Risiken und Irrwege

Das Staatsprojekt "Human-Genomforschung"

Winfried Wessoleck

Seit Beginn der achtziger Jahre bilden die anwendungsfähigen Biowissenschaften, Reproduktions- und Gentechniken, die heute in der internationalen Human-Genomforschung kulminieren, ein brisantes, umkämpftes Forschungs-/Politikfeld.(1) Seine technologiepolitische "Karriere" im politischen System der BRD begann vor etwa zehn Jahren unter dem eher harmlos klingenden Titel "Chancen und Risiken der Gentechnologie". Die gleichnamige Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, die 1984 auf Antrag der Fraktion Die Grünen einberufen wurde, veröffentlichte 1987 ihren 400seitigen Abschlußbericht (kurz GEN-Enquete).(2) Die Reproduktions- und Gentechnologien wurden als "technologisch unaufhaltsam, chancenreich und politisch verantwortbar" bewertet. Die hochwogenden öffentlichen Gentechnologie-Kontroversen(3) konnten so unter Verweis auf die materialreichen Fleißdarstellungen, Analysen und Empfehlungen der GEN-Enquete beschwichtigt, technizistisch verengt, teilweise neutralisiert werden. Gegenüber einer große Koalition der Befürworter der Gentechnologie entwickelten die Grünen ein qualifiziertes Alternativkonzept, das als "Sondervotum" in die GEN-Enquete aufgenommen wurde. Für die Kritik und Beurteilung der heute fortgeschrittenen Humman-Genomforschungen ist es nach wie vor aktuell (siehe Enquete-Kommission 1987: 314-357).

Die Abwägung von "Risiken" ist nur eine lästige Pflichtübung der staatlich gelenkten Durchsetzungsprogramme der entwickelten Gen- und Reproduktionstechniken. Das jetzt aufgelegte "Human-Genomforschungs-Projekts" spricht sonnenklar für die Kontinuität und Ausweitung eines hochriskanten, eher wahnhaften humangenetischen Technologieprojekts. In seinem Zentrum steht die beschleunigte Bemächtigung und pharmaindustrielle Produktionsverwendung der Bio- und Human-Gentechniken, insbesondere aber die Erforschung/Darstellung des menschlichen Genoms(4), die wiederum im globalen Forschungszusammenhang der Human Genome Organization steht (kurz HUGO genannt).

Diese weltweite HUGO-Dachorganisation wurde 1988 auf Anregung und Initiative des bekannten US-Genetikers und Nobelpreisträgers James Watson in den USA gegründet. In der BRD wurde bis 1995 an 23 Instituten zum europäischen Teilprojekt "Programm zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms" geforscht (instruktiv: Linde Peters 1995: 6-11). Das Staatsinteresse am menschlichen Genom, das die HUGO-Forschungsstrategie legitimiert, ist aber wesentlich differenzierter angelegt. Es äußert sich als gesundheitspolitische GEN-Ideologie, in rechtlich-ethischen Anpassungen des "GEN-Staates".(5) Auf den Funktionsebenen des Staatssystems (Recht, Umwelt- und Gesundheitspolitik) kann dann die technikpositivistische Trinität, HUGO-Organisation, GEN-Wissenschaft, Pharma-/Chemiekapital, ihren humangenetischen "Erkenntnis- und Eingriffshunger", als angebliche biomedizinische Heils- und Therapieversprechen, vor dem öffentlichen Publikum ausbreiten.

Derweil etablieren sich (verstärkt seit den 80er Jahren) in der politischen Öffentlichkeit, Publizistik und Wissenschaftsszene biologistische Semantiken und neodarwinistische Pseudophilosophien. Der biologische GEN-Determinismus zieht seine "erklärenden" Kreise und personifizierten Einflüsse bis in die Entwicklungspsychologie, Behindertenpädagogik und die Psychiatrie. Hier sind es die "wiederentdeckten" Gene, die menschliche Intelligenz, Persönlichkeitseigenschaften, Krankheitsursachen, selbst sogenanntes abweichendes und kriminelles Verhalten etc. (am besten gleich bei der Vereinigung von Ei und Samenzelle) "vorprogrammieren, erblich-naturhaft festlegen" sollen (kritisch-alternativ: vgl. R. Hohlfeld, W. Jantzen in AS 175).

