Goebbels Propagandisten in der westdeutschen Nachkriegspresse

Peter Köpf

Ex-Nazis hatten keine Chance!" So lautete der wichtigste Satz im Mai-Heft 1995 des journalist. Der Deutsche Journalistenverband feierte etwas voreilig den 50. Geburtstag der neuen, freien, demokratischen Presse. Die Mär von der "Stunde Null" trugen die Jubilare auch in ihren eigenen Spalten wie ein Banner vor sich her: Die Zeit ließ zum 50. ihren Zeitläufte-Redakteur Karl-Heinz Janßen erklären, daß die ersten Herausgeber "eine reine Weste" gehabt hätten.(1) Die Süddeutsche Zeitung feiert noch immer den "ältesten aktiven Journalisten Deutschlands" in ihren Reihen, verschweigt dabei aber schamhaft dessen Aufsätze aus dem tausendjährigen Reich.

Deutschlands Journalisten, ansonsten (zu Recht) nicht gerade zimperlich bei der Aufdeckung der Nazivergangenheit von Angehörigen anderer Zünfte, verleugnen bis heute die Verstrickungen der Gründer der heutigen Presse: Vom Berliner Tagesspiegel bis zur Rheinischen Post, vom Hamburger Abendblatt bis zur Badischen Zeitung in Freiburg - unter den Augen der Besatzungsmächte traten die ehemaligen Schriftleiter Goebbels' nun an, die Westdeutschen das Einmaleins der Demokratie zu lehren, die sie wenig zuvor noch wortstark verabscheut hatten.

Es war gerade zwölf Jahre her, daß Theodor Heuss Berufsverbot erhalten hatte. Der Politiker hatte im Frühjahr 1933 sein Schicksal selbst besiegelt, indem er seine Stimme für das Ermächtigungsgesetz zur "Behebung der Not von Volk und Reich" abgab. Auch der Publizist Theodor Heuss, so ließ uns die Wissenschaft bisher wissen, habe unter den Nazis einem "offiziellen Schreibverbot" unterlegen. Der Berliner Zeitungswissenschaftler Harold Hurwitz kolportierte, der spätere Bundespräsident habe sich aber "als freier Schriftsteller durchschlagen können". Diese Behauptung ist falsch: Theodor Heuss schrieb noch in den letzten Kriegsmonaten unter seinem eigenen Namen, damals mit "ß" am Ende.

Lügen, Lücken, Listigkeiten zeichnen die Biographien fast aller Nachkriegsjournalisten aus. Von 1933 bis 1945 wollte hinterher keiner geschrieben haben, oder bestenfalls als Teil des sogenannten publizistischen Widerstands. Denn Goebbels' Propagandisten sollten in der neuen demokratischen Presse keine Chance erhalten. Gerade in der Presse, die die Alliierten für das Entstehen und das Fortbestehen des NS-Staates mitverantwortlich machten, sollten durch eine rigorose Entnazifizierung alle Steigbügelhalter der deutschen Faschisten entfernt werden. Eine Zeitungslizenz sollte nur an Deutsche vergeben werden, die als Anti- oder Nichtnazi bekannt waren und "nicht des kleinsten Kompromisses mit dem Nazi-Regime schuldig". Außerdem mußte der Antragsteller "ein erstklassiger Journalist oder Publizist gewesen sein" - selbstverständlich vor 1933. Heuss, jetzt mit "ss", erhielt eine dieser begehrten Lizenzen, in Heidelberg. Seine Zeitung: Die Rhein-Neckar-Zeitung (RNZ).

Alfred Toombs, US-Chief of Intelligence, unterstützte Heuss' Antrag nicht. "Indem er die Gewinne im Nazi-System akzeptierte, hat sich dieser Mann selbst bloßgestellt." Laut Fragebogen verdiente der spätere Bundespräsident 1933 rund 2.000 Reichsmark, 1935 das Doppelte, und 1944 schon 11.000 RM. Insbesondere die Honorare, die Heuss für seine Arbeit bei der Frankfurter Zeitung (FZ) erhalten hatte, waren Toombs ein Dorn im Auge. Die FZ gehörte zu einem großen Teil Carl Bosch, dem Vorstandsvorsitzenden der IG Farben und, wie Toombs richtig anmerkte, "Fabrikant für Kriegsmaterialien für die Nazis".

