Frankreich:

Ein Jahr Machtwechsel im Elyseepalast

Achim Russer

So viel Enttäuschung war nie. Noch kein Präsident der Fünften Republik hat innerhalb seines ersten Amtsjahres derart viel Vertrauenskapital bei der Bevölkerung verspielt wie Chirac. Nach Angaben von Meinungsforschungsinstituten sind drei Viertel der Franzosen davon überzeugt, daß er seine Wahlversprechen nicht hielt, und zwei Drittel finden, daß er schlechter als erwartet regierte; fast sechzig Prozent schließlich haben den Eindruck, bei ihm nie zu wissen, woran sie sind. Kein Wunder: Hat dieser Präsident sein Amt doch einem beispiellosen Wendemanöver zu danken. Erst der Wandel des hartbeinigen Rechten zum erklärten Sozialreformer verschaffte ihm gegenüber dem favorisierten Parteifreund Balladur, der für liberal-gaullistische Kontinuität stand, ein eigenes Profil; nur die demagogische Zentrierung seines Wahlkampfs auf Themen wie Arbeits- und Obdachlosigkeit eine Aura, die ihn zum Hoffnungsträger auch für kritische Landsleute und damit am Ende zum Präsidenten machte.

Als die PR-Schlacht gewonnen war, zog ein Mann in den Elyseepalast, der - wie nach wenigen Wochen deutlich wurde - das Amt einem gigantischen Bluff verdankte. Das Versprechen, mit dem er angetreten war: die "soziale Fraktur" zu heilen und namentlich gegen die hohe Arbeitslosigkeit mit allen Mitteln vorzugehen, blieb uneingelöst, denn die spärlichen dafür ins Werk gesetzten Mittel - Abgabenerleichterungen für Unternehmen, die Langzeitarbeitslose oder Jugendliche einstellen - taten nur sehr begrenzt, wenn überhaupt, Wirkung; heute zählt Frankreich 150.000 Arbeitslose mehr als vor einem Jahr. Dafür dürfen die Franzosen, in krassem Gegensatz zu den Ankündigungen des Kandidaten Chirac, rund 120 Milliarden Francs mehr Steuern bezahlen als im Vorjahr; und was die versprochene Beseitigung sozialen Elends angeht, so erschöpft sie sich vorläufig in der (verdienstvollen, aber ungenügenden) Einrichtung von einigen Tausend Wohnungen für sozial Benachteiligte. Die harten Zeiten aber sollen erst noch kommen - um nahezu 100 Milliarden Francs will die Regierung den nächsten Haushalt kürzen, vor allem natürlich im Sozialbereich. Denn nicht länger ist (wie noch der Wahlkämpfer Chirac behauptet hatte) die Arbeitslosigkeit an den Budgetproblemen schuld und also Arbeitsbeschaffung der Schlüssel auch zur Behebung dieser Defizite; inzwischen gelten in Paris, wie andernorts, die Staatsschulden als Ursache aller anderen Übel und das Sparen als höchste Maxime vernünftigen Regierens.

Kein Wunder, daß sich die Mehrheit des französischen Wahlvolks düpiert fühlt. Dies wurde spätestens dann unübersehbar, als die Streiks der öffentlichen Verkehrsbetriebe, die das Land im Spätherbst wochenlang lahmlegten, bei der betroffenen Bevölkerung trotz aller für sie damit verbundenen Unannehmlichkeiten eher auf Sympathie stießen (siehe Kommune 1/96). An hartnäckiger Solidarität ging die Strategie des Aussitzens zuschanden, mit der die Regierung die Gewerkschaften hatte auflaufen lassen wollen; am Ende mußte sie zurückstecken, und die Gewerkschaften, die den Streik getragen hatten, gingen gestärkt aus der Auseinandersetzung hervor. Übrigens zeitigte diese bisher größte soziale Kraftprobe der Ära Chirac neben anderen Sympathieerklärungen mit den Streikenden auch solche von Wissenschaftlern und Schriftstellern (Pierre Bourdieu dürfte in Deutschland der bekannteste unter ihnen sein) und signalisierte, daß es wieder Intellektuelle in diesem Land gibt, deren Engagement sich nicht in der Anprangerung der Zustände auf dem Balkan erschöpft. Überhaupt schwant es seit den Streiks wieder mehr als einem, daß der Kapitalismus vielleicht doch nicht das letzte Wort der Geschichte ist. Wenn Chirac beim G-7-Treffen in Lille seinem verblüfften Auditorium die Suche nach einem "Dritten Weg" nahelegte, so mag dies noch mit fehlgeleiteten Profilierungswünschen zu erklären sein. In seiner Partei aber tauchen zunehmend Stimmen auf, die sich die Frage stellen, wie lange ein Land, das seine demokratischen Institutionen - offiziell jedenfalls - über alles stellt, es sich eigentlich leisten kann, seine Politik letzten Endes von der Zustimmung der Finanzmärkte abhängig zu machen. Daß gerade die Gaullisten zu einer revolutionären Antwort finden werden, ist zwar kaum zu befürchten. Aber einen triftigen Grund, warum ihr Champion an der selbstgestellten Aufgabe scheiterte, Arbeit zu beschaffen, werden sie im Verlauf der nächsten zwei Jahre schon suchen müssen: Dann nämlich stehen Parlamentswahlen an, welche die Regierungsparteien, jedenfalls nach dem bisherigen Stand, haushoch zu verlieren drohen.