Besonderes Augenmerk verdienen die Gentechnologien und HUGO-Forschungen im Hinblick auf ihre möglichen Versuche/Anwendungen als diagnostische Mittel und Methoden einer "genetischen Gesundheitsdefinition" von ArbeiterInnen und Betriebsbelegschaften in Industrie- und Gewerbebetrieben. Gerade in den Bereichen der arbeitsmedizinischen Krankheiten, Human- und Arbeitsplatztoxikologie erhalten die "präventiven Gentechniken" eine besonders ausgeprägte, brisante medizinische Tendenz und Ambivalenz. Denn mit Untersuchung der biogenetischen Konstitution der jeweiligen Arbeitskraft, die seine individualgenetische "Krankheitsanfälligkeit"/Gesundheit, Schadstoff-Sensibilität, Stoffwechsel- und Entgiftungseigenschaft einbezieht/kontrolliert, wird in der Folge das humangenetisch transparente Arbeitsindividuum geschaffen. Das biotoxikologische Belastungsprofil der jeweiligen Arbeitskraft ist dann für Unternehmungen, Personalleiter und Betriebsärzte ein zentrales Entscheidungskriterium, um ArbeiterInnen das Arbeiten an schadstoffbelasteten und/oder streßauslösenden Arbeitsplätzen "zu erlauben" oder zu verweigern. Alle Risiken (Arbeitsplatzverlust, "gläserne" Gesundheit, Inkaufnahme einer Gesundheitsschädigung/Berufskrankheit) liegen auf seiten der lohnabhängigen Arbeitskraft. Die Gentechnologie liefert hier das methodische Instrumentarium, um die steil ansteigenden-Schadstoffkurven der Produktionsindustrien, an Arbeitsplätzen, in allen Umweltbereichen, als ein individuelles ökogenetisches Schädigungsrisiko einfach wegzudefinieren (vgl. M. Thurau 1989).

Damit sind einige Aspekte und Leitorientierungen angerissen, die eine erste Annäherung an das noch ignorierte, teils unverstandene oder mit illusionären "Hoffnungen" bedachte Staatsprojekt "Human-Genomforschung" abgeben.

Die staatliche "Freisetzung" des HUGO-Projekts

Im Juni 1995 hatte der "neue Zukunftsminister" Jürgen Rüttgers seinen ersten großen Auftritt zur Ankündigung des "nationalen Human-Genomforschungs-Projekts".(6) Von der CDU/CSU und ihrem HUGO-Minister Rüttgers als "Zukunftstechnologie" propagiert, ist das staatlich gelenkte HUGO-Projekt der deutsche Beitrag zur europäischen und globalen Human Genome Organization. Sie wird angeführt von GEN-Wissenschaftlern, Instituten und Klinikzentren in den USA, Japan, Großbritannien und Frankreich. Dieser multinationale Forschungsverbund in den führenden industriekapitalistischen Staaten lenkt und koordiniert die nationalen HUGO-Teilprojekte, die sich als besonders forschungs- und zeitintensiv erweisen. Er regt Forschungsschwerpunkte an, regelt den Wissenstransfer und die Kommunikation der nationalen Forschergruppen. Obwohl diese HUGO-Forschungen und Teilprojekte außerhalb, teilweise unabhängig von der Pharmaindustrie stattfinden, bringen sie basiswissenschaftliche, instrumentelle und produktionsspezifische Erkenntnisse/Resultate hervor, die von dieser dann angeeignet und vermarktet werden. Das trifft für den Verkauf von GEN-Patenten, GEN-Diagnosemitteln, die Herstellungsverfahren gentechnologisch produzierter Medikamente, die Entwicklung gentechnischen Laborgerätes etc. zu.

