Rußlands Schattenwirtschaft

Schwierigkeiten einer zweiten Reformphase


Erhard Stölting

Der russische Präsident tadelte Mitte März seine Regierung so, als ob er mit ihr nichts zu tun hätte, und solidarisierte sich mit dem Volk. An allen Übeln sei die Regierung Tschernomyrdin schuld. Auf diese Weise zeigte sich Jelzin nach monatelangem Siechtum wieder als energischer Steuermann. Diesmal läutete er die zweite Phase der Wirtschaftsreformen ein, deren erste Phase er 1992 mit der Entlassung des damaligen Ministerpräsidenten Jegor Gajdar selbst zum Stillstand gebracht hatte.

Der Wiederaufstieg der Wirtschaftsliberalen hatte sich schon 1996 angedeutet. Anatolij Tschubajs, der unter Gajdar die Privatisierung orchestriert hatte und 1992 wegen seiner Unpopularität gefeuert worden war, wurde Leiter der Präsidialverwaltung. Er hatte Jelzins Wahlkampf organisiert und die dafür notwendigen Gelder bei jenen mächtigen Wirtschaftsgruppen eingesammelt, die eine Rückkehr der Kommunisten fürchteten. Nun baute er seine Macht aus. Er stürzte Jelzins bizarre Leibwächtertruppe, installierte General Lebed als Stimmenfänger und vertrieb ihn wieder. Die neuerliche Veränderung bestätigt nun die Rückkehr zu einer entschieden marktwirtschaftlichen Linie. Tschubajs selbst übernahm am 17. März 1997 zusätzlich das Amt des Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten. Neu ins Amt kam der junge und charismatische Boris Nemzow (37), der Nishnij Nowgorod aus einer Waffenschmiede in eine marktwirtschaftliche Erfolgsregion umgewandelt hatte. Mit von der Partie war Alfred Koch, ein Tschubajs-Mitstreiter aus St. Petersburg, der als Vizepremier zuständig für die Steuern wurde. Erstmals seit der Entlassung Gajdars gibt es wieder ein Regierung von Wirtschaftsexperten, die die gleichen Reformvorstellungen haben.

Ob diese zweite Phase der Wirtschaftsreform jedoch erfolgreich enden wird, ist zweifelhaft. Die spezifischen wirtschaftlichen und politischen Strukturen erschweren jeden Optimismus. Es könnte sein, daß das Neue, das rechtsstaatlichen Vorstellungen nicht entspricht, doch in einigen Zügen die künftige Entwicklung Europas antizipiert.

Der arme und schwache Staat

In den Diskussionen um die NATO-Osterweiterungen beschränkten sich die symbolischen Gesten des Westens weitgehend auf Schulterklopfen. Die etwas paranoide russische Furcht vor der Erweiterung wurde im Westen nicht ernst genommen. Dabei bestätigt die Osterweiterung letztlich ihre Überflüssigkeit: Rußland wird nicht mehr als eine gefährliche Macht, mit der man rechnen muß, wahrgenommen.

In militärischer Hinsicht trifft das teilweise zu. Die dreißig Divisionen der russischen Armee heute sind nur noch ein Schatten der einstmals 186 sowjetischen Divisionen; nur zehn Divisionen sollen einsatzbereit sein. 32 Milliarden Mark sollte die Armee 1996 bekommen. Wirklich ausgezahlt wurde etwa die Hälfte; die amerikanische Armee erhielt umgerechnet 422 Milliarden Mark. Die russische Armee, die ohnehin durch den Krieg in Tschetschenien demoralisiert wurde, vegetiert nur noch dahin. Die Waffendepots werden kaum noch bewacht, die Waffen auf den entsprechenden Märkten verhökert. Sold wird nur noch sporadisch, wenn überhaupt, ausgezahlt. Die Uniformen verschleißen.

