Abschied vom Zivildienst

Fällt die Wehrpflicht, fällt auch der Zivildienst

Christian Simmert

Im Vorfeld der Auseinandersetzung um den Umbau der Bundeswehr hat die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen ein Konzept zum Auslaufen des Zivildienstes vorgelegt. Das Ziel ist, die Zivildienstplätze in reguläre Arbeitsplätze umzuwandeln. Gleichzeitig müssen schon heute alle freiwilligen Dienste gefördert werden.

Nicht nur unter dem Aspekt der Selbstbestimmung junger Bürger mit dem Ziel, ihre Rechte zu stärken, sondern auch bezogen auf die Reform des Sozialstaates und einer nachhaltigen Strategie zur Schaffung neuer Beschäftigungsfelder ist die Abschaffung der Wehrpflicht und damit des Zivildienstes politisch notwendig. Der Zivildienst ist als Zwangsdienst ein tiefer Einschnitt in die individuelle Freiheit und die Grundrechte junger Männer. Denjenigen, die ihren Zivildienst nicht leisten, drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis.

Gleichzeitig hat sich der Zivildienst zum Ausfallbürgen besonders für den Gesundheits- und Pflegebereich entwickelt. Es ist ein offenes Geheimnis und problematisch, dass beim Einsatz von Zivildienstleistenden die geforderte "arbeitsmarktpolitische Neutralität"1 nicht gegeben ist. Der Zivildienst – allein vom Bund mit mehr als 2,5 Milliarden. DM jährlich gefördert – hat sich im Laufe seiner fast vierzigjährigen Geschichte zu einer wichtigen Säule des Sozialsystems und zu einer "berufspolitischen Mogelpackung"2 entwickelt. "Der Zivildienst ist das trojanische Pferd der Sozialpolitik, weil er die Illusion erzeugt hat, fast zum Nulltarif im sozialen Bereich Versorgungs- und Personallücken schließen zu können."3

Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen hat ein Konzept zur Konversion des Zivildienstes, einen zügigen schrittweisen Umbau bis zu dessen Abschaffung, vorgelegt. Ziel ist, den Zivildienst auslaufen zu lassen und stattdessen im sozialen Bereich sowohl attraktive Erwerbsarbeitsplätze sowie auch Einsatzmöglichkeiten für ehrenamtliches und freiwilliges Engagement zu schaffen.4 Die Konversion des Zivildienstes durch Schaffung regulärer Beschäftigungsverhältnisse im sozialen Sektor wäre zugleich ein Beitrag, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren und Menschen Arbeitsgelegenheiten zu verschaffen, die ihnen eine Existenzsicherung aus eigener Kraft ermöglichten.

Aus 135.000 Zivildienstleistenden 90.000 Arbeitsplätze machen Der Zivildienst ist volkswirtschaftlich kein Gewinn. Nach Berechnungen des Beirates Zivildienst des Diakonischen Werkes Württemberg, des Geschäftsführers der KDV-Zentralstelle, Peter Tobiassen, und der Wissenschaftler Jürgen Blandow und Dietmar von Bötticher belaufen sich die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten des Zivildienstes auf rund 9 Milliarden DM pro Jahr, bezogen auf 137.000 Zivildienstleistende (ZDL), Ausfall an Steuern und Sozialabgaben eingerechnet.5 Der jährliche volkswirtschaftliche Aufwand pro ZDL beträgt demnach 65.700 DM.

Die betriebswirtschaftliche Rechnung sieht anders aus: Eine Beschäftigungsstelle muss für einen Zivildienstplatz Kosten von jährlich etwa 14.300 DM aufwenden. Für hauptamtliche Kräfte mit vergleichbarem Aufgabengebiet ist mit Bruttopersonalkosten zwischen 50.000 und 70.000 DM zu rechnen. Betriebswirtschaftlich betrachtet kann aber von sechs bis sieben Hauptamtlichen die Arbeitsleistung von etwa 10 Zivildienstleistenden erbracht werden.6 Das Diakonische Werk der EKD kommt zu dem Ergebnis, dass volkswirtschaftlichen Kosten von rund 50.000 DM pro ZDL und Jahr betriebswirtschaftliche Kosten von 35.000 bis 47.000 DM jährlich für eine fest angestellte Kraft mit einer Zweidrittel-Stelle gegenüberstehen.7

Vergleicht man die betriebswirtschaftlichen mit den volkswirtschaftlichen Zahlen, kommt man zu dem Ergebnis, dass sich mit den eingesparten Mitteln ohne finanzielle Mehraufwendungen hauptamtliche Mitarbeiterinnen bezahlen lassen. Entscheidend ist allein die Frage, ob der Staat bereit ist, diese Mittel komplett für die Kompensation des Zivildienstes zur Verfügung zu stellen.