Rüttgers und das wissenschaftliche GEN-Patriarchat treten jetzt an, den - wie sie sagen - "hohen Leistungsstand" der forschenden Biowissenschaften in der BRD nun als biowissenschaftliches "Innovationspotential für Anwendungen in Medizin, Landwirtschaft und Industrie" einzusetzen. Dabei hat der "Zukunftsminister" Großes im Sinn: "Der ausländische Vorsprung sei einzuholen, mit der nationalen HUGO-Initiative Deutschland wieder die Spitzenstellung in Medizin und Pharmazeutik einnehmen." Solches pharmamedizinisches Olympionikentum, das übrigens gerade in Deutschland eine unrühmliche Tradition hat, wird bei Kapitaleignern und Managern der "heimischen" Pharma- und Chemiegiganten zweifelsohne rauschenden Beifall finden.

Nicht zu übersehen ist, daß - am Beispiel des staatlichen HUGO-Projekts - die linke "Deregulierungsdebatte" zum neokonservativen Abbau staatlicher Wirtschaftsregulation differenzierter und "empirischer" als bisher zu führen ist (vgl. F. Deppe 1995). Wer bisher vorschnell oder gar deregulationsgläubig annahm, die "anti-etatistischen" Neokonservativen betrieben eine durchgängige "Entstaatlichung" der Gesellschaft/ Wirtschaft, dem ist unter anderem ihre treibhausmäßige HUGO-Gesamtkonzpetion, die ein Formierungselement biomedizinischer Gesellschaftsplanung ist, entgegenzuhalten. Die genstaatlichen Steuerungsbedingungen und Auswirkungen des HUGO-Projekts bewirken und begrenzen Fragestellungen, Forschungsstrategien und spezifische Sichtweisen, die letztlich allesamt in ihrem reduktionistischen wie forschungstechnischen Objektverständnis auf die versuchte "Entschlüsselung" der komplexesten mikrobiologischen Selbstorganisationseinheit, das menschliche Genom, abzielen. Damit ist das politbiologische Kernproblem des gesamten HUGO-Komplexes angesprochen.

Die Erforschung und Darstellung des menschlichen Genoms ist ein mikrobiologisch-chemischer Hyperreduktionismus, der das menschliche Individuum (Erscheinung, Persönlichkeit, Individualität, Sozialität des Menschen) durch die Anordnung/Funktionalität seiner Gene (ca. 50.000 bis 100.000) in den Nukleinsäuren (DNA/RNA) des Zellkerns determiniert. Es ist dieser gentechnologische Biologismus und Hyperreduktionismus, seine bekannten, möglichen und noch ungeahnten Analysen, Erkenntnisse und Manipulationen des menschlichen Genoms, der die Gesamtheit der Gentechnologien und globalen HUGO-Forschungen - nicht erst seit heute - zu einem unumkehrbaren biologisch-ethischen Politikum macht. Wie keine anderen forschenden und produktiven Technologien (mit Ausnahme der Atomtechnologie/Chemieproduktion) tangieren und infiltrieren die Gen-/Reproduktionstechnologien die innere Menschen- und außermenschliche Natur (als wechselwirkende Einheit), die subjektspezifische Lebens- und Arbeitswelt, die Geschlechter- und Generationsbeziehungen (Reproduktionsverhalten, Kinderwunsch etc.), den medizinischen Begriff, den Behandlungsstatus von Gesundheit/Krankheit im Gesundheitssystem und die lebenspraktische Bedeutung/Normativität der Vergesellschaftungswirkungen von individueller Moral und GEN-Ethik. Auf den gesellschaftlichen Handlungs- und Kommunikationsebenen sind das sozialökologische Menschsein, die humanbiologische Körperintegrität/Gesundheit, die subjektiven Abwehr- und Persönlichkeitsrechte und das ethisch-normative Menschenbild im Visier der neokonservativen "Staatsgenetiker", des gesamten technologischen GEN-Patriarchats.

