Bemühungen um einen Perspektivenwechsel (VII.)

Urteilsverkündung im Wiederaufnahmeverfahren Weimar/Böttcher

Eva Horn

"Das Ziel des Rechts ist der Friede, das Mittel dazu ist der Kampf."
Rudolf von Ihering

Der Rechtswissenschaftler Rudolf von Ihering hat unter anderem auch etliche Jahre in Gießen an der Lahn, dem Ort des Wiederaufnahmeverfahrens gegen Monika Böttcher, gelehrt, bevor er 1872 in Wien seinen Vortrag "Der Kampf ums Recht" hielt, den er mit dem im Motto zitierten Satz einleitete. Weiter heißt es bei ihm, "Recht ist unausgesetzte Arbeit und zwar nicht etwa bloß der Staatsgewalt, sondern des ganzen Volkes... Jeder einzelne, der in die Lage kommt, sein Recht behaupten zu müssen, übernimmt an dieser nationalen Arbeit seinen Anteil, trägt sein Scherflein bei zur Verwirklichung der Rechtsidee auf Erden."

Als am 56. Verhandlungstag vor dem Gießener Landgericht der Vorsitzende des Wiederaufnahmeverfahrens gegen Frau Böttcher, geschiedene Weimar, den Freispruch verkündete, jubelte und johlte das Volk (zum Entsetzen der zum Teil kreidebleichen Richter und Schöffen) ebenso lautstark und hemmungslos, wie es auch seinerzeit in Fulda bei der Verkündung der lebenslangen Freiheitsstrafe gejubelt und gejohlt hatte. Der Zusammenbruch der freigesprochenen Monika Böttcher unterschied sich allerdings erheblich von dem der verurteilten Monika Weimar in Fulda. Während sie damals nach innen weinte und nach außen Haltung zu wahren versuchte, versagte ihr dieses Mal der Körper die Fassung. Sie mußte von mehreren Personen gestützt in das Hinterzimmer des Gerichtes gebracht und die Verhandlung für einige Zeit unterbrochen werden. Als der Vorsitzende dann schließlich die Begründung des Freispruchs vortragen konnte, tat er das genau so unprätentiös, wie er zuvor schon zehn Monate lang die Verhandlung geführt hatte: ein bißchen nuschelig und ein bißchen so, als wolle er auch diesen letzten, aber entscheidenden Akt rasch hinter sich bringen.

Einen leichten Stand hatten weder er noch seine Kollegen und die beiden Schöffinnen in diesen Monaten gehabt. Der Druck, der durch den heftigen Kampf der Kontrahenten aus Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung entstand - Entlastendes für die Angeklagte Monika Böttcher bedeutete fast automatisch Belastendes für den Nebenkläger, ihren geschiedenen Mann Reinhard Weimar -, dieser Druck war ebenso mächtig wie der durch das Mediengezerre, das ständig in die Verhandlung hineinschwappte. Die Tatsache, daß der Spiegel die Nebenklage finanziell unterstützt hatte, machte seine Berichterstattung angreifbar, was von der Verteidigung immer wieder innerhalb des Verfahrens thematisiert wurde. Im Fuldaer Prozeß war die große Nähe zwischen Presse und Partei, das hieß damals zwischen Stern und Verteidigung, noch unthematisiert geblieben. Rückblickend ist allerdings interessant, daß sich in beiden Fällen diese Nähe als nachteilig für die involvierte Partei erwies.

Undurchsichtig blieb auch in Gießen, wie stark (oder schwach) dieses Mediengezerre von den einzelnen Parteien für eigene Zwecke instrumentalisiert werden konnte. An wechselseitigen Beschuldigungen, die das Gericht in der Regel unkommentiert ließ, herrschte kein Mangel, und an den gereizten Reaktionen war im Laufe der Verhandlung zu erkennen, daß keine Seite von diesem medialen Druck unberührt geblieben ist.

Monika Böttcher, die man 1988 in Fulda zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt hatte, wurde also vom Vorwurf des Mordes an ihren beiden fünf und sieben Jahre alten Töchtern freigesprochen, das Fuldaer Urteil aufgehoben. Aufgrund des Ergebnisses der Verhandlung sei die Kammer nicht mit der erforderlichen Gewißheit zu der Überzeugung gelangt, daß Frau Böttcher es war, die ihre Kinder ermordet hat. Dafür bedürfe es nicht nur der objektiven Sicherheit, sondern auch eines aus der Lebenserfahrung sich herleitendes Maß an subjektiver persönlicher Gewißheit. Da vernünftige Zweifel bestünden und auch nicht aufzuheben seien, sei sie freizusprechen.

Entschädigung für die Haft wurde ihr nicht zugesprochen, da sie mit dem Versuch, die wahren Geschehnisse zu verschleiern, um sich vor Schaden zu schützen, grob fahrlässig gehandelt habe.

Monika Weimar hatte am 4. August 1986 eine Vermißtenmeldung bei der Polizei veranlaßt und dann angegeben, ihre beiden Töchter seien verschwunden, sehr wohl wissend, daß die beiden Kinder zu diesem Zeitpunkt längst tot und ihre Leichen an verschiedenen Orten im Freien versteckt waren.