Für Redaktionspersonal aber galt laut Anhang B der Lizenzurkunde auch: Keiner durfte eingestellt werden, der noch nach 1935 bei Zeitungen oder Zeitschriften gearbeitet hat, keine Anstellung sollte auch erhalten, wer unter den Nazis seine wirtschaftliche oder gesellschaftliche Lage verbessert hatte.

Heuss hatte profitiert. Er leitete von 1933 bis 1936 die Zeitschrift Die Hilfe, schrieb in zahlreichen Tageszeitungen des Reichs und verfaßte einige Bücher. Er ist einer von mehr als 500 ehemaligen Schriftleitern und Publizisten des Dritten Reichs, die trotz der angestrebten strengen Entnazifizierung ihren Beruf in einer der 150 neuen Zeitungen der Westzonen fortsetzen konnten.(2) Überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus gründeten die demokratische Presse in allen Funktionen ebenso mit wie Opportunisten und solche, die den gescheiterten Versuch eines bescheidenen und unwirksamen publizistischen Widerstandes unternommen hatten. Eine "Stunde Null", wie von der Zeitungswissenschaft noch immer behauptet, fand auch in der Presse nicht statt.

Immerhin: Heuss gehörte unter den sich in der überwiegenden Mehrzahl rasch anpassenden Journalisten nicht zu den glühenden Anhängern des Naziregimes. Aber er publizierte bis zuletzt. Für den Umgang mit seinem Buch über den Politiker Friedrich Naumann verteilte Reichspressechef Otto Dietrich eigens eine Anweisung an die Korrespondenten der Reichspressekonferenz. Die Anweisung 129 besagte: "Das Naumann-Buch von dem früheren Abgeordneten Theodor Heuss kann durchaus positiv besprochen werden. Gegen das Buch bestehen keinerlei Bedenken. Es ist von der Partei geprüft worden. Beanstandungen waren nicht nötig. Der Verlag steht dem Prop.Min. nahe."

Keine Beanstandungen erfuhr Heuss auch wegen seiner Artikel. Das wundert nicht. Zwar führte Heuss nicht die bellende Sprache der überzeugten Nationalsozialisten in den Redaktionen, er war aber wie die meisten Deutschen Anhänger des großdeutschen Traums. Eine Woche vor dem Anschluß Österreichs meinte er, der deutsch-österreichische Streit sei stets auf das Habenkonto der Gegner gegangen. Jetzt würden Prag und Paris "sich daran gewöhnen müssen, statt eines Gegensatzes einen volks- und außenpolitischen Gleichklang der beiden deutschen Staaten in Rechnung zu setzen". Vier Wochen nach dem Einmarsch deutscher Soldaten in Wien schrieb er in der Neuen Freien Presse (Wien) über "Phasen des großdeutschen Gedankens" und "das Werden einer Nation". In der historischen Abhandlung beklagte er die "innere Lügenhaftigkeit der Verträge von Versailles und St. Germain". Aufatmend kommt er zum Schluß: "Der Spuk ist vorbei, Großdeutschland ersteht".

In den ersten Kriegsmonaten blieb Heuss ein distanzierter Beobachter. In der Hilfe sprach er nicht von "wir", sondern von "den Deutschen". 1940 allerdings, das Reich war inzwischen noch größer geworden, reklamierte Heuss einen "Führungsanspruch der Deutschen" in Europa, was unter den gegebenen Umständen geheißen hätte: Adolf Hitler avanciert vom Führer des Reichs zum Führer Europas.