In der Tat sind die staatlichen Planungsparameter des deutschen HUGO-Projekts für den Bereich bio- und gentechnologischer Forschungsprogramme bislang einmalig. Ohne sie wäre ein solches - ohne Übertreibung gesagt: "biostaatliches Mammutprojekt", das spezielle biologische Fachdisziplinen, gentechnisches Methodenarsenal und adäquate EDV-/Datentechniken integriert, gar nicht planungsfähig, geschweige denn forschungspraktisch umsetzbar. Sein Zeitrahmen ist auf acht Jahre terminiert (1995 bis 2003). Für seine mittelfristige Finanzierung hat das Rüttgers Ministerium zunächst 200 Millionen DM bis 1999 im Etat veranschlagt. Der staatliche Anteil der HUGO-Forschungen soll insgesamt 400 Millionen Fördervolumen betragen. Darüber hinaus stellen die forschungsleitende Max-Planck-Gesellschaft (Berlin) und die "standortgeplagte" deutsche Pharmaindustrie Finanzmittel und Forschungskapazitäten in "unbekannter Höhe" zur Verfügung.

Die bisherigen (noch mehr die zukünftigen) HUGO-Forschungsausgaben erreichen schon heute Milliardensummen.(7) Die Frage der Bereitstellung und Verteilung der HUGO-Kosten, die für den staatlichen Forschungsetat, die GEN-Forscher, die exponierten "Aushängeprojekte" etc. besonders relevant/umkämpft sind, ist für eine Gesamtbeurteilung des HUGO-Komplexes im Zweifelsfall ein "sekundäres Kriterium". Es wäre auch ein fataler ökonomistischer Reduktionismus, anhand der vermeintlich "gering" erscheinenden HUGO-Finanzen die biowissenschaftliche, reproduktionstechnische und genmedizinische Bedeutung und Eingriffstiefe der HUGO-Gesamtkonzeption beurteilen zu wollen (siehe oben). In den Forschungs- und Anwendungsbereichen der Bio-/ Gentechniken und Humangenetik können mit relativ "geringen" Forschungsetats und Sachmitteln aber Resultate wie gentechnologisch veränderte Mikroorganismen (Bakterien/Viren), Pflanzen/Nahrungsmittel, Medikamente etc., erzielt werden. Außerhalb der Labors, der isolierten Schutzzonen rufen sie dann nach beabsichtigter oder unbeabsichtigter "Freisetzung" unkontrollierbare, nichtrückholbare Folgeschäden, Komplexsyndrome, Seuchen in der organischen Lebenswelt hervor. Die kausale Suche nach den Verantwortlichen, dem Ursprungs- und Ausbreitungsort endet meist mit Fehlanzeigen im wissenschaftlich-industriellen Dschungel der organisierten "Nichtzuständigkeiten" sowie Unverantwortlichkeiten.

In industriellen, klinischen und militärmedizinischen Forschungs- und "Geheim"-Labors werden systematische pharmakologische/toxikologische Menschen- und Tierversuche durchgeführt. Das Horrorprogramm dieser "Forscherspezies" umfaßt die Auslösung zellgenetischer Krebsformen, lebensbedrohlicher Stoffwechselstörungen, neurotoxikologischer Gehirnsyndrome, psychotoxikologischer Verhaltensänderungen und andere Versuchsreihen. Diese komprimierten Beispiele erhellen, daß die staatsindustriellen "Heils- und Therapie-Ankündigungent" der Bio- und Gentechnologien gerade keinen gesellschaftlichen "Preis" für bioethische/humanmedizinische Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit gewinnen können!

