Außer Atem

Jáchym Topol und die Wiederentdeckung der Poesie

Balduin Winter

Trinkfester Dissident" (Der Tagesspiegel), "junger Wilder aus Prag" (FAZ), "Kultautor der 89er Generation in Tschechien" (Berliner Morgenpost), "Shooting-Star der Prager Literaturszene" (taz), "enfant terrible der tschechischen Literatur" (Main-Echo), "Vordenker der polit-literarischen Szene Prags" (Freitag) - ein erbitterter Drang zur ultimativen Schlagzeile scheint die Literaturkritiker zu beseelen, wenn von Jáchym Topol (Jg. 1962) die Rede ist. Kaum hat er die internationale Bühne betreten, werden seine Biografie und seine Bücher schon für einen Mythos ausgeschlachtet. Dem einen ist er ein Romantiker im byronschen Sinn, der andere sieht in ihm einen zornigen Beatnik und holt Jack Kerouac aus der Trickkiste, der dritte stellt ihn als Prager Jean Genet jenseits aller gesellschaftlichen Konventionen hin; sogar Dante Alighieri mußte bereits herhalten. Topol verwahrt sich dagegen, daß die Medien aus ihm einen anderen Dichter gemacht haben, als er ist: "Sie möchten über einen Poeten schreiben, der zwanzig Biere trinken kann, der mit Dutzenden von Frauen schläft. Irgendwie haben sie mich zu so einer Figur gemacht, und ich muß mich mit diesem Etikett herumschlagen." Was aber läßt erwachsene Menschen, ehrwürdig gereifte Literaturauguren zu solchem Stargestammel hinreißen? Oder, weit wichtiger: was begeistert ein mehrheitlich junges Publikum an diesem Autor? Denn mögen die zitierten publizistischen Schaumschlägereien auch mißtrauisch stimmen, Topols Lyrik und Prosa haben einen ganz eigenen Ton jenseits der literarischen Mittellage, sie faszinieren, sie stoßen ab, aber sie lassen kaum jemanden kalt.

@INI-2Z = Bisher sind von Topol in Tschechien zwei Gedichtbände (Ich liebe dich bis zum Irrsinn, 1988/1991 und Am Dienstag gibt es Krieg, 1992), ein Band Erzählungen (Ausflug zur Bahnhofshalle, 1993/95) und zwei Romane (Die Schwester, 1994 und Engel exit, 1995) erschienen. Deutsche Übersetzungen von Gedichten sind in zwei Auswahlbänden enthalten (Das hier kenn' ich, K Vodojemu 24), Engel exit ist heuer im Frühjahr erschienen, der "Wenderoman" Die Schwester wird nächstes Jahr herausgebracht. Übersetzungen gibt es außerdem noch in zehn andere Sprachen. Kein Zweifel, ein hoher Grad an internationaler Aufmerksamkeit für jemanden, der keine Bestsellerthemen vermarktet.

Als Sohn einer Dissidentenfamilie - der Vater, ein bekannter Dramatiker, gehört zu den Erstunterzeichnern der Charta 77 - erfährt Jáchym Topol von früh an die Absurditäten des realsozialistischen Alltags. Moby Dick und Winnetou, Abenteuerroman und Wildwestfilm, Undergroundliteratur und Beat sind die Räume, in die er ausweicht, die er mit seinen Fantasiewelten auffüllt. "Was kann man in diesem Loch machen? / Ameisen töten? / Fliegen? / Motten? / auf die Sterne scheißen? / (...) also onanieren? / Schon wieder? / Alles andere ist verboten / (...) Onanieren / und ständig schreiben" (aus dem Gedicht: Kriegslyrik). Die Aufnahme auf die Universität bleibt ihm wegen seiner Herkunft verwehrt, als Wehrdienstverweigerer landet er in der Irrenanstalt ("das gehörte zur Folklore..."). Den Einschränkungen, Verboten, dem gesellschaftlichen Stillstand setzt er seine Opposition entgegen, selbst verlegte Zeitschriften (Revolver Revue), Rocktexte für die Band seines Bruders Filip (Psí vojáci, Hundesoldaten). Von der älteren Dissidentenszene setzt er sich, gemeinsames Merkmal seiner Generation, deutlich ab, man will in den Kreisen des jungen Undergrounds nicht erst lange herumtheoretisieren, man möchte Schluß machen mit dem ausgehagerten Leben. Es ist eine emotional stark aufgeladene Szene, die sich auf die Suche nach einem neuen Lebensgefühl begibt. Der Drang nach Freiheit, der Versuch, offen zu sein, nicht in der Sklavensprache zu sprechen, all diese emanzipativen Äußerungen schwanken stets zwischen Wut und Ohnmacht, zwischen Haß und Verzweiflung gegenüber einer erdrückenden Realität. Der erste Gedichtband Topols, noch in der Undergroundpresse erschienen, spiegelt die widerspruchsvolle Gefühlslage in hohem Maße. Aber auch das andere Element ist vertreten, das Erfinden von Wirklichkeiten, der imaginierte Frei- oder Fluchtraum. Vielleicht rührt der Eindruck hoher Authentizität gerade aus der Spannung, die durch das Vermischen verschiedener Welten entsteht; der Fluchtraum wird nicht nur zum Ort des Rückzugs, sondern Topol öffnet ihn dem Leser. Gegenüber einer Umwelt, in der Verstellung und Lüge dominieren, setzt er auf größtmögliche Ehrlichkeit. Dabei sind seine Gedichte nur zum Teil autobiografische Splitter. In das lyrische Ich übernimmt er verschiedene Rollen, die er sich ganz zu eigen macht. Dem Publikum wird ein breites Repertoire an Identifikationsmöglichkeiten angeboten, das um so leichter angenommen werden kann, als nichts Belehrendes in den Gedichten enthalten ist (siehe Gedicht "Das hier kenn' ich").