Für die Tätigkeiten von ZDL müssten 30 Prozent Fachkräfte und 70 Prozent ungelernte Arbeitskräfte eingestellt werden.8 Bei Abschaffung oder Aussetzung des Zivildienstes könnten circa 90.000 neue Arbeitsplätze, nämlich 27.000 für Fachkräfte und 63.000 für Ungelernte, entstehen. Wegen der "kurzen" Dienstzeit und der Zugänglichkeit für Menschen ohne Vorkenntnisse sind die Tätigkeiten der Zivildienstleistenden so strukturiert, dass viele in einer Einarbeitungszeit von etwa drei Monaten angelernt und danach selbstständig ihre Arbeit ausführen können. Damit sind diese Tätigkeiten besonders geeignet für diejenigen, die keinen Berufsabschluss besitzen, die aus ihrem Beruf wechseln müssen oder die einfach auszuführende Arbeit suchen. Die Aussetzung der Wehrpflicht und der Wegfall des Zivildienstes würden zu einer spürbaren Entlastung bei gering qualifizierten oder benachteiligten Erwerbslosen auf dem Arbeitsmarkt führen.

Die finanziellen Mittel für den Zivildienst müssen im sozialen Bereich bleiben Die Bundesrepublik muss sich vom Zwangsdienst, nicht aber von sozialen Dienstleistungen verabschieden. Dabei ist anzustreben, dass mögliche Engpässe bei ambulanten oder teilstationären Diensten nicht auf dem Rücken der ZDL ausgetragen werden und die Verkürzung oder Abschaffung des Zivildienstes nicht dazu führt, dass sich Leistungen für alte, kranke und behinderte Menschen so verteuern, dass sie für manche unbezahlbar würden. Die finanziellen Mittel, die von der öffentlichen Hand für den Zivildienst und für jene Arbeitslosen ausgegeben werden, die ohne Zivildienst im Sozialwesen die Chance auf Arbeit hätten, müssen für die Umwandlung des Zivildienstes zur Verfügung gestellt werden. Die Haushaltsansätze im "Zivildienst-Etat" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) werden für einen verantwortungsvollen Umbau im sozialen Bereich benötigt. Wenn der Zivildienst nur als Kompensation für Konsolidierung im Einzelhaushalt des BMFSFJ genutzt wird, wird ein "konzeptioneller Ausstieg aus dem Zivildienst" ungleich schwerer sein.

Zivildienstkommission einsetzen Weil Veränderungen des Wehrdienstes zwangsläufig unmittelbar Auswirkungen auf die Ausgestaltung und möglicherweise weitere Existenz des Zivildienstes haben, ist die Einsetzung einer Zivildienstkommission unter Federführung des Familienministeriums sinnvoll, in der neben den Wohlfahrts- und Naturschutzverbänden und der Interessensvertretung der Kriegsdienstverweigerer auch Gesundheitsministerium und Arbeitsministerium, Kommunen, die Kranken- und Pflegekassen sowie die Bundesanstalt für Arbeit einbezogen werden. Ein richtiger erster Schritt ist die Anfang Mai 2000 im Familienministerium eingesetzte Arbeitsgruppe "Zukunft des Zivildienstes", die sich im Anschluss an die Ergebnisse der Bundeswehrzukunftskommission mit einem Teilaspekt, nämlich der "Gestaltung des Zivildienstes", befassen soll.

Die Zivildienstkommission soll den Dialog für die Konversion des Zivildienstes initiieren und den Umbau oder das Auslaufen des Zivildienstes mit Empfehlungen vorbereiten. Zu ihren wesentlichen Aufgaben gehört:

– Eine differenzierte Betrachtung, wie Zivildienstleistende in den einzelnen Bereichen durch hauptamtliche Kräfte ersetzt werden können, und die Höhe der für die Konversion des Zivildienstes erforderlichen Mittel zu berechnen.

