Ökologische Ethik - Paradigm lost?

Die Grenzen des Lebens - Teil 3

Harry Kunz

Noch vor wenigen Jahren an der Spitze der Agenda öffentlicher Problemwahrnehmungen rangierend, erscheint Umweltschutz derzeit nur von nachrangiger Bedeutung. Die Warnungen etwa von Niklas Luhmann, daß eine überhitzte Ökologiedebatte in Desinteresse umschlage, bestätigen sich eindrucksvoll. Gleichwohl sprechen nicht nur die manifesten Anzeichen dafür, daß Umwelt ein knappes Gut zukünftiger Gesellschaftsentwicklung sein wird, gegen eine völlige Verdrängung ökologischer Themen. Die Bedrohung der Umwelt hat über Jahre hinweg die öffentliche Diskussion geprägt, ganze Generationen wurden in ihrem Einfluß sozialisiert, die zumindest verbale Berücksichtigung von Umweltaspekten bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, aber auch im privaten Handeln, wurde zur Gewohnheit. Verschärfte rechtliche Umweltstandards und nicht zuletzt modische Öko-Trends insbesondere im Bereich des Konsums lassen "umweltbewußtes" Verhalten vielfach als sozial erwünscht erscheinen. Mit dieser Etablierung des Umweltschutzgedankens weit über das Milieu der im engeren Sinne Umweltbewegten hinaus geht freilich ein Konturverlust des ökologischen Gedankens einher: Welche Natur zu schützen sei, ist zumindest bei widerstrebenden Interessen in der Gesellschaft heftig umstritten, weil unterschiedliche Vorstellungen vom Wert der Natur zugrunde liegen. Umweltfreundliches Verhalten ist in weiten Teilen Interpretationssache, weil die Abschätzung umweltbezogener Handlungsfolgen stets einen Umgang mit Wahrscheinlichkeiten impliziert. Ob gentechnisch veränderte Tomaten einen noch akzeptablen Eingriff in die Natur darstellen, ob die Natur im Center-Park "eigentlicher" Natur vorzuziehen ist - all dies sind Fragen, die milieuspezifisch verschieden beantwortet werden.

Postmaterialistisch denken, materialistisch handeln

Sofern die Diskussionen um Wertewandel, Postmaterialismus und ökologisches Bewußtsein suggerieren, daß ein wirklicher Verzicht auf Bedürfnisexpansionen absehbar sei oder zumindest ein Wandel der Bedürfnisziele auf im weiteren Sinne nichtmaterielle Werte stattfinde, übersehen diese Auffassungen die grundlegende Gebundenheit solcher alternativen Trends an den Haupttrend der Erlebnisorientierung und Bedürfnisausweitung. Selbst wenn man - ungeachtet der erheblichen theoretischen und empirischen Einwände - an der Postmaterialismusthese von Ingleheart festhält, so ist die postmaterialistische Orientierung keine mit ökologischen Modellannahmen und Zielsetzungen verträgliche Selbstinszenierungsstrategie, sondern schwankt zwischen Ich-bezogenen Werten wie Selbstentfaltung, Gegenwarts- oder Genußorientierung und altruistischen, sozialen oder ökologischen Motiven. Die diesem Lebensentwurf inhärente Widersprüchlichkeit wird durch "selbstsymbolisierende Handlungen" bearbeitet. Die Wahlentscheidung für die Grünen, die Spende für Greenpeace und der Boykott von Shell sollen den Wunsch nach ökologisch oder sozial motivierter Selbstbeschränkung durch das Zurschaustellen von Symbolen dokumentieren, ohne daß damit die auf Selbstentfaltung ausgerichteten Ziele hintangestellt werden müssen. "Ökologisches Bewußtsein" als Teil des postmaterialistischen Wertesyndroms der neuen Mittelschichten ist auch ein Ausdruck kollektiver Selbsttäuschung. Ein ökologisch begründeter Verzicht auf diesen oder jenen Luxus, ein tageweises mönchisches Leben im Kloster oder ein Urlaub in der kärglich eingerichteten kanadischen Holzhütte bieten zudem willkommene Abwechslungen vom Alltag und beziehen aus dieser Kontrasterfahrung ihren Reiz. Die Bedürfnisspirale, also das Hinausschießen von Bedürfnissen über jede aktuell gegebene Form ihrer Befriedigung, resultiert nicht aus einer eindimensionalen Steigerung des Konsums und der Erlebnisdichte, sondern ist in dieser Lust auf Differenzerfahrung begründet. Gerade das Pendeln zwischen Luxus und der kalkulierten Bescheidenheit selektiven Konsumverzichts wird als besonders befriedigend erlebt. Eine solche Strategie bietet Möglichkeiten zur sozialen Abgrenzung, indem Naturnähe und umweltbewußtes Handeln als Demonstration von Kennerschaft und Geschmack oder als Ausdruck besonderer Lebensqualität begriffen werden. Solchermaßen sind die Praktiken ökologisch oder sozial inspirierten Verzichts wesentlich Modephänomene der Artikulation der "feinen Unterschiede" und haben mit dem christlichen Askesemodell der Infragestellung einer eingewöhnten Lebensweise so viel zu tun, wie die christliche oder islamische Idee des Fastens mit einer "Slim Fast"-Kur.