DAS HIER KENN' ICH

Alles klar, das hier kenn' ich, also hör' ich
wieder die schauderhafte Musik
das Ächzen
der Welt hier
in ihren Rissen,
auch hör' ich den Wind anklopfen, schimpfend und bettelnd.
Ich tu', was ich kann
ich lieg auf der Lauer, immer bereit, um auszuweichen.
Hier war ich doch schon
und auch die Häuser wie immer in ihrer Schwere sind's noch.
Am Himmel die flammenden Lichter
gleißende Säulen, im Einfall
Himmelsschiffe. Die Zeit war reif;
war wohl das Flutlicht des Stadions.
Auf dem Bahnhof sagte mir jemand: "... Jetzt
stell' deine Uhr vor, um genau eine Stunde."
Um die Zeit, die tote, von der du andauernd träumst.
So gingen vorbei die Erdbeererntebrigaden
und unten am Hang die Mädchen.
Vor dem Buchladen steh ich. Vielleicht geht noch jemand vorbei
den ich kenne. Nur keine Eile.
Hier ist doch die altbekannte, von Kratern durchlöcherte Peripherie.
In einem von ihnen hat mir der Dra_ar den kabbalistischen Würfel geklaut,
im andern die Vlasáková gezeigt, wie man Krawatten bindet,
und welche Seiten man, besser ist besser, aus dem Gesetzbuch entfernt.
Kaum mehr als ein kleiner Diebstahl
und nur so rumhängen, angetrunken,
bis auf die Frau am Wehr, die hat es wirklich schlimm erwischt.
Den Rock hochgestülpt und ausgelacht von den eigenen Kindern,
und im Gemeindeamt, hinter den Fenstern
die ewigen Zimmerpalmen. Nur unter'm letzten Schnee dieser verschärfte Duft.
Nichts mehr, was hält. Kann gehn. Hab selbst alles
unter der Haut. Kein Abfall und niemand
der was von mir will, und keiner, der sich erinnert.

"Ich spielte eine menschliche rose, ich hatte eine stunde zeit zum wachsen, knospen, blühen, welken und verblühen" (aus: Die Schwester). Plötzlich bricht die bleierne Welt auf, "die Zeit explodiert", die festgefahrenen Ordnungen und Werte zerstauben, nichts bleibt, wie es ist - oder?

Bald nach der Wende zeigen sich schon grundsätzlich verschiedene Tendenzen in der Literatur der ehemaligen Dissidenten. Zahlreiche "Erinnerungsbücher" (Vaculík, Divis, Zábrana) erscheinen, die versuchen, "die Welt zu erklären" - man ist sozusagen zur Normalität zurückgekehrt, setzt die Westorientierung als jene Zivilität, für die man gekämpft hat, und denkt mit Schrecken daran, wie man einst von ihr abgekommen ist, wie man eingetaucht ist in eine staatlich monopolisierte Gesellschaftsform mit all den erfahrenen Deformationen. Diese Bücher "erfüllten ... das aktuelle Bedürfnis nach einem zwar subjektiven, jedoch nicht korrumpierten, die kürzlich beendete historische Misere bezeugenden geschichtlichen Material" (Jirí Penás).