Das GEN-Patriarchat unter staatlicher Vereinigung

Unter dem staatsindustriellen HUGO-Dach hat sich, was ebenfalls ein forschungspolitisches Novum ist, ein hochkarätiger Forschungsverbund eingefunden: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG, Bonn), humangenetische Großforschungseinrichtungen, die genannte MPG, das BMBF/Bundesregierung, und Forschungs-/Entwicklungsprojekte der Pharmaindustrie. Damit hat sich eine genstaatliche Forschungs- und Machtkonzentration gebildet, die - wenn ich es recht sehe - im Rahmen der internationalen HUGO-Organisation einmalig ist. Die Forschungselite der Humangenetik in den Reihen der DFG und MPG haben nun in forschungsorganisatorischer "Feinabstimmung" mit den staatlichen GEN-Planern des BMBF (Rüttgers) die "klotzende", konkurrenzlose HUGO-Organisation durchgesetzt, mit der sie - trotz verbandlicher Querelen und Konkurrenzdünkel - immer schon geliebäugelt haben. Und den Kapitalmanagern und Forschungsstrategen der "heimischen" Pharmaindustrien ist die HUGO-Konzeption ein optimales "Staatsgeschenk": Der neokonservative Staat ist Garant und Träger eines industriegerechten Großprojekts, für dessen finanzielle Absicherung, bürokratische "Erfolgskontrolle" und ethisch-rechtliche Gesamtverantwortung er allein geradesteht. Die Pharmalobby ist ohnehin über ihre personellen Verbindungen zu den Verbandsspitzen der DFG/MPG (akademisch-industrielle Abhängigkeiten/ Einflußnahmen) und zur ministeriellen Bürokratie auf beinahe allen HUGO-Ebenen einflußhemmend präsent (vgl. R. Scheller in: M. Thurau 1989: 133-152).

Die pharmamedizinischen Ziele, die interdisziplinäre Forschungskonzentration und die offensive politische "Legitimierung" des HUGO-Gesamtprojekts zeigen in ihrem planerisch abgestimmten Ineinandergreifen, wie groß die - nie zu unterschätzende - technologiepolitische Integrations- und Wirkungsfähigkeit (Regulationsmächtigkeit) des Staatsapparates nach wie vor ist. Ihm gegenüber sind daher ethische/moralische Kritik und Alternativpraxen, als offensive demokratische Schutzaktivitäten des menschlichen Genoms, notwendig und geboten.(8) Sie sind und bleiben ein wesentliches Diskursmoment der Widerstandspraxis gegen das genstaatliche Patriarchat. Die praktische Ethik/Moral, das wissen wir seit I. Kants ethischer Morallehre, tritt als normativer Kanon ethischer Regulationsnormen menschlicher Handlungen auf. Er oszilliert beständig zwischen individuellem/gesellschaftlichem Sein und ethischem Sollen (Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?), wie sein begrifflicher Normenkanon zwischen gut/böse, verantwortlich/unverantwortlich, Recht/Unrecht etc. dichotomisch und fließend hin und her pendelt. Der desillusionierenden These Ulrich Becks von der "Ethik, die in der Risikogesellschaft die Funktion einer Fahrradbremse am Intercontinental-Flugzeug eingenommen hat" ist hier nicht zuzustimmen. Wie notwendig, ja normativ orientierend gerade die aktuelle GEN-Ethik-Debatte,ist, das zeigen die rechtsethischen Begrenzungen/Verbote, wie auch die strafrechtlichen Sanktionen, von Eingriffen in die menschliche Keimbahn (das menschliche Erbgut), einer "gentechnischen Menschenzüchtung" und einer gentechnologischen Überschreitung der biologischen Artgrenzen (Züchtung sogenannter Chimären).