Freilich sucht das menschliche Streben nach Konsistenz und Konfliktvermeidung die Widersprüche zwischen Selbstentfaltungswünschen und ökologischen oder sozialen Interessen einzuebnen, indem etwa dem umweltbewußten Zeitgenossen suggeriert wird, der "sanfte" Urlaub in Costa Rica sei Teil eines nachhaltigen Regenwaldnutzungskonzepts oder dem TUIUrlauber der Tunesien-Aufenthalt als Entwicklungshilfemaßnahme nahegebracht wird. Trifft die These zu, daß als Folge von Prozessen sozialer Individualisierung und kultureller Pluralisierung kein normativ gehaltvoller, gesellschaftlicher Konsens über Natur, Umweltschutz und über das Wie ökologischen Handelns besteht, so sind solcher Genußmoralität auch kaum Grenzen gesetzt.

Bleibt damit nur eine "ökologische Modernisierung", deren durch technische Effizienzsteigerung erzielte Modernisierungsgewinne aber tendenziell durch die mitlaufende, häufig auch kompensatorische Entgrenzung von Bedürfnissen und Anspruchshaltungen aufgefressen werden? Sicher gibt es zeitweilige Grenzen ausufernder Bedürfnisse, wo Technikanwendung an immanente Schranken (begrenzte Ressourcen, Konflikte mit anderen Bedürfnissen, usw.) stößt, Modernisierungsgewinne also durch nichtgewollte Modernisierungsfolgen aufgehoben werden.

Solange das kulturell vorgegebene Modell eines individuell sinnvoll erlebten Lebens auf Kriterien der Selbstentfaltung und der Erlebnismaximierung basiert, ist aber kein Ausstieg aus der sozialen Bedürfnisspirale absehbar. Denn Bedürfnisse sind durch den Wahrnehmungshorizont bestehender Befriedigungsoptionen vorgeprägt und folgen einem Gesetz relativer Deprivation: Subjektiv empfundene Anrechte auf gesellschaftliche Belohnungen sind stets an einer Bezugsgruppe orientiert, die meist sozioökonomisch über der Gruppe liegt, der man angehört. Leitbilder, wie "Gut leben statt viel haben", sind - als Wunschgedanken, nicht als Verhaltenswirklichkeit - nur für die "grünen" Mittelschichten attraktiv, bei Beziehern von Kleinrenten, Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld und insbesondere bei Jugendlichen aus der Unterschicht erzeugen solche Ideale eher Abwehrreaktionen, weil sie von diesen Personengruppen als Einengung ihrer Selbstverwirklichungsmöglichkeiten begriffen werden müssen. Gleichwohl belegen empirische Untersuchungen keinen signifikanten Zusammenhang zwischen umweltbezogenen Einstellungen und soziodemographischen Daten. Die genannten umweltorientierten Praktiken insbesondere der postmaterialistischen Innovationseliten der Mittelschicht sind also wesentlich Folge einer tatsächlich gegebenen oder sich selbst zugeschriebenen Handlungskompetenz, einstellungsgemäß zu handeln. Wäre es somit nicht sinnvoller, die Verwirklichungschancen unterschiedlicher Lebensmodelle zu verbessern, statt einen spezifischen Lifestyle als "gut" auszuzeichnen?

Natur - eine Frage der Ethik?

Alle Versuche, in einer pluralistischen Gesellschaft allgemeine Gültigkeit beanspruchende ökologische Werthaltungen zu begründen und Umweltschutzziele durch moralisierende Forderungen, Abgrenzungen und Wertungen zu befördern, unterliegen offensichtlich den beschriebenen sozialpsychologischen Einflüssen.