Dagegen mißtrauen der neuen Normalität vor allem Angehörige der jungen Generation des Undergrounds; die in den achtziger Jahren angetreten sind und bereits Grundzüge einer alternativen Kultur entwickelt haben. Sie sind gar nicht so scharf darauf, von der sozialistischen in die kapitalistische Moderne zu übersiedeln, von einem parteipolitisch verordneten Fortschritt in einen ökonomisch verordneten Fortschritt. Mit den Parteifossilien haben sie absolut nichts zu tun, im Gegenteil, aus der Jugend kommen auch die zündenden Funken zur samtenen Revolution, die ja mit einer Studentendemonstration ihren Auftakt nimmt. Doch fehlt ihnen die Gutgläubigkeit der 68er, daß sich die Menschen und ihre Welt einfach revolutionieren lassen. Die Welt erscheint ihnen vielmehr als etwas Undurchschaubares, kein Spiegel reflektiert sie wahrheitsgemäß, sie haben bereits die Erfahrung gemacht, daß je nach Perspektive völlig verschiedene Reflexionen möglich sind. Und doch äußert sich hier keine nihilistische Postmoderne, "nicht jene Sinn- und Inhaltsentleerung, jenes Bestreben nach grinsender und ironischer Skepsis, vor der keine einzige Autorität, kein verbindlicher Wert besteht" (Penás). Wohl ist diese "Bewegung" vielgestalt und schillernd, in ihr finden solipsistische Spielereien ebenso Platz wie Kopien westlicher Produkte, der Nachholbedarf ist hoch. Doch verlangt sie nach Ideen, Utopien, Fantasien, ihr Motto lautet: "neue Welten schaffen". Es gibt keine alles vereinende Perspektive der Welt, man muß sich erst in ihre fiktionalen Räume hineintasten. Auch das Menschenbild hat sich geändert, man sieht sich nicht länger als in die Falle der Welt geworfene Kreatur, sondern als autonomes, eigenverantwortliches Wesen, das eben auch seine eigenen Welten kreieren kann. Die Suche, unter den extremen Bedingungen des Undergrounds im Realsozialismus begonnen, geht weiter, zumal sich die hochgepriesene "neue Wirklichkeit" als deprimierende Illusion erweist. Genau das bringt Topol in seinem Roman Die Schwester auf den Punkt.

Es ist kein Zufall, daß er nun von der Lyrik zur Prosa wechselt, die Zeit der hingerotzten Protestsongs ist erst einmal vorbei, die unzähligen Geschichten, die mit der Wende auf ihn einstürmen, fordern zu einer anderen, breiteren Form heraus, verlangen nach adäquaten literarischen Mitteln. Die Aufbruchseuphorie, die mit dem Staunen der Prager beginnt, als die DDR-Flüchtlinge die deutsche Botschaft belagern, das "Explodieren der Zeit" mit den Umbruchsereignissen, das Wendeklima, in dem sofort Sumpfblüten, wie organisierte Kriminalität und Glücksrittertum, aufblühen, der Müll, auf dem sein Held landet, schon bei Ivan Klíma Symbol realsozialistischer Verkommenheit, niemand hat ihn weggeräumt, im Gegenteil; Märchen, Indianermythen, Agentenstories, die Bahnhofshalle, ähnlich wie die Metrostation im Roman Engel exit ein apokalyptischer Ort zeit- und geschichtsloser Losertypen -, das sind Bausteine seines Romans, mit denen er spielt, an denen er seine Hoffnungen und Träume aufbaut, ein Abenteuerspielplatz fern jeder Romantik, denn gespielt wird um Existenzielles. Zwar verbietet das neue System aufmüpfige Bücher nicht mehr, doch hat die Wende am zwischenmenschlichen Klima nichts verändert. Der Alltag ist, wie er war, Asphalt, Telefonzellen, Metroschächte, Drehkreuze, Western, Fremdheit, Selbstmorde, Fernsehen, Gespräche wie Schweigen, Mülltonnen, Computer und Dienstag ist Krieg. Im immerfort Immergleichen kann der Dichter seine "angestaute Verlassenheit nachts nur in blöden, schleimigen Gedichten" rauslassen. Dennoch: "Es gibt viele Möglichkeiten, und eine von ihnen heißt Hoffnung."