Entsprechend haben die soziale Attraktivität und das Ansehen der Armee nachgelassen. Immer mehr junge Männer entziehen sich, wenn immer möglich, dem Wehrdienst. Selbst die früher begehrten Offizierslaufbahnen ziehen keine soliden Bewerber mehr an. Es melden sich nur noch solche, die kein soziales Ansehen zu verlieren haben.

Für eine Armeereform ist kein Geld da. Viele Offiziere träumen noch von den großen alten sowjetischen Zeiten. Und diese Träume sind angesichts des Chaos, das auch in der Armee herrscht, gefährlich. Die Furcht, Atomgranaten oder Kurzstreckenraketen könnten bei lokalen oder regionalen Konflikten zum Einsatz kommen, erscheint angesichts der desolaten und brutalen Kriegführung in Tschetschenien nicht abwegig.

Aber diese Armee ist nicht die einzige bewaffnete Macht in Rußland. Auch die Truppen des Innenministeriums, der Geheimdienste et cetera stehen bereit. Es gibt sogar bewaffnete Organisationen in privater Regie, die besser bezahlt sind und kämpfen könnten. Die Steuerfahndung etwa wird ohne eine vorherige Absprache kaum wagen, die Geschäftskonten einer großen Bank zu überprüfen oder Guthaben zu konfiszieren. Das Gewaltmonopol des Staates löst sich mit dessen Billigung auf.

Die Demoralisierung wird durch das Ausbleiben des Solds verstärkt. Er kann gar nicht mehr die einzige Einnahmequelle bleiben. So sind es neben Waffengeschäften auch andere Nebentätigkeiten, die von Offizieren genutzt werden: Leibwächter, Beschützer von Prostituierten, Türsteher vor Diskotheken oder Parkplatzwärter. Hier läßt sich der Unterhalt verdienen.

Natürlich werden nicht nur die Armeeangehörigen vom Staat nur noch sporadisch bezahlt. Polizisten arbeiten auf den gleichen grauen Arbeitsmärkten wie Offiziere. Zuweilen finanzieren sich auch ganze Polizeidienststellen über Schutzgelder. Die Differenz zu jenen, die die Polizei eigentlich in Schach halten sollte, beginnt sich zu verwischen.

Nicht einmal das Justizsystem ist den Folgen des Geldmangels entzogen. Für eine gründliche Justizreform ist kein Geld da. Nun überarbeiten sich die Richter lustlos in zerfallenden Gebäuden. Zudem sind 10 Prozent der Richterstellen vakant. Der neue Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte, eine im Prinzip wichtige rechtsstaatliche Neuerung, belastet die Gerichte zusätzlich in einer Zeit, in der Gerichtsdiener, Sekretärinnen oder Protokollanten ihrer Arbeit fern bleiben, um anderswo ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nicht einmal der laufende Geschäftsbedarf der Gerichte ist noch finanziell gesichert. Vielfach fehlt sogar das Portogeld für Vorladungen. Auch Richter müssen sich nach bezahlten Nebenjobs umsehen.

Viele Gerichte suchen in dieser Lage erfolgreich nach Sponsoren, wie regionale Verwaltungsorgane, Vereinigungen, Handelsgesellschaften oder Banken. Zuweilen bieten Unternehmen und Banken, die in Verdacht mafioser Zusammenhänge stehen, ganz spontan ihre Hilfe an. Es ist unwahrscheinlich, daß ein Gericht gegen die eigenen Sponsoren vorgehen und sich so selbst den Geldhahn zudrehen könnte. Die Gerichte werden damit, gelinde gesagt, beeinflußbar.

Die staatliche Armut setzt sich in die Gesellschaft hinein fort: Die staatlichen Lohn- und Rentenzahlungen werden monatelang verschleppt, oder sie unterbleiben überhaupt. Auch Zahlungen für Lieferungen oder Dienstleistungen werden eingespart. Die betroffenen Firmen reagieren entsprechend. Auch sie stellen die Zahlungen an ihre Angestellten ein und lassen die Rechnungen von Lieferanten offen.