Lassen sich unter ethischen Gesichtspunkten zu umweltrelevanten Problemstellungen damit überhaupt noch Aussagen aus einer Position treffen, die die sozialwissenschaftlichen Einsichten über Individualisierung, funktionale Differenzierung und kulturelle Pluralisierung sowie die Kritik der postmodernen Philosophie am Identitätsdenken ernstnimmt und eine ethische Reflexion über Natur nicht auf das "Gutmenschentum" jener Umweltschützer reduziert, die ihre Vorstellungen von Natur und "gutem Leben" gegenüber anderen Interessen, Notwendigkeiten und Rationalitäten absolut setzen?

Das Auseinanderfallen von ökologischer Einsicht und faktischem Handeln und die unterschiedlichen Deutungen dessen, was ökologisch sinnvoll sei, wurzeln in multiplen Präferenzen sozialer Akteure, die, in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen agierend, unterschiedlichen Kontexten und Rationalitäten folgen müssen. Menschen besitzen nicht einfach ein festgefügtes Interesse (oder Desinteresse) gegenüber Umweltthemen, sondern zwischen dem Staatsbürger, dem Arbeitnehmer, dem Konsumenten und dem Freizeitakteur innerhalb jeder Person fallen ökologische Problemdeutungen und Präferenzenauseinander. Inwieweit Umweltschutz ein anstrebenswertes und handlungsbestimmendes Ziel ist, entzieht sich solchermaßen der völligen Kontrolle der Handelnden und wird durch die jeweilige Logik der Situation" mitbestimmt.

Vielleicht noch entscheidender ist, daß sich im Interesse an ökologischen und sozialen Themen auch eine, der modernen Lebensweise immanente Ambivalenz rivalisierender Welt- und Selbstbilder zeigt: Auf der einen Seite die Idee einer radikalen Kulturautonomie und eines menschlichen Selbstverständnisses, das sich allein aus seiner Immanenz heraus begreift und letztlich auf ein Ende der Natur zugunsten eines anthropozentrisch-zweckrationalen Technosystems abzielt, auf der anderen Seite ein Selbstverständnis, das sich in eine Natur eingebunden wähnt und durch eine in diesem Sinne heteronome Bestimmung des Menschen geprägt ist. Für das moderne Naturverständnis ist diese Entzweiung und Widersprüchlichkeit konstitutiv. Schon Kant, Fichte und Hegel setzten einer wissenschaftlich-technischen ermöglichten, universalen Herrschaft der Menschen über die Natur ein ästhetisches Naturerleben als Grenze und Korrektiv technischer Naturbeherrschung entgegen. Diese, aktuell in der Sorge um blutende Wale, schwindende Tropenwälder oder einem atomar verseuchten Polynesien diskutierte ästhetische Dimension von Natur, ja, sogar das Gefühl einer ethisch-moralischen Verpflichtung ihr gegenüber, kann nur auf dem Boden einer fortschreitenden technischen Beherrschung der Natur und der so eröffneten individuellen Freiheit freigesetzt werden. "Ökologisches Bewußtsein" in all seinen Facetten setzt Naturzerstörung und die damit einhergehende Erfahrung von Handlungsunsicherheiten und eines Kontrollverlustes voraus. Über die gesellschaftliche Wahrnehmung des ökologischen Gedankens entscheiden also nicht nur soziale Machtverhältnisse, sondern die Abwägung zwischen Umweltschutz und anderen Zielen stellt einen Prioritätenkonflikt in den Köpfen und Herzen der Menschen dar.

Zur postökologischen Wahrnehmung von Natur

Mit dem Abflauen der Ökologiediskussion kristallisieren sich Naturverständnisse heraus, die sich von der ökologischen Naturästhetisierung und früheren romantischen Naturerfahrungen abheben. Konnte sich das ökologische Naturverständnis entweder als Gegenvision zur wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung oder zumindest als deren Korrektiv verstehen, so sind die sich abzeichnenden postökologischen Naturdeutungen durch die Erfahrung eines Scheiterns einer technisch vollständig gelingenden Naturbeherrschung und des gleichzeitigen Unglaubwürdigwerdens eines ästhetisierenden Gegenbildes ("Zurück zur Natur") zur technologischen Zivilisation geprägt.

Technik löst Natur aneignend, assimillierend und rekonstruierend auf, die Differenz zwischen Natur und Technik vermischt. Technik dient nicht mehr einfach dem Ziel menschlicher Selbstbestimmung durch eine zunehmende Beherrschung der Natur, sondern sie verselbständigt sich und schafft sich eigene Zwecke: Die Optimierung vorhandener Techniken, die zunehmende Verlagerung technischer Innovationen in Richtung auf die Verhinderung negativ empfundener Technikfolgen und die Eingrenzung ihrer absehbaren Risiken bilden wesentliche Ziele der Technikentwicklung. Direkte oder indirekte Folgen der Technik, wie das Schwinden der Energie- und Rohstoffreserven, Klimaveränderungen oder die weltweite Bevölkerungszunahme gelten längst als die bestimmende technische Herausforderung der Zukunft.