Die von Hitler befohlene Umsiedlung von Zehntausenden Menschen nach den Eroberungen im Osten bezeichnete Heuss anerkennend als "eine Art von völkischer Flurbereinigung großen Stils". Durch sie seien "mögliche politische Schwierigkeiten der Zukunft behoben". Begleitet werde dies "von Entscheidungen, die den durch Menschenzahl, Leistung und Schulung gegebenen Führungsanspruch der Deutschen in einer europäischen Ordnung politisch festigen und wirtschaftlich intensivieren". Staats- und Völkerrechtlern empfahl er "für die Erweichung des harten Souveränitätsbegriffs ... eine elastische Begrifflichkeit zu finden". Heute nennt man solche "Umsiedlungen" in voller elastischer Begrifflichkeit "ethnische Säuberungen". Sie werden allgemein verurteilt.

Wenige Monate später, im April 1941, reihte sich Heuss verbal endgültig ein. Erstmals sprach er von "unseren Gegnern". Heuss' Artikel fanden sich in zahlreichen unpolitischen Zeitschriften, aber auch im Illustrierten Blatt, das Toombs als "merkwürdiges antiamerikanisches Blatt" beschrieb, das "starke Nazi-Tendenzen" aufwies. Titel-Beispiel: "Adolf Hitler, der die Sehnsucht der Deutschen erfüllte." Heuss erklärte nach 1945 lapidar, das Blatt nie gelesen haben.

Was aber am schwersten wiegt: Heuss schrieb Seite an Seite mit dem Propagandaminister. Für die Vorzeige-Wochenzeitung Das Reich verfaßte Goebbels stets den Leitartikel (Titelexempel: "Die Juden sind schuld!"). Es waren meist programmatische Texte, die politische Signale nach innen und auch nach außen setzten. Die Autoren und Schriftleiter des Blatts waren die Crème de la crème der nationalsozialistischen Einheitspresse. Mit ihnen schuf sich der Propagandaminister ein Blatt, das er auch im Ausland zeigen konnte und - ebenso wichtig - in dem er sich in angemessenem Rahmen zeigen konnte. Zum 45. Geburtstag gratulierte die Redaktion "Unser(em) Leitartikler" mit den Worten: "Hier ist kein Platz für eine Huldigung. Dazu steht Dr. Goebbels unserer Arbeit zu nahe." Heuss stellte sich ohne Not an die Seite des Chefpropagandisten. Neben Goebbels und Heuss schrieben in diesem Blatt, das im Layout der heutigen Zeit sehr nahe kommt, zahlreiche Gründer der westdeutschen Presse, unter ihnen Mitglieder folgender Redaktionen: Die Zeit, Hamburger Allgemeine Zeitung, Hamburger Freie Presse, Kurier und Tagesspiegel (Berlin), Wirtschaftszeitung (Stuttgart), Münchner Merkur, Rheinische Post und Rheinische Zeitung (Düsseldorf), Mainzer Allgemeine Zeitung sowie in der von den Briten herausgegebenen Zeitung Die Welt.

Theodor Heuss hatte sich im nationalsozialistischen Pressesystem eingerichtet. Rudolf Agricola, der gleich Heuss eine Lizenz für die RNZ erhielt, hatte unterdessen wegen der Verbreitung illegaler Pamphlete acht Jahre in Gefängnissen unter Schwerstarbeit zugebracht, der dritte Lizenzträger, Hermann Knorr, sich zunächst ins Exil, dann in einem gänzlich anderen Beruf - wirklich - durchgeschlagen. Heuss ging schon 1946 in die Politik, blieb aber Herausgeber. Agricola zog 1948 nach Halle, um an der dortigen Universität zu lehren. Ihm wurde die Lizenz entzogen. Er war Kommunist.