– Vorschläge zu entwickeln, wie eventuell fehlende Fachkräfte durch Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen sowie Ausbildung zu gewinnen sind. Hierbei sind Maßnahmenkataloge mit den entsprechenden Bundesministerien und der Bundesanstalt für Arbeit zu entwickeln.

– Der Wegfall des Zivildienstes wird in einigen Bereichen zu Übergangsschwierigkeiten führen. Lösungen müssen für die veränderte Nachfragesituation nach Arbeits-, Studien- und Ausbildungsplätzen sowie neue Bestimmungen für Arbeitsplätze beim Bundesamt für Zivildienst und im Bereich der Zivildienstschulen gefunden werden.

– Für den Bereich der Schwerbehindertenhilfe sind Maßnahmen zu entwickeln, die behinderte Menschen vor nachteiligen Folgen der Abschaffung oder einer weiteren Verkürzung des Zivildienstes schützen. Die "Individuelle Schwerstbehindertenbetreuung" (ISB) durch Zivildienstleistende war vielfach die einzige Möglichkeit für behinderte Menschen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Wehrgerechtigkeit herstellen In der Übergangszeit bis zum endgültigen Auslaufen des Zivildienstes muss der Weg der rot-grünen Bundesregierung zur Gleichbehandlung der Dienste und gegen jegliche Diskriminierung der Zivildienstleistenden fortgesetzt werden.9 Das gilt insbesondere für die Dauer der Dienste. Von Zivildienstleistenden darf als Ersatz nur die tatsächlich zu leistende Mindestgrundwehrdienstdauer verlangt werden. Gleichzeitig muss die Einberufungsquote beim Zivildienst der des Grundwehrdienstes entsprechen. Außerdem dürfen Kriegsdienstverweigerer nur zu dem Anteil zum Zivildienst herangezogen werden wie Wehrpflichtige zum Grundwehrdienst. Die Verkürzung des Zivildienstes von 13 auf 11 Monate ist als Beitrag zur Wehrgerechtigkeit zu begrüßen. Allerdings übersteigt die Zivildienstdauer immer noch die Dauer des Grundwehrdienstes um einen Monat. Insofern ist diese Regelung nach wie vor nicht zu vereinbaren mit dem Wortlaut des Artikels 12 a des Grundgesetzes, der bestimmt, dass der Ersatzdienst der Kriegsdienstverweigerer nicht länger sein darf als der tatsächlich zu leistende Grundwehrdienst. Verfassungsrechtlich ist die Ungleichbehandlung, die unter anderem mit vermehrten Wehrübungen begründet wurde, nicht (mehr) haltbar. Dies muss bei allen Veränderungen der Wehrpflicht berücksichtigt werden.

Freiwillig statt Zwang Der Zivildienst ist insofern eine "Erfolgsgeschichte", als er für viele Zivildienstleistende ein wichtiges soziales Lernfeld darstellt. Sie erhalten Einblick in institutionalisierte Sozialarbeit, haben Umgang mit Randgruppen und werden konfrontiert mit lebensentscheidenden Kernfragen wie Krankheit, Sterben, Tod. Angesichts der Tatsache, dass der Zivildienst ein Pflichtdienst ist, wird dieser positive Effekt geschmälert.

Freiwilligendienste stellen für einen Großteil der interessierten Jugendlichen hierzu die sinnvolle Alternative dar. Die verstärkte Förderung der Freiwilligendienste – des Freiwilligen Ökologischen Jahres (FÖJ) und des Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) sowie der Freiwilligendienste im Ausland und ausländischer Freiwilliger bei uns – ist unabdingbar. Sie sind im europäischen sowie internationalen Kontext durch ein Freiwilligenentsendegesetz rechtlich abzusichern. Darüber hinaus geht es aber auch um die Schaffung von Anreizen für junge Menschen, freiwillige gesellschaftliche Arbeit zu leisten. Anerkennung für Engagement muss für junge Frauen und Männer greifbar werden: Das Engagement im FÖJ und FSJ muss stärker mit der Anrechnung, etwa im Studium (Wartesemester/Praktika), honoriert werden. Die dafür nötigen Finanzmittel müssen im Bundeshaushalt durch Umschichtungen aus dem Bereich des Zivildienstes erwirtschaftet werden.