Steuern und Sparsamkeit

Rußland hat eines der striktesten Steuerregimes überhaupt. Allerdings ist es so strikt, daß viele Betriebe nur überleben können, wenn sie Steuern hinterziehen. - Die Lohnsteuern sind dabei das geringste Problem. Das jährliche Durchschnittseinkommen liegt gegenwärtig bei 12 Millionen Rubel (3.300 DM). Wer es verdient, muß legalerweise 12 Prozent an den Fiskus abgeben. Wer mehr als 13.300 DM jährlich verdient, zahlt den Höchstsatz von 35 Prozent. Es gibt gute Anreize, an der Steuer vorbei zu verdienen.

Das wichtigere Problem aber liegt bei den Unternehmen. Sie sollen 38 Prozent des zu erwartenden, also nicht des wirklichen Bruttogewinns abführen, und der wird nach den technisch möglichen Einnahmen errechnet. So kann es leicht geschehen, daß der Staat mehr an Steuern verlangt, als das Unternehmen einnimmt. Besteuert wird darüber hinaus die Lohnsumme. Das kann ein Anreiz sein, den Personalbestand zu reduzieren. Auf jeden Fall müssen Löhne, die nicht gezahlt wurden, vom Unternehmen auch nicht versteuert werden. Abschreibungsmöglichkeiten wie im Westen gibt es in Rußland noch nicht. Auch Fremdfinanzierungen mindern den Steuersatz nicht. Es wäre also eigentlich wirtschaftlich unklug, überhaupt zu investieren, vor allem nicht auf Kreditbasis.

Alles drängt den ehrbaren Unternehmer und Kaufmann daher dazu, Steuern nicht zu bezahlen. Aber das kann gefährlich werden. Dem Jelzinschen altsowjetischen Regierungsstil entsprechend sollten die Steuerprobleme mit der geballten Faust der Staatsgewalt gelöst werden. Bei kleineren Steuersündern erscheint die Steuerpolizei mit der Kalaschnikow im Anschlag. Der Staat verlangt 100 Prozent Aufschlag auf Steuerschulden und zusätzlich 9 Prozent Versäumnisgebühren. In manchen Großunternehmen sitzen die Steuerinspektoren bereits in der Finanzabteilung. Bei einem großen Rückstand dürfen sie die Tageseinnahmen konfiszieren. Im Herbst 1996 wurde sogar eine Sonderkommission eingerichtet, die säumige Steuerschuldner und -hinterzieher bestrafen soll. Sie trägt den anspielungsreichen Namen "Provisorische Außerordentliche Kommission" (Wremennaja Tschreswytschajnaja Kommissija), also den jener Tscheka Lenins, aus der sich später GPU/NKWD/KGB entwickelten. Unter ihren Mitgliedern befinden sich die Chefs des Innen- und des Außengeheimdienstes. Vorsitzender der Kommission wurde der Einfachheit halber Premierminister Tschernomyrdin, sein Stellvertreter Anatolij Tschubajs.

Es gibt aber auch Mechanismen, die die Rigorosität des Systems mildern. Der wichtigste ist die Befreiung von Steuern und Zöllen. Sie wurde oft nach willkürlichen Kriterien und illegal gewährt. Besonders verhängnisvoll war der Präsidentschaftswahlkampf von 1996, in dem Jelzin der darbenden Bevölkerung nicht nur unerfüllbare Versprechen machte, sondern an Regionen und Unternehmen mit vollen Händen Steuer- und Zollbefreiungen verteilte. Das kostete den Staat etwa 15 Milliarden DM. Einen genauen Überblick hat allerdings niemand.

Es gibt auch andere Mittel, Steuern zu sparen. So läßt sich offenbar der Eifer der Inspektoren durch private Sponsoren dämpfen: Die 210 000 Steuerbeamten in Rußland verdienen umgerechnet nur etwa 140 DM im Monat. Die Kontrolleure sind daher Gehaltszuschüssen seitens der Kontrollierten nicht abgeneigt - zumal ihr reguläres Gehalt oft nicht eintrifft.