Spätestens seit jenen Streiks hat Chirac, obwohl (oder vielmehr weil) er sich weise bedeckt hielt, eine schlechte Presse. Dies mag ihn veranlaßt haben, sein erstes Amtsjahr vorsichtshalber selbst zu kommentieren und in Le Monde (7.5.96) eine Würdigung zu veröffentlichen, deren programmatische Aspekte indes nicht uninteressant sind. Denn hier ist zwar beiläufig noch immer von der Arbeitslosigkeit als einer "Herzensangelegenheit" seiner Regierung die Rede, aber "viel entscheidender" (so Chirac wörtlich), sei die Reform des Bildungswesens. Dieser Zungenschlag ist neu. Er benennt offenbar den Bereich, in dem die Regierung ihr sozialpolitisches Desaster vergessen machen will. Täuscht nicht alles, steuert sie dabei mit vollen Segeln auf ihr zweites Beresina-Erlebnis zu.

Wer immer als Lehrende(r) oder Lernende(r) Gelegenheit hat, französische Bildungseinrichtungen von innen kennenzulernen, wird zwar die Dringlichkeit ihrer Verbesserung gewiß nicht bestreiten - sie zählen zu den trostlosesten im westlichen Europa. Dabei sind die heruntergekommenen Gebäude, die jene Anstalten in der Regel beherbergen, nur Symptome einer tiefergreifenden Verlotterung. Von sozialistischen Bildungsministern war in den achtziger Jahren die optimistische Parole ausgegeben worden, 80 Prozent aller Schüler zum Abitur zu führen. Inzwischen ist dies tatsächlich fast der Standardabschluß geworden; die aktuellen Zahlen liegen bei 70 Prozent. Da diese Jugendlichen aber keine Stellen finden und/oder auf lukrativere Jobs durch höhere Qualifizierung spekulieren, überfüllen sie die (durch keinen Numerus clausus behüteten) Universitäten, die auf diesen Ansturm oft so wenig vorbereitet sind wie die Studierenden auf ihr Studium. Teils an der Ungunst der Bedingungen, teils auch an eigenen Defiziten scheitert die Hälfte von ihnen bereits im Verlauf des Grundstudiums. Ein guter Teil der Lehrkräfte aber ist damit beschäftigt, den Schiffbruch zu organisieren, um die tüchtigsten Schwimmer zu retten. Einschneidende Veränderungen dieser problematischen Variante sozialer Selektion erscheinen sowohl dringend geboten als auch - solange den Jugendlichen keine praktikable Alternative geboten wird - undurchführbar. Hinzu kommt, daß das durchweg unterbezahlte Lehrpersonal (das im Schnitt gut ein Viertel weniger verdient als vergleichbare Lehrkräfte in Deutschland) bisher vor allem durch den sicheren Arbeitsplatz und großzügige Ferienregelungen zum Aushalten motiviert wird. Beides stellen die bisher bekanntgewordenen Reformpläne in Frage. Wer aber eine durchgreifende Bildungsreform ins Auge faßt, die keine zusätzlichen Aufwendungen nötig machen, ja möglichst noch Arbeitsplätze einsparen soll, spielt unweigerlich mit dem Feuer.