Der Vorschlag, nach Abschaffung des Zivildienstes einen neuen "sozialen Zwangsdienst" (auch für Frauen) einzuführen, ist abzulehnen. Dieser Vorschlag würde bei jungen Menschen weder auf Akzeptanz stoßen noch die Probleme in sozialen Bereichen lösen. Darüber hinaus würde dadurch das über Jahre hinweg geförderte, freiwillige soziale und ökologische Engagement ad absurdum geführt. Außerdem widerspricht Artikel 12 des Grundgesetzes der Einführung eines Zwangs- und Pflichtdienstes.

Den Dialog wagen Der Dialog um die Zukunft des Zivildienstes muss geführt werden und darf nicht dem Zufall überlassen bleiben. Alle Akteure gehören an einen Tisch, damit der Umbau des Zivildienstes auf breiten Schultern getragen werden kann.

Das Auslaufen des Zivildienstes lässt sich nicht von heute auf morgen realisieren. Der Prozess der Konversion muss schrittweise und im Dialog mit den Verbänden angegangen werden. Die Probleme der Konversion sind grundsätzlich zu meistern, wenn es zu einer geregelten Übergangszeit kommt, Abhängigkeiten vom Zivildienst schon jetzt abgebaut werden und entsprechende Finanzmittel für die Aufrechterhaltung sozialer Dienstleistungen in den Einrichtungen bereitgestellt bleiben. Erfreulich ist, dass die Wohlfahrtsverbände die Untersuchungen über die volkswirtschaftlichen Kosten des Zivildienstes im Prinzip akzeptieren. Damit ist eine gute Ausgangsposition für alle gemeinsamen Konversionsüberlegungen geschaffen worden.

Anm.

1 Arbeitsmarktpolitische Neutralität bedeutet, dass ein Zivildienstleistender in einer Dienststelle nicht eingesetzt werden darf, wenn dort nachweislich der Wegfall eines Arbeitsplatzes herbeigeführt oder die Einrichtung oder Wiederbesetzung verhindert wird. Die arbeitsmarktpolitische Neutralität ist in Nr. 3.3.2 der "Richtlinien zur Durchführung des § 4 des Zivildienstgesetzes" geregelt.

2 Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, Die Zukunft des Zivildienstes in Kirche und Diakonie, Diakonie Korrespondenz 03/00, Stuttgart 2000, S. 16.

3 Beate Finis Siegler, Konversion des Zivildienstes, in: "Was kommt nach dem Zivildienst", Dokumentation des Fachgespräches der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen am 11.5.98, S. 8-16, hier S. 8.

4 Beschluss der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Positionsbestimmung: Zukunft des Zivildienstes, 9. Mai 2000.

5 Beirat Zivildienst des Diakonischen Werkes Württemberg, Diakonie ohne Zivis – was tun, wenn die Wehrpflicht wegfällt, Stuttgart, 1999; Dietmar von Bötticher, Die Ersetzung Zivildienstleistender durch tariflich bezahlte Arbeitskräfte, in 4/3 Fachzeitschrift für KDV, Wehr- und Zivildienst, Heft 2/1994, S. 56 ff.; Jürgen Blandow, Wenn es keinen Zivildienst mehr gäbe – Zu den Erträgen und Kosten und dem Wiederbeschaffungswert wegfallender Zivildienstleistenden, in: 4/3 Fachzeitschrift für KDV, Wehr- und Zivildienst, Heft 2/94, Seite 63 ff.; vgl. Peter Tobiassen, Wehrpflicht und Zivildienst aus volkswirtschaftlicher Sicht, in: Zentralstelle KDV, Geht es ohne Zivis nicht? – Die Zukunft des Zivildienstes. Dokumentation einer Fachtagung, Bremen, 2000, S. 23-27.

6 Vgl. Beirat Zivildienst des Diakonischen Werkes Württemberg, a. a. O.

7 Vgl. Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, Die Zukunft des Zivildienstes in Kirche und Diakonie, a. a. O, S. 6f

8 Jürgen Blandow, a. a. O..

9 Vgl. Christian Simmert, Quo vadis Zivildienst, in: Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen, Zivildienst – Standpunkte und Perspektiven, Materialien zur Veranstaltung "Zivildiensttag" am 4.2.00 in Berlin, Berlin 2000, S. 2-9.