Braucht der Mensch die Natur?

Ökologisch-romantische und postökologische Naturdeutungen, aber auch Gleichgültigkeit und das Gefühl der Fremdheit gegenüber der Natur bestehen in den westlichen Gegenwartsgesellschaften nebeneinander. Wieviel Pluralität hinsichtlich der Naturbilder, die immer auch menschliche Selbstverständnisse sind, kann sich eine Gesellschaft leisten, ohne in die Anomie allgemeiner Sprachlosigkeit zu verfallen? Muß andererseits nicht jede ökologische Ethik diese Pluralität der Vorstellungen vom Wert der Natur leugnen?

Nicht nur die soziologische Systemtheorie, sondern auch ernüchternde Erfahrungen anderer ethisch-moralischer Konjunkturen, etwa jener die abrüstungspolitische Diskussion der achtziger Jahre begleitenden Debatte um eine "Nuklearethik", zeigen, daß moralisch inspirierte Antworten nicht zu Lösungen einer höherstufigen Rationalität führen müssen, die verschiedene Teilrationalitäten sinnvoll integriert. Statt zu moralisieren, dürfte es vielfach wirkungsvoller sein, den je sozialmilieuspezifischen Wert von Umwelt in die "Sprachen" der Politik und der Wirtschaft zu übersetzen. Für ein solches politisches Anliegen mag in bestimmten Situationen auch ein Moralisieren hilfreich sein; wirkungsvoller scheint aber allemal eine innovative und geschickte Umgehensweise mit den politischen Implantationsformen solcher Umorientierungen, wie der Alternierung oder der Umdefinition von Problemen, die Verkopplung politischer Handlungsziele und so fort.

Unter ethischen Gesichtspunkten erörterungsbedürftig und nicht auf solche Mechanismen regulativer Politik reduzierbar bleiben die Wirkungen von Naturveränderungen auf andere Menschen und Lebewesen. Rücksichtnahmen auf die Natur lassen sich mit der Fürsorge gegenüber anderen Menschen begründen, denen Natur erhalten bleiben soll. Mit einer Ethik, in der die Natur selbst Gegenstand der Fürsorge werden könnte, tun sich die (moderne) ethische Theorie und unsere Moralvorstellungen hingegen sehr schwer, weil sie stets menschliche Interessen ins Zentrum rücken. Doch die modernen und postmodernen Naturdeutungen enthalten auch ein Moment der Relationalität, das sich nicht in Instrumentalität erschöpft. Ohne einen menschlichen Beobachter besitzt Natur keinen Sinn, gleichzeitig ist die Naturbeziehung des Menschen aber der Grund, von dem aus erst Sinn geschaffen werden kann. Die Erfahrung, von etwas, das anders ist als ich, eröffnet erst jenen Raum, in dem das eigene Leben als sinnvoll erlebbar wird. Diese Natur hinter der Pluralität kultureller Naturapperzeptionen ist die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Selbstbestimmung. Ein Leben ohne die Erfahrung dieser "Natürlichkeit der Natur" (Martin Heidegger) wäre sinnlos.

Selbstinszenierung - ein Spiel ohne Grenzen?

Eine Naturethik als Ethik der Beziehung zu jener für unser Selbstverständnis konstitutiven Andersheit bildet ein Korrektiv zur Herrschafts-Perspektive auf die Natur. Worin ein "gemäßes" Verhalten zur Natur liegt, wird freilich nicht nur in jeder historischen Situation neu zu entscheiden sein, sondern es besteht stets eine Pluralität von Antworten. Auch einander kraß widersprechende moralische Antworten etwa bei der Bewertung der Atom- oder der Gentechnologie können Ausdruck der gleichen Verantwortlichkeit sein. Eine bloße individuelle Verfügung über die Natur kann aber nicht den einzigen Maßstab von Verantwortung bilden. Denn auch in einer Welt, deren Ozonschicht zerbröselt und wo globale Klimaveränderungen ganze Regionen entvölkern, bleibt ein survival of the fittest möglich. Die ausgeprägte menschliche Präferenzadaptivität spricht zudem dafür, daß die verbleibenden Menschen sich an diesen kulturellen Traditionsbruch nicht nur passiv gewöhnen würden, sondern ihre Selbst- und Weltbilder, ihre Wünsche, Hoffnungen und Überzeugungen auch an eine, in den ökologischen worst-case-Szenarien eindringlich beschriebene Welt anpassen könnten. Eine Natur als Medium und als Grenze menschlicher Selbstverwirklichung begreifende Bioethik enthält damit auch einen Moment des Widerstandes gegen die Vereinseitigungen des modern-postmodernen Tanzes um das goldene Ego, sofern diese Selbstinszenierungen die Bindung an und Verantwortlichkeit gegenüber Andersheit ignorieren. Damit widerspricht sie der Rede von der postmodernen Beliebigkeit und Verantwortungslosigkeit ebenso wie der allzu optimistischen Hoffnung eines Anthony Giddens auf einen sozialen Automatismus des Reflexivwerdens der Spätmoderne, wonach mit erweiterten Handlungsoptionen auch eine verbesserte Sicht auf Handlungsfolgen und eine Stärkung individueller und kollektiver Verantwortlichkeiten einhergehe.