Dazu kommt, daß die expressive Sprache Topols, der Erzählfluß mit seinem raschen Wechsel von Spannung und Entladung alles aufwirbelt, die Abenteuer des Lebens, die Abenteuer im Kopf, das Lebensgefühl, das realistisch-magisch-mythisch-fiktional-existenzielle Erzählgebäude. In der Kritik taucht häufig der Vergleich mit Atem und Atemlosigkeit auf, bei Nachlassen des Erzählflusses müßte man ein Kollabieren des Romans befürchten; dieses Ein- und Ausatmen von Sprache ist es, das es ermöglicht, zu den Wurzeln der Existenz hinabzusteigen und Sinnfragen zu stellen. Tempo und Tonlage erinnern zudem an die Gestimmtheit der amerikanischen Beatnik-Literatur, die in der CSSR erst in den achtziger Jahren teilweise rezipiert werden konnte. Topol leugnet die Einflüsse Ginsbergs und Borroughs nicht, bezeichnet selbst aber Gottfried Benn, Isaac B. Singer, Egon Bondy und Bohumil Hrabal als literarische Vorfahren.

Das rasante Sprudeln des Erzählflusses und die expressiven Sprachkaskaden lassen ein spontan dahinrauschendes, dem Augenblick und dem Zufall überlassenes Erzählen vermuten. Doch sowohl Die Schwester als auch Engel exit sind durchkomponierte Texte. Es gehört weit mehr als handwerkliche Fertigkeit dazu, so disparate Teile wie die einzelnen Kapitel der Engelsgeschichte ganz locker zu einem Ganzen zu verbinden. Die Personen und ihre Lebenssituationen sind genau beobachtet, teils selbst erfahren, doch legt Topol keine soziologischen Studien vor, sondern akzeptiert das gerade durchlebte Leben mit seinen Bedrängnissen, Abgründen und Abscheulichkeiten. Mancher Kritiker hat Engel exit in die Schublade des Sex and Crime gesteckt, als Roman über "das Leben der Junkies, die wie angepaßte Kleinbürger ein simuliertes Leben leben" (Freitag, 21.3.97). So griffig dieser Satz klingt, so wenig trifft er, denn Topol bezweckt nicht im mindesten das Dokumentieren der Lage einer gesellschaftlichen Randgruppe. Seine Suche nach einem irgendwie anderen Leben ist die Triebfeder einer eigenartigen Zuwendung zu den Erniedrigten dieser Gesellschaft, zugleich auch der Bodensatz, in dem noch unausgesprochene Utopien formuliert werden können, vielleicht oder gerade aus den Mündern von Junkies, Stadtstreichern und Prostituierten.

Mag sein, daß hier der springende Punkt liegt, weshalb Topol bei den Jüngeren besonders ankommt. Seine Protestgeste, sein Aufschreiben von Fantasiewelten, die sich deutlich von der traditionellen Literatur abheben, sein unbändiger Freiheitsdrang, seine Lust am Leben, am Erzählen, seine expressive Schnellzugsprache, seine Themen und Milieus - das alles mag für ihn einnehmen. Vor allem aber ist Topol ein Hoffnungsträger - für noch nie Gesagtes. Vielleicht wird er nach seinen Erfolgen auch ein "angepaßter Kleinbürger", der in zehn Jahren bei Lou Reed und Velvet Underground nostalgisch die guten alten Zeiten beschwört. Aber: "Es gibt viele Möglichkeiten, und eine von ihnen heißt Hoffnung."

Von Jáchym Topol sind bisher in deutscher Sprache erschienen:
K Vodojemu 24. Zwischen Kirche und Western. Gedichte. Übersetzt aus dem Tschechischen und mit einem Vorwort versehen von Anja Tippner und Eva Profousová. Verlag C. Weihermüller, Leverkusen, 1996. 132 Seiten.
Das hier kenn' ich / Tady to znám. 48 Gedichte. Aus dem Tschechischen übertragen von Natascha Drubek-Meyer, Sascha Anderson, Jörg Schieke, Thomas Kunst, Lutz Seiler und Jo Lendle. Edition Galrev, Berlin 1996.
Engel exit. Roman. Aus dem Tschechischen von Peter Sacher. Verlag Volk und Welt, Berlin, 1997. 208 Seiten.
Auszüge aus: Die Schwester. Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová und Beate Smandek. In: Passauer Pegasus, Sonderheft "Tschechische Gegenwartsliteratur". Hrsg. von Edith Ecker, Karl Krieg, Bernhard Setzwein unter Mitarbeit von Václav Maidl, Marek Nekula. Heft 27/28, Passau, 1996.