Eine vergesellschaftete GEN-Ethik, verbunden mit einer biologischen Verantwortungs- und Zukunftsethik (H. Jonas), ist und bleibt ein ethisch-regulativer Kritikmaßstab und Grundwertekanon, der angesichts der eingeleiteten Human-Genomforschungen an sozialer, evolutionsbiologischer und ökologischer Relevanz weiter zugenommen hat. HUGO-Minister Rüttgers und seine Planungsstäbe haben die Bedeutungszunahme Gen-ethischer Kritiken und Alternativen des HUGO-Projekts wohl erkannt. Seine öffentlichen Beschwichtigungsformeln wie "Beschreiten eines neuen förderpolitischen Wegs", "kontrollierte Wissenszunahme des menschlichen Genoms" und die "Klärung gemeinsamer Werte gentechnologischer Eingriffe" sind nichts als Abschirmrhetorik des genstaatlichen Leviathans. Sie stehen auch in einem unglaubwürdigen Kontrast zum realen Geschehen auf der globalen HUGO-Bühne: Die relevanten Gründe für diesen "neuen Förderweg" liegen hingegen in dem rücksichtslosen internationalen Konkurrenzkampf und Forschungsdruck, der um die schon wahnhaft wirkenden "Spitzenleistungen" in der globalen HUGO-Forschung entbrannt ist. Verschiedene nationale Forscherteams, klinische Genspezialisten und natürlich Pharmamultis (vornehmlich in den USA, ebenso in Europa) praktizieren knallharte Forschungskonkurrenz, jagen nach Testpersonen, seltenen Erbkrankheiten, klinischen Untersuchungspopulationen (gemeint sind Patienten), GEN-Patenten etc. rund um den Erdball. In dieser internationalen Arena der herrschaftssüchtigen "Human-Genomforschung agiert weitgehend unangefochten das gentechnologische Forscherpatriarchat. Es ist angetreten, um den genetisch differierenden/einmaligen Menschen, der globalen Menschengattung insgesamt, ihr letztes humanbiologisches Geheimnis, das ihrer genomspezifischen Körperindividualität und Expressivität, zu entreißen.

Der Alptraum vom gentechnologischen Endsieg

Der genannte US-Genetiker J. Watson hat 1989 (das Jahr globalpolitischer Umbrüche) den Zeithorizont für die internationale Humangenomforschung "abgesteckt". Geht es nach seiner Zwangsvision, so soll bis zum Jahr 2005 das menschliche Genom "vollständig kartiert und sequenziert" sein. Das ist nicht nur eklatant fragwürdig (forschungsimmanent), hier greift exponierter patriarchalischer Forscherwahn um sich. Eine rationale Vergegenwärtigung und Kritik der globalen HUGO-Forschung, deren Ziele und Konzepte weiterhin umstritten sind, rät prinzipiell zu einer anwendungsrestriktiven, wenn überhaupt, gesellschaftlich legitimierten HU-GO-Forschung.

Das menschliche Genom, die Gesamtheit der Gene und Erbinformation im Zellkern, umfaßt vermutlich 50.000 bis 100.000 Gene/Proteine. Die genaue Zahl der menschlichen Gene ist im übrigen noch unbekannt. Die vollständige Darstellung der biochemischen Basensequenz, der chemischen DNA-"Bausteine" Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, würde eine Bibliothek von 1000 Büchern je 1000 Seiten füllen (eine unvorstellbare, noch weniger "erklärbare" DNA-Kette). Bei der Aufschlüsselung von DNA-Basensequenzen fallen naturgemäß wahre Datenberge an, die dann nochmals je nach Auswahl des spezifischen DNA-Mikroabschnitts völlig differieren. Bis heute forschen Humangenetiker an kleinsten DNA-Ausschnitten der überdimensionierten "GEN-Bibliothek". Neben der gezielten Suche bestimmter Gene und der von ihnen codierten Genprodukte, wie Stoffwechseleigenschaften, phänotypischer Merkmale und Erbkrankheiten des individuellen Genträgers, spielt der reine Zufall bei der Entdeckung und Funktionsanalyse mancher Gene eine bedeutende Rolle. Wer die Gene von etwa 3000 angenommenen Erbkrankheiten auf chromosomaler Defektebene aufzufinden vorgibt, der könnte seine genpathologische Euphorie schnell wieder verlieren. Denn bislang sind die genetischen Ursachen von vier (einigen weiteren) monogenen Erbkrankheiten ziemlich sicher bekannt. Es handelt sich um die Krankheiten der zystischen Fibrose, Sichelzellenanämie, Hämophilie und Muskeldystrophie.