Gerade Chirac müßte das am besten wissen, war er doch im Spätherbst 1986, damals noch als Premierminister Mitterrands, nach wochenlangen Unruhen und dem Tod eines von Polizisten zusammengeprügelten Studenten gezwungen, eine übrigens recht harmlose Reform der Hochschulzugangsbedingungen zurückzuziehen; der für die Universitäten zuständige Minister trat stellvertretend zurück. Er blieb ein einflußreicher Mann: Alain Devaquet residiert heute als offizieller Berater im Elyseepalast. Das Unterrichtsministerium freilich leitet bisher noch François Bayrou, der dieses Amt schon unter Balladur innehatte und den die Koalitionsarithmetik dort beließ. Der gelernte Studienrat, dem es im letzten Jahr gelungen ist, die gegen unzulängliche Arbeitsbedingungen revoltierenden Studierenden mit dem Versprechen zusätzlicher Personalstellen und der Überweisung außerordentlicher Mittel zu beschwichtigen, kennt die vertrackten Verhältnisse im Bildungsbereich; als Vizevorsitzender des Parteienbündnisses UDF und Anführer einer selbständigen Zentrumsformation, der "Force Démocratique", legt er keinen Wert darauf, seine politische Zukunft einer Hauruck-Reform mit ungewissem Ausgang zu opfern, wie sie Chiracs angekündigte Volksabstimmung zur Bildungsreform befürchten läßt. Dieser vorsichtige Mann stemmt sich bislang erfolgreich dagegen, den hochsensiblen Bereich mit plebiszitären Mitteln zu steuern; er gilt als designiertes Opfer der nächsten Regierungsumbildung.

Wenn Chirac glaubt, das Spiel mit dem Feuer wagen und in Zeiten drastischer Budgeteinschränkungen eine Bildungsreform verordnen zu können, so deswegen, weil er davon ausgeht, der jungen Generation im entscheidenden Augenblick sicher zu sein. Er stellt ihr nämlich das Ende der unpopulären Wehrpflicht in Aussicht, die just auslaufen soll, wenn die nächste Präsidentenwahl (und also Chiracs Wiederwahl) ansteht: in genau sechs Jahren. Bis dahin sollen die Franzosen zu dieser Frage "konsultiert" werden. Vollendete Tatsachen schafft einstweilen die ohne jede Konsultation, auch nicht mit den deutschen Partnern, vorangetriebene Umstellung der französischen Rüstungsindustrie auf den Bedarf einer weltweit operationsfähigen Interventions-(und also Berufs-)Armee nach amerikanischem und britischem Vorbild. Der Territorialverteidigung wird in dieser Konzeption kein hoher Stellenwert zukommen; in der Tradition der gaullistischen Vorstellungen von der geopolitischen Rolle Deutschlands als Glacis Frankreichs wird sie weitgehend der Bundeswehr überlassen bleiben. Deswegen war die Bemerkung des deutschen Verteidigungsministers, der sich die Ummodelung des "Eurokorps in ein Afrikakorps" verbat, in der Tat voreilig - deutsche Soldaten dürften schon deswegen kaum an Übersee-Abenteuern beteiligt werden, weil keine zur Zeit absehbare französische Regierung den Ruhm wird teilen wollen, weltweit (nach Maßgabe von ihr definierter Interessen) als Pazifikator aufzutrumpfen.

Neben der Verteidigung erhebt die Verfassung der Fünften Republik ausdrücklich die Außenpolitik zur Domäne des Präsidenten, und genüßlich reizt Chirac, wie schon seine Vorgänger, dieses Privileg aus. Mit den in jeder Hinsicht unbesonnenen Atomwaffentests im Pazifik hat er sich zwar fürs erste selbst aus dem ostasiatischen Kontext herausgebombt. Dafür bastelt er (in Exjugoslawien, im Libanon, in Marokko) gezielt am Ausbau der Position Frankreichs im Mittelmeerraum und bestreitet, ohne sich von den donquichottesken Zügen des Unternehmens beirren zu lassen, dem Englischen seine Stellung als Universalidiom - der nächste "Kongreß frankophoner Länder" ist nach Vietnam einberufen.

Nimmt man all seine zum Teil rührenden Versuche zusammen, sich zum global player aufzublasen, wird man den Eindruck nicht los, daß Chirac seine Karten pausenlos überreizt. Unempfindlich gegenüber dem Gefühl der Lächerlichkeit, tritt er in de Gaulles Manier als Großmachtvertreter auf und setzt dabei zunehmend (wie schon bei den Pazifiktests, als zehn von fünfzehn EU-Staaten in der UNO gegen Frankreich votierten) die europäische Basis aufs Spiel, die allein solchen Prätentionen langfristig Rückhalt verschaffen könnte.

Bluffen mag Chiracs Stärke sein. Die Erfahrung, wie mühsam verspieltes Vertrauen wiederzugewinnen ist, macht er in seinem Lande jetzt schon.