Ein strukturell noch wichtigerer Mechanismus als die individuellen Sponsorenbeziehungen liegt in den Beziehungen zwischen Wirtschaft und Politik, die sich im Zuge der Wirtschaftsreformen herausbildeten. Die Privatisierung von 1992 erfolgte in zwei Phasen. Zunächst wurden innerhalb von zwanzig Monaten 14.000 Betriebe privatisiert. Das hatte einen unerwarteten Effekt. Statt daß sich nun unter Konkurrenzbedingungen die Preise auf einem realistischen Niveau stabilisierten, stiegen sie an. Die Gewinnerwartungen führten nicht zu einer Welle von produktiven Unternehmensgründungen, im Gegenteil. Die neuen Unternehmer suchten mit legalen und illegalen Mitteln die Konkurrenz einzuschränken, um höhere Gewinne realisieren zu können. Der Staat war schon nicht mehr in der Lage oder nicht willens, sein Gewaltmonopol zur Absicherung der Märkte durchzusetzen.

Zwecks Einschränkung gewinndämpfender Konkurrenz bildeten sich Schutzorganisationen, die auf eigene Rechnung oder im Auftrag die Konkurrenz klein hielten und dafür Gewinne abschöpften, wenn sie nicht selbst in die Wirtschaftsunternehmen einstiegen. Sie waren von Anbeginn Teil des neuen Systems.

Das strukturelle Problem begann so richtig erst mit der zweiten Privatisierungswelle. Die bereits bedürftige Regierung nahm Kredite bei ausgesuchten Großbanken auf und verpfändete dafür Anteile von Staatsbetrieben. Zahlte der Staat seine Kredite nicht zurück, ging das Verpfändete für einen Apfel und ein Ei in den Besitz der Banken über. Auf diesem Wege entstanden gewaltige Wirtschaftsimperien in den Händen weniger. Das war durchaus gewollt: Es sollte in Rußland ein international konkurrenzfähiges Großkapital geben. Die Staatsfinanzierung über Kredite blieb seither wesentlicher Teil der Finanzierung der Staatsaufgaben. Sie verwischt die institutionellen Differenzen immer mehr.

Das wird an der unbürokratischen staatlichen Finanzverwaltung besonders deutlich. Eigentlich muß der Staat sein Geld selbst verwalten. Der russische Staat zahlt aber überwiegend auf "Budgetkonten" bei privilegierten Großbanken ein. Eigentlich ist so etwas verboten oder nur in abgelegenen Regionen erlaubt, in denen es keine Filiale des Finanzministeriums gibt. Es geschieht aber sogar in Moskau. Außerdem müssen private Banken dem Gesetz zufolge auf Gebühren für die Verwaltung staatlicher Gelder verzichten. Sie bekommen trotzdem welche. Die Verwaltung der Gelder unterliegt dann nicht den sonst üblichen lästigen Verfahren; die obere Ebene kann durch undatierte Notizen, Anweisungen - oder gar mündlich - große Mengen von Devisen in Bewegung setzen. So kann dem Fiskus durch Unterschlagungen und Diebstahl viel Geld entzogen werden. Konservative Schätzungen rechnen mit 8 Milliarden DM. Das ist ein gesamtwirtschaftlich erheblicher Betrag.

Dem Bericht einer Parlamentskommission vom Herbst 1996 zufolge, wurden in einem Fall Gelder, die aus Devisenreserven der Regierung stammten, auf ein Konto eingezahlt, das mit "internationale Aktivitäten" etikettiert worden war. Finanziert wurde damit unter anderem ein Frisiersalon der Präsidialverwaltung. Insgesamt wurde, wie die Parlamentskommission feststellte, gesetzwidrig nur die Hälfte der staatlichen Gelder bei der russischen Zentralbank deponiert. Die andere Hälfte ging und geht noch immer direkt auf Konten von privaten Handelsbanken, u.a. der Wneschnekombank, der Bank Menatep, der Intourbank, der Avtobank. Die Auswahl dieser privilegierten Banken geschieht auf besonders kompetente Weise: In der Auswahlkommission sind die entsprechenden Banken selbst vertreten.