Das deutsche HUGO-Projekt greift gleich nach den Sternen, denn es möchte die Ursachen "solcher weitverbreiteter Krankheiten wie Herz- und Kreislaufkrankheiten, Krebs, psychischer und altersbedingter Erkrankungen sowie aller identifizierten Erbkrankheiten" im menschlichen Genom auffinden. Damit kündigen sich konzeptionelle Leitgedanken einer molekularen Medizin an, die einen "revolutionären Sprung" im Kernverständnis vieler Krankheiten, ihrer (un-)möglichen Diagnosen, Behandlung und Therapie, bedeuten könnte. Offensichtlich setzen die Humangenetiker und ihre staatsindustriellen "Sponsoren" auf einen "Paradigmawechsel" in der Medizin, der Pharmakologie, des naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriffs überhaupt. Was damit an genmedizinischem Reduktionismus, humangenetisch aufgeputztem Neodarwinismus aufscheint, kann und wird der gesellschaftsweite Auftakt zu einer gentechnologischen "Reparaturmedizin" in einem entsprechend umgebauten Gesundheitssystem sein.

Eine Reihe handfester Indizien und konkreter Prinzipien des HUGO-Programms erhärten diese Befürchtungen: Die staatlich gelenkte Humangenomforschung zentriert sich beinahe zwanghaft auf den medizinisch- klinischen und besonders pharmaindustriellen Anwendungsbezug. Ihre systemhafte Wissenschaftsintegration, ihre hochdifferenzierte Forschungsinfrastruktur und die Bildung/Auswahl der GEN-Forschergruppen werden explizit den normativen/faktischen Transfer- und Verwertungszwecken des medizinisch-industriellen Komplexes untergeordnet. Unverblümt wird der genstaatsindustrielle Schulterschluß im HUGO-Konzept benannt: "Diese Organisationsform ist insbesondere dafür geeignet, das Zusammengehen und die multidisziplinäre Zusammenarbeit von Forschern aus der Industrie und aus der akademischen Forschung zu befördern." (BMBF 1995: 12) Die neokonservativen GEN-Ideologen projektieren innerhalb der gentechnologischen Trinität (GEN-Staat, GEN-/Biowissenschaften, Pharma-/Chemiekapital) einen neuartigen Regulationstyp staatlicher Forschungsprogrammierung.

Die gesamte HUGO-Organisation, ihre strukturelle, hierarchisch-funktionelle Konstruktion und personelle Besetzung ist ein detailliertes Abbild dafür, daß der "GEN-Staat" auf ökonomische Forschungseffizienz, strikte Systemorganisation und bürokratische Kontrolle der HUGO-Ergebnisse baut. Um das zu gewährleisten werden drei "förderpolitische Steuergremien" eingerichtet:

1. Ein Koordinierungsausschuß: Er umfaßt sieben Mitglieder, darunter Industrievertreter, und trifft alleförderpolitischen Grundsatzentscheidungen, wie Projektziel-Definition, Verteilung der Forschungsgelder, Berufung von Gremienmitgliedern. 2. Ein wissenschaftlicher Beirat, vom BMBF berufen, umfaßt "13 prominente in- und ausländische Wissenschaftler" (alles vorbehaltlose HUGO-Anhänger), die bereits für den Zeitraum von 1995 bis 1997 berufen worden sind. Dieser Beirat nimmt die Schlüsselstellung der deutschen HUGO-Forschung ein, da er für die wissenschaftliche Strategie und Umsetzung des Gesamtkonzepts verantwortlich ist. 3. Ein wissenschaftliches Koordinierungs-Komitee (fünf Fachwissenschaftler) ist für das unmittelbare Projektmanagement zuständig. An seine Richtlinienkompetenz sind die nachgeordneten selbständigen Arbeitsgruppen, das Ressourcenzentrum (DNA-Datenbanken, Auswertung der Projektarbeit, der Forschungsergebnisse) und die zentrale Forschungseinrichtung gebunden.

Damit haben sich die Wissenschaftsplaner der MPG und DFG eine optimale, "glänzende" HUGO-Organisation gegeben, um Rüttgers Zwangsvision von der "Welt-Spitzenstellung" deutscher Gentechnologie/ GEN-Pharmazeutik zum Durchbruch zu verhelfen.