Moralpsychologisch unumstritten ist die Fähigkeit zur Verantwortlichkeit gegenüber Andersheit an deren Sichtbarkeit gebunden. Nur da, wo uns Natur gegenübersteht oder durch die Bilder und die Berichte der Medien nahegebracht wird, spüren wir eine ethische Verpflichtung. In der wissenschaftlich-technischen Welt wird uns in einem Andersheit in historisch unbekanntem Maße nahegebracht, zugleich aber auch durch vielfältige soziale Mechanismen die Möglichkeit eröffnet, der Verantwortung zugunsten einer Ego-Fixierung zu entfliehen. In dieser Situation an der Beziehung zum Gegenüber (sei es der Mitmensch, ein anderes Lebewesen oder die unbelebte Natur) und der damit verbundenen Verantwortlichkeit festzuhalten ist schwieriger, als sich von den durch soziale Stereotype bestimmten Strategien der Selbstinszenierung bestimmen zu lassen. Denn eine als Verantwortlichkeit begriffene Autonomie besitzt ein hohes Frustrationsrisiko. Wer sich der Verantwortung entzieht, vermeidet zunächst einmal Anstrengungen und Entbehrungen. Doch solche Ego-fixierte "Leichtigkeit des Seins" ist auf Dauer unerträglich, weil die erhoffte Selbstfindung und Sinnstiftung nicht in der Immanenz des Ego zu finden ist; entgrenzte Selbstinszenierungsstrategien scheitern an den Grenzen des Lebens, an der Eingewobenheit in eine vorgegebene Umwelt, am Zufall der Geburt, am Faktum der Sterblichkeit, an Krankheit und Verfall sowie an dem damit unvermeidlichen Mißlingen vieler unserer Pläne und Selbstverwirklichungswünsche.

Das wirkmächtige Ideal eines entgrenzten, experimentellen Verständnisses von Selbstverwirklichung findet in diesen "Grenzerfahrungen" und der ethischen Verpflichtung gegenüber Andersheit seine Schranken, denn die Spielräume menschlicher Selbstverwirklichung und Freiheit bestimmen sich - wie jedes Spiel - von ihren Grenzen und Regeln her.

Die sichtbar gewordenen Folgen von Tschernobyl, industrialisierter Landwirtschaft oder Ressourcenvergeudung sind Lehrmeister dieser kulturellen Umorientierung, indem sie die Rückkehr der Erfahrung von Vergänglichkeit, Tod und beständiger Gefährdung in unseren Alltag bewirken. Eine in der ethischen Beziehung zum Anderen fundierte Bio-Ethik kann also weder auf einen Wertewandel noch auf ein epochales Umdenken hoffen, sondern setzt auf ein "Weiter so" der Ambivalenz des modernen und postmodernen Naturverständnisses. Nur inmitten weiterer technischer Naturbearbeitung kann sich eine ethische Verpflichtung und Verantwortung gegenüber Natur ereignen. Das Erproben dieser Situation gemäßer Handlungsspielräume findet wesentlich in den neuen Sphären des Politischen außerhalb des Politikbetriebes statt, im Richtungsstreit innerhalb der gesellschaftlichen Funktionssysteme von Wirtschaft, Justiz oder Bildung, in den symbolischen Debatten der medienvermittelten Öffentlichkeit und im lebenspraktischen Sichauseinandersetzen mit Grenzerfahrungen.

Eine Ethik der Selbstbeschränkung kann nicht allein durch staatspolitisches Handeln und institutionelle Reformen erreicht werden, da diese immer spezifischen Handlungslogiken folgen. Gerade Parteipolitik ist - nach den Kriterien des Politikbetriebs - um so erfolgreicher, je weniger sie die immanenten Widersprüchlichkeiten und Grenzen der lebenskulturellen Modelle ihrer Klientel bearbeitet.