Die fortbestehenden großen Monopolbetriebe genießen dank der Fürsprache von Ministerpräsident Tschernomyrdin große Steuer- und Zollfreiheiten. Ihr Finanzgebaren ist fast vollkommen undurchsichtig. Sie stellen ein privatisiertes sowjetisches Erbe dar. Mit dem Ende des planwirtschaftlichen Systems wurden diese Riesenunternehmen der zentralen Ministerien zu selbstregulierten Monopolen. Dabei wurde alten sozialistischen Reformvorstellungen einer Dezentralisierung der Macht gefolgt. Tatsächlich haben die Manager dieser Unternehmen ihre strukturelle Chance genutzt.

Sie bemühten sich, ihre Monopolstellung zu schützen und ihre Einkünfte zu steigern. Schon unter sozialistischen Bedingungen hatten diese Manager gelernt, staatliche Vorschriften zu umgehen oder zu unterlaufen. Nun strebten sie nicht danach, ihre Unternehmen umzustrukturieren und weltmarktfähig zu machen, sondern hohe Preise zu erzielen und den Zugriff auf Staatsgelder zu bekommen. Jeder Versuch zentraler Stellen oder der Steuerbehörden, Einblick zu erhalten und Kontrolle auszuüben, wurde als ungerechtfertigter Eingriff abgewiesen. Die Geschäftspraktiken dieser Unternehmen entziehen sich jeder Kontrolle.

Als Monopolunternehmen bedienen sie sich zeitgenössischer Methoden zur Steuerung von Konkurrenz und zur Gewinnung von Einfluß. So wollte der Hauptaktionär und Direktor von Uralmasch, Wacha Benukidse, einem der größten Maschinenbauunternehmen Rußlands, sein Unternehmen umbauen und dabei vor allem Strompreise einsparen. Die Elektrizitätsgesellschaft (EES) nahm nämlich das Dreifache des Preises, der im Westen zu bezahlen gewesen wäre. Es war daher erheblich billiger für das Unternehmen, ein eigenes Elektrizitätswerk zu errichten. Aber das Elektrizitätsunternehmen drohte, den Strom während der Bauzeit abzuschalten - es sei denn, es bekäme die Aktienmehrheit bei Uralmasch.

Bei nichtlegalen Aktivitäten können die Manager natürlich mit Straffreiheit rechnen. So hatten die Inspekteure der parlamentarischen Untersuchungskommission etwa 3 Milliarden DM auf verdeckten Konten von Unternehmen entdeckt, die ihre Beschäftigten nicht bezahlten. Nur 10 Prozent der Direktoren mußten eine kleine Strafe zahlen. 0,1 Prozent wurde angeklagt, mit Aussicht auf einen Freispruch.

Ein ganz undurchsichtiger Kontinent ist schließlich der Staatsbesitz. Noch immer kontrolliert der russische Staat offiziell 42 Prozent der Unternehmen des Landes. Aber darüber gibt es kein zentrales Register. Eigentlich weiß niemand so recht, wer das Staatseigentum hält. Das Dunkel ist kaum zu lichten.

Schattenwirtschaft und neuer Staat

Der russische Staat scheint finanziell am Ende zu sein. Die Akkumulation formeller Macht an der Staatsspitze hat die staatliche Handlungsfähigkeit nicht erhöht. Dafür gab es im März 1995 ein hübsches Beispiel: Jelzin gab eines seiner Dekrete heraus, mittels derer er regiert. Sämtliche Zollbefreiungen wurden auf einen Schlag gestrichen. Aber Jelzins eigene Regierung ignorierte das Dekret einfach. Schließlich stellte Jelzin seine Autorität wieder her, indem er in einem neuen Dekret, die alten Zollbefreiungen wieder anordnete.

In dieser Krise leidet vor allem die Bevölkerung. Und dennoch kann die Not in Rußland auch übertrieben erscheinen. Die offiziellen Statistiken sind auch auf der negativen Seite unzuverlässig. Sie erfassen die Schattenwirtschaft nicht und umfassen, Schätzungen zufolge, überhaupt nur zwischen 50 Prozent und 70 Prozent der wirtschaftlichen Tätigkeit.

Die Schattenwirtschaft umfaßt alle wirtschaftlichen Aktivitäten, die nicht bei den Steuerbehörden registriert sind und die keiner Steuer unterliegen - vom Verkauf des Gemüses aus dem eigenen Garten über privat bezahlte Autoreparatur bis zum Rauschgifthandel. Überwiegend handelt es sich um Aktivitäten, die vollkommen legal wären, wenn sie steuerlich erfaßt würden. Es gibt kaum einen Bereich, der in der Schattenwirtschaft nicht vertreten wäre, und kaum jemanden, der nicht in Kontakt mit ihr stünde. Die meisten illegalen Betätigungen sichern das schiere Überleben und ermöglichen zuweilen den Kauf bescheidener Luxusgüter wie eines Fernsehers oder von Kleidung. Damit trägt die aus der Not geborene Schattenwirtschaft zur Elastizität des Systems bei. Die Illegalität sichert paradoxerweise die Fortexistenz des Ganzen.

Auch in höheren Regionen werden Steuern eingespart. Viele Unternehmen frisieren ihre Statistiken so, daß sie kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen scheinen. Gleichzeitig greifen die Unternehmen auf unkontrollierbare Barzahlungen zurück. Wie westliche Mafiosi der fünfziger Jahre, tauschen die Manager mit Scheinen gefüllte Koffer aus. Auch über Naturalientausch, Messer gegen Gurken, lassen sich Erträge verschleiern. Schließlich gibt es die Möglichkeit einer wechselseitigen Schuldentilgung.

Besonders raffiniert lassen sich Produktionskosten steigern: Firma A bestellt bei Firma B Produkte. Firma B schreibt eine extrem hohe Rechnung und liefert. Firma A überweist das Geld auf ein Konto der Firma B. Die Differenz zwischen dem überhöhten Preis und dem wirklichen Preis zahlt Firma B nach einem Abzug für Unkosten in bar zurück. Firma A hat damit unregistriertes und verfügbares Bargeld und kann wegen der hohen Produktionskosten zugleich die Mehrwert- und Gewinnsteuer senken. Niemand kann etwas nachweisen, und sollten die Inspekteure bei der Firma B aufkreuzen, dann hat sie längst geschlossen.

Selbst die Tätigkeit des Finanzministeriums reicht in die Schattenwirtschaft hinein: 1996 etwa konnte es wegen knapper Finanzmittel nur ein Drittel der notwendigen Sozialausgaben anweisen. Gleichzeitig konnte es auf einem anderen Konto über etwa 900 Millionen DM frei verfügen und befreundeten Unternehmen vorteilhafte Kredite gewähren.

Natürlich gehört auch das wirkliche Verbrechen, gehören Rauschgifthandel, Schutzgelderpressungen und Prostitution zur Schattenwirtschaft, auch wenn sie von ihr nur einen Teil ausmachen. Doch auch die ehrenwerten Teilnehmer an der Schattenwirtschaft sind erpreßbar und fürchten sich.

Die kriminelle Überkrustung der russischen Wirtschaft läßt sich vom Rest kaum noch lösen. Aber damit verändert und normalisiert sich in Rußland auch der Begriff der Kriminalität. Es entsteht offenbar der neue Gesellschaftstyp einer radikalen Marktwirtschaft, in der die Differenz von Öffentlichkeit und Privatheit, von privater und öffentlicher Gewalt aufgehoben wird. Dem klassischen Ideal des liberalen Rechtsstaates entspricht das nicht mehr. Aber es könnte den Weg zeigen, auf dem angesichts des Globalisierungsdrucks und der daraus resultierenden Krise der öffentlichen Finanzen Rußland eine Vorbildrolle spielen könnte.