Erst Wochen nach Auffinden der getöteten Kinder hatte sie in der sogenannten Nachtversion geschildert, die Kinder seien bereits tot gewesen, als sie in den frühen Morgenstunden des 4. August nach Hause gekommen war, ihr Mann habe am Bett des jüngeren Mädchens gesessen und geweint. Zur Rettung der Kinder habe sie nichts unternommen. Später, nachdem sie gehört hatte, daß jemand mit dem Familienauto weggefahren und wieder zurückgekehrt war, sei ihr Mann zu ihr ins Schlafzimmer gekommen und habe zu ihr gesagt: "Jetzt bekommt keiner von uns die Kinder."

Sie selbst sei in dieser Nacht nicht in der Lage gewesen, die Situation zu erfassen, sie habe sich schuldig gefühlt, ihre Kinder mit dem kranken und alkoholabhängigen Mann alleine gelassen zu haben, und sie habe nicht diejenige sein wollen, die ihn und seine Tat preisgibt. Das Fuldaer Gericht war dieser Darstellung nicht gefolgt, sondern sah es als erwiesen an, daß sie selbst ihre Kinder am Vormittag des 4. August an einem der späteren Fundorte getötet hatte.

Der Freispruch der Gießener Kammer kam nicht ganz unerwartet. Bereits seit Ende letzten Jahres waren am spontanen Verhalten des Vorsitzenden Veränderungen abzulesen. Traf bis dahin seine etwas ablehnende Gestik und Ungeduld eher die Verteidigung, so richtete sie sich nun gegen Nebenklage und Staatsanwaltschaft. Auslöser für diesen Umschwung dürften die Angaben einer Psychiatriepatientin gewesen sein; diese nämlich war trotz gegenteiliger Vorhalte dabei geblieben, sich 1989 einige Zeit gleichzeitig mit Reinhard Weimar in einer psychiatrischen Klinik aufgehalten zu haben und dieser habe ihr damals bei einem Gespräch erzählt, er sei es gewesen, der die Kinder "totgemacht" habe. Anschließend, so die Zeugin, habe er auf der Toilette versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Nach Überprüfung erwiesen sich die Angaben der Zeugin über den gemeinsamen Aufenthalt in der Klinik als zutreffend, lediglich eine kleine Abweichung im Datum gab es.

Wegen der bestehenden Schweigepflicht der Reinhard Weimar behandelnden Ärzte konnten die Angaben über den Selbstmordversuch nicht konkret bestätigt werden; der Vorsitzende verlas dann aber, gegen den ausdrücklichen Protest des Nebenklägervertreters (Nebenkläger ist Reinhard Weimar) eine gutachterliche Stellungnahme, aus der zumindest allgemein hervorging, daß Herr Weimar etliche Selbstmordversuche unternommen hatte.

Auffällig an der Formulierung "totgemacht", die die Zeugin verwendete, war nicht nur, daß sie auch bei mehreren anderen Zeugen auftauchte, denen Herr Weimar die Tat gestanden haben soll; er hatte sie selbst im Laufe der Ermittlungen auch der Kripo gegenüber verwandt ("ich kann mich nicht erinnern, die Kinder totgemacht zu haben"), wie aus den in Fulda verlesenen Protokollen hervorging.

Anfang dieses Jahres mehrten sich dann die Hinweise darauf, daß das Gericht (die gleiche Kammer hatte ja 1994 die Eröffnung des Wiederaufnahmeverfahrens abgelehnt) seine Einstellung geändert haben dürfte; das Interesse an der zuvor schon einmal gescheiterten Vorladung von Kevin Pratt, dem früheren Freund von Frau Böttcher, und von Raymond E., ihrem Schwager, war sichtlich gering, und ebenso gering war das Interesse an der Verlesung der Protokolle der Telefonüberwachung. Es waren Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die auf beidem beharrten und es dann auch durchboxten - allerdings nicht mit dem wohl erhofften Erfolg. Die ausschnittweise auch laut verlesenen Telefonüberwachungs-Protokolle entpuppten sich als Dokumente der Verzweiflung, und der Zeuge Pratt ließ die Reste eines schon in Fulda angeknacksten Motivs vollends zerbröseln. Statt dessen kam zum Vorschein, was der Vorsitzende in der Urteilsbegründung dann freihändig mit "man hatte Herrn Weimar vors Schienbein" getreten, auf den Punkt brachte.

Dieser Freispruch hat sich also nach und nach entwickelt, ist das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses, an dessen Ende die Einsicht steht, daß dieser Fall mit dem in diesem Verfahren zur Verfügung stehenden Mitteln nicht aufzuklären ist.

Daß der Nebenklägervertreter, und nicht nur er, im Anschluß an den Freispruch öffentlich äußerte, die beiden Schöffinnen hätten starke Emotionen gezeigt (er auch, nur andere), sie seien dem medialen Druck wohl nicht gewachsen gewesen, und dies als Hinweis darauf wertete, das Gericht sei schöffinnendominiert gewesen, spricht eher dafür, daß er die Zeichen und Hinweise vorher nicht erkannt oder zu deuten verstanden hat. Gleichzeitig kommt in diesem Vorwurf zum Ausdruck, daß da jemand eine für ihn unangenehme Entscheidung entwerten möchte, und die Schöffinnen samt Gericht gleich mit dazu.

Nun hatte der Nebenklägervertreter zu Beginn seