SPD und Bündnisgrünen theoretisch über eine Sperrminorität, mit der sie die Kanzlermehrheit an neuralgischen Punkten in Frage stellen könnten. Mit einem entschiedenen gemeinsamen Agieren könnten sie der rot-grünen neuen Mitte zumindest Zugeständnisse in Einzelfragen abtrotzen, weil diese sonst um ihre parlamentarische Mehrheitsfähigkeit fürchten oder direkte Deals mit der CDU abschließen müsste. Beide Gruppierungen machen von dieser theoretischen Option bisher keinen Gebrauch, der im öffentlichen Raum wahrnehmbar wäre. Dabei wäre ihnen Respekt und Zuspruch aus dem Lager von Gewerkschaften, Umweltverbänden u. ä. sicher, wenn sie durch gemeinsames Agieren tatsächlich etwa Vorhaben des Sozialabbaus verhindern oder wenigstens ersichtlich abmildern könnten.