Auch der "Deutsche Journalistenverband" versäumt es bis heute, seine Gründer auf ihre Vergangenheit hin zu untersuchen. Zum ersten Vorsitzenden nach dem Krieg wurde Helmut Cron gewählt. "Die braunen Helden verschwinden", schrieb er über ein Kapitel seiner unveröffentlichten Memoiren, sichtlich bemüht, nicht zu den "Helden" gerechnet zu werden. Ruprecht Eser fragte Cron für seine Magisterarbeit nach dessen journalistischen Erfahrungen vor 1945. Cron antwortete ebenso kurz wie unvollständig: "Ich war seit 1924 Redakteur, seit 1928 Chefredakteur (bis 1933)." Doch Cron war auch nach 1933 dabei gewesen. In Stuttgarter Zeitungen hatte er US-Präsident Roosevelt als "Demagogen" beschimpft, England - ganz im Sinne der Propaganda - einen "Kriegstreiber" geheißen. 1940 verteilte er ein "Lob der Lenkung". Die deutsche Wirtschaft meistere auch im Krieg alle Schwierigkeiten. "Aufs neue hat damit der gut eingespielte Apparat der staatlich gelenkten Wirtschaft seine Funktionsfähigkeit bewährt."

Der Staat bewährte sich nach Crons Ansicht auch auf künstlerischem Gebiet. Mäzen der "freien Intelligenz" sei heute nicht mehr das zahlende Publikum, schrieb er 1941 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung, sondern der Staat. Er bewirke "die richtige gegenseitige Abstimmung zwischen freier Intelligenz und Publikum". Deshalb werde die freie Intelligenz nicht eintrocknen. "Sie hat die Freiheit, die wir (sic!) ihr geben."

In der Neuen Rundschau machte er sich 1941, als Deutschland militärisch siegreich schien, über den Parvenü lustig. Er komme nie ans Ziel, sondern müsse "als gesellschaftlicher Flugsand ... wie der ewige Jude dauernd unterwegs sein". Parvenüs, so resümiert der Dazugehörende, "hüllen sich in die Gewänder der Tradition, indes Geist und Leben in andere Regionen entschwebt sind".

Nach der Schließung des Stuttgarter Tagblatts, wo Cron festangestellter Schriftleiter gewesen war, wechselte er 1941 zum "Gauorgan der NSDAP", dem Stuttgarter NS-Kurier. Dort feierte er Friedrich Hölderlin. Er sei der "einzige wirkliche Prophet" des 19. Jahrhunderts gewesen, weil er "den Sturz Englands schon vor hundert Jahren prophezeit hat". Das war 1944.

Wieso gelang es ehemaligen Propagandisten so zahlreich, in der neuen Presse in verantwortliche Positionen zu gelangen? Cron gab eine arrogante Antwort: "Dass die Dilettanten, mit denen man es damals allein zu tun hatte, nicht ausreichten - journalistisch und verlegerisch -, ließ jeden sorgenvoll an Morgen denken." Es gab also nicht genügend unbelastete Journalisten, will Cron sagen. Das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Emigranten, die nach Deutschland zurückkehrten, wurden immer wieder bewußt von den Besatzungsoffizieren ausgeschlossen. Sie hätten keine Verbindung mehr zu ihrem Land und der Bevölkerung, hieß es. Außerdem würden sie für Unruhe sorgen - weil sie möglicherweise die Nazigeschichte von Kollegen, Amtsträgern und Industriemanagern nach damaliger Lesart unangemessen diskutiert hätten. So dauerte es mehr als zwanzig Jahre, eine Generation, bis sich die Bundesrepublik mit der Nazivergangenheit ihrer Honorationen beschäftigte. Das Kommando in den Redaktionen übernahmen unterdessen alte Antibolschewiken, die im aufkommenden Kalten Krieg wiederverwendet werden konnten. Sie mußten nicht einmal umdenken.

1

Karl-Heinz Janßen: Die Zeit in der ZEIT. 50 Jahre einer Wochenzeitung, Berlin (Siedler Verlaga) 1996 (352 Seiten, 39,80 DM)

2

Peter Köpf, Schreiben nach jeder Richtung. Goebbels' Propagandisten in der westdeutschen Nachkriegspresse, Berlin (Verlag Ch. Links) 1996 (320 S., 34,00 DM)