Ereignisse & Meinungen

Welche Bundeswehr für welche Zukunft?

Michael Blum

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes haben viele europäische Staaten in den 90er-Jahren über die sicherheitspolitische Lage völlig neu debattiert. Die Diskussion um die Zukunft der Streitkräfte hat jetzt endlich auch Deutschland erreicht. Friedensforscher Dieter Lutz beschreibt die Sicherheitslage zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Ausgangslage für eine Bundeswehrreform in der Woche (26.5.00): "Die Staaten der Nato und unter ihnen an erster Stelle die Bundesrepublik waren noch sie so wenig bedroht wie heute. Die Nato war noch nie so stark und unangefochten. Die Mitgliedstaaten von Nato, Westeuropäischer Union (WEU) und EU geben ihren Streitkräften immer weniger die Funktion der Landes- und Bündnisverteidigung als der Krisenintervention."

Matthias Dembinski hat in der Kommune (9/99, "Zwischen Szylla und Charybdis: Die ungeklärte Zukunft der Bundeswehr") bereits früh die Parameter benannt, in denen eine Diskussion um die künftige Armee verläuft: "Der Kosovo-Krieg hat ein Schlaglicht auf Versuchungen und Zwänge geworfen, denen sich Friedenspolitik in der gegenwärtigen weltpolitischen Situation ausgesetzt sieht. Das eigentliche Problem scheint mir darin zu liegen, dass die Bundesregierung den Satz ‚Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik‘ noch nicht konkretisiert und inhaltlich gefüllt hat und daher Gefahr läuft, diesen Versuchungen und Zwängen zu erliegen." Die rot-grüne Bundesregierung "sieht sich hin und her gerissen" zwischen der Notwendigkeit zu sparen, der Notwendigkeit, deutsche Sicherheitspolitik an die veränderte Lage anzupassen, den Anforderungen unterschiedlicher Bündnispartner und Bündnisverpflichtungen und dem Bemühen, zumindest des sozialdemokratischen Verteidigungsministers, Traditionen wie die Wehrpflicht bewahren zu wollen.

Dass eine allzeit bereite, kasernierte Truppe wie die Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges dringend reformbedürftig ist, liegt auf der Hand und ist mit der Vorlage des Berichts der Bundeswehrstruktur-Kommission Ende Mai auch schwarz auf weiß niedergeschrieben: Die Bundeswehr, so das Fazit, ist zu groß, zu teuer, unmodern und falsch zusammengesetzt. Wer dies als Friedenspolitik interpretiert, sieht sich getäuscht, die Herstellung einer effizienten und schlagkräftigen Bundeswehr ist nichts anderes als die Herstellung der Kriegsführungsfähigkeit. Mit der quantitativen Verkleinerung der Armee und der faktischen Abschaffung der Wehrpflicht, wie sie die Kommission um Richard von Weizsäcker fordert, haben sich Experten strikt an den militärischen Notwendigkeiten orientiert und so eine militärstrategische Optimierung und qualitative Aufrüstung nahe gelegt: Die Umverteilung der begrenzten finanziellen Ressourcen innerhalb der Truppe von wehrpflichtigen Amateuren zu mobilen Profi-Krisenreaktionskräften, die gleichzeitig und unbefristet an zwei Kriseneinsätzen teilnehmen können, ist nicht nur der Abschied vom Bürger in Uniform, es ist auch ein weiteres Abrücken vom dem im Grundgesetz festgeschriebenen Auftrag der Landesverteidigung. Eine kleinere Armee und mehr "Kriseneinsätze" – dies ist weit mehr als eine Militärreform, in der es um die verfassungsrechtlich umstrittene Wehrpflicht und die Schließung einiger Kasernen geht: Es sind gesellschaftspolitische Dimensionen erster Priorität ebenso berührt wie die Außen- und Sicherheitspolitik im vereinten Europa. Zentrale Frage der deutschen Militärpolitik kann nicht die öffentlich mit Vehemenz diskutierte Frage der Wehrpflicht sein, sondern die Frage, ob eine Interventionsarmee aufgebaut werden soll.

"Wofür werden die deutschen Streitkräfte künftig gebraucht? Was sollen sie können? Wie viel dürfen sie kosten? Wer hat über all das zu entscheiden?" – Bettina Gaus benennt die Fragen, um die es dabei geht, in der taz (18.5.00) und fordert: "Militärpolitische Grundsatzfragen müssten Gegenstand einer breiteren öffentlichen Diskussion sein ..." Fragen, die nicht nebenbei, ohne öffentliche Diskussion, entschieden werden können – wenn auch das Bundeskabinett nach eigenem Fahrplan die Zukunft der Bundeswehr bereits am 14. Juni (vor-)entscheiden will, militärische Logik vor eine Neubestimmung von Sinn und Zweck der Bundeswehr stellt. Das Primat der Politik macht Bettina Gaus beim Bundestag aus: "Offen ist, welches Mitspracherecht dem Bundestag künftig bei der Beteiligung deutscher Streitkräfte an Einsätzen außerhalb des Bündnisgebietes eingeräumt werden wird. Die Bemühungen um eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik schreiten voran. Viele Argumente sprechen dafür. Aber noch so gute Gründe können nicht rechtfertigen, dass über den politischen Preis, der für dieses Konzept entrichtet werden müsste, gar nicht erst gesprochen wird. Wenn die Bundesrepublik im Rahmen der europäischen Arbeitsteilung für bestimmte militärische Aufgaben alleine zuständig ist: Wie kann das deutsche Parlament dann noch gegen die Teilnahme an einem NATO-Einsatz stimmen, bei dem diese Fähigkeiten gebraucht werden? Vor dem Kosovo-Krieg war die Zeit angeblich zu knapp für Grundsatzdiskussionen. Jetzt wäre Zeit, aber die Auseinandersetzung wird weiterhin vermieden. Stattdessen wird über den drohenden Verlust von Arbeitsplätzen im Falle möglicher Standortschließungen geredet, über die politische Zukunft von Rudolf Scharping, und es wird die Frage erörtert, ob der Umbau der Bundeswehr mit dem Sparpaket von Finanzminister Eichel zu vereinbaren ist."

Zwei Rahmenvorgaben sind es, nach denen die künftige Bundeswehrstruktur zu diskutieren ist: Es ist zum Ersten die politische Entscheidung über Auftrag und Umfang der Armee und zum Zweiten die Entscheidung über deren Finanzierung. Gleichwohl beeinflussen sich beide Vorgaben gegenseitig. Dembinski hat die derzeitige Diskussion in seinem Kommune-Beitrag vorweggenommen: "In der gegenwärtigen Kontroverse wird um Prozeduren und um inhaltliche Positionen gestritten. Bezüglich der Prozeduren argumentieren die einen, man dürfe eine politische Weichenstellung nicht durch budgetäre Zwänge entscheiden, sondern müsse erst die Aufgaben der Bundeswehr definieren und dann das zur Erfüllung dieser Aufgaben notwendige Geld zur Verfügung stellen. Die anderen gehen von der Unausweichlichkeit der Sparbeschlüsse aus und fragen, welche Aufgaben mit den begrenzten Mitteln finanziert werden sollten. Hier stellen sich zwei Alternativen. Erstens eine drastische Absenkung des Personalbestandes. Weil dann nicht mehr alle männlichen Vertreter eines Jahrgangs eingezogen werden könnten, würde die Wehrpflicht allein schon wegen der Verletzung der Wehrgerechtigkeit hinfällig – es sei denn, man führt eine allgemeine Dienstpflicht ein. Außerdem verlangt die zunehmende Technisierung der Streitkräfte nach gut ausgebildeten Spezialisten. Die kleinere, professionelle Armee wäre nicht mehr auf die Territorialverteidigung fixiert, sondern stünde für zusätzliche Aufgaben jenseits der Landesverteidigung zur Verfügung. Zweitens: Man hält an der Wehrpflicht fest und erwirtschaftet die notwendigen Einsparungen durch eine Reduzierung des Anteils der Berufs- und Zeitsoldaten. Weil sich eine Wehrpflichtarmee nicht zur Krisenintervention jenseits der Landesgrenzen eignet, würde die Territorialverteidigung die wichtigste Aufgabe der Bundeswehr bleiben."

Letztere Option hat die Weizsäcker-Kommission zumindest öffentlich nicht diskutiert. "Die Bundeswehr dient der Stabilität und dem Frieden in Europa" – so der Koalitionsvertrag zwischen den Regierungsparteien. Dieses Dienen sieht die Kommission durch eine aufgestockte schnelle "Einsatztruppe" am besten sichergestellt – und Stefanie Christmann im Freitag (12.5.00) darin ein hohes Missbrauchspotenzial: "Selbstverständlich macht die Kommission nur Vorschläge, und die Koalition entscheidet – aber ist ein solcher Richtungswechsel ohne Beteiligung der Bevölkerung in einem Plebiszit demokratisch vertretbar? ... Der ambitionierte und karriereorientierte Scharping ordnete schon vor seiner Vereidigung die Entwicklung einer zukunftsfähigen Sicherheitspolitik seinem Interesse unter. Bereits seine Bedingung, der Militärhaushalt dürfe nicht angetastet werden, war ein Rückfall von zielorientiertem auf dominanzorientiertes Denken. Um trotz der Halsstarrigkeit des Ministers Veränderungen zu ermöglichen, wurde eine unabhängige Kommission notwendig. Mit 140000 Mann starken Krisenreaktionskräften in petto wird die innen- und parteipolitische Profilierung künftig noch mehr über Militäreinsätze geschehen als bisher ... Vor allem spricht jedoch der Rückgriff auf einen militärischen Sicherheitsbegriff gegen die Vorschläge der Weizsäcker-Kommission."

Mit dem Wandel zur Interventionsarmee wird ein fundamentaler Wandel der Truppe angestrebt. Mit der von den Grünen geforderten Koppelungen von Auslandseinsätzen an ein UN-Mandat und Billigung durch eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, wäre eine Sicherheitsstufe eingebaut, um die Truppe nicht bei jeder Begehrlichkeit marschieren zu lassen. Eine politische Positionsbestimmung, welche Bundeswehr die Bundesrepublik braucht, ist dies indes noch nicht. Und wie schnell Beschlüsse umgangen werden können, zeigt nicht zuletzt der Kosovo-Krieg. Zweifellos lassen sich daran problematische Tendenzen beobachten. Nur: Ob sich diese durchsetzen, hängt auch von der Fähigkeit zur Formulierung glaubwürdiger Alternativen ab.

"Die politische Linke in Deutschland ist stets dem Missverständnis erlegen, je geringer die Zahl der Soldaten sei, desto friedlicher müsse die Politik agieren", schreibt Bettina Gaus in der taz (19.5.00). Eine Reform der Bundeswehr ist daher untrennbar, wie die grüne Bundestagsfraktion formulierte, mit einer substanziellen Verbesserung der nationalen und internationalen Krisen- und Gewaltprävention verbunden. Bei humanitären Einsätzen bedarf es dabei auch Krisenreaktionskräften: In Bosnien und in Kosovo ist die Bundeswehr mit insgesamt 10000 Soldaten vor Ort, um UN- und OSZE-Missionen zu schützen. Zehntausend Mann sind ein Bruchteil der 140000, wie sie die Reformkommission empfiehlt. Es wäre daher unnötig und falsch, dem Weizsäcker-Papier mit dem vorgesehenen Umfang der Kriseneinsatzkräfte zuzustimmen, um so eine faktische Abschaffung der Wehrpflicht zu erreichen.

Eine Verkleinerung der Truppe im Sinne der Reformkommission und die damit einhergehende qualitative Aufrüstung stellt auch eine Friedenspolitik in Frage, deren langfristiges Ziel es sein müsste, Militär weitgehend überflüssig zu machen. Warum sollte Deutschland nicht einen "besseren Beitrag zum Weltfrieden leisten, wenn es auf eine Armee verzichtet und stattdessen ein ziviles Friedenskorps" im Alleingang und mit Vorbildcharakter schafft, fragt Ekkehart Krippendorf in der taz (30.05.00). Kurzfristig ist es unverzichtbar das Völkerrecht zu rehabilitieren und das Gewicht der für den internationalen Frieden primär verantwortlichen Instanzen zu stärken und zum anderen gegenüber den Bündnispartnern bremsend zu wirken, solange es keine Sicherheit gibt, dass eine auf die militärische Krisenintervention hin optimierte NATO oder eine mit militärischen Fähigkeiten ausgestattete EU sich nicht die Krisenfälle schafft, die ihre Existenz legitimieren könnte. Aufgabe deutscher Politik müsste es sein, die Selbstmandatierung und die neue NATO-Doktrin erneut zur Diskussion zu stellen, anstatt mit einer Bundeswehrreform auch noch einen eigenen militärpolitischen Beitrag dafür zu leisten.. Denn: "Könnten wir ausschließen", fragt Dembinski, "daß, wenn Deutschland über eine interventionsfähige, hochgradig professionalisierte Bundeswehr verfügt, die deutsche Politik eher als bisher geneigt wäre, diese Armee jenseits der Landesgrenzen zum Einsatz zu bringen?" Genau deshalb bedarf es des von Gaus eingeforderten öffentlichen Diskurses über die künftige Rolle der Bundeswehr – und deren Einbindung in Sicherheitspartnerschaften.

Redaktion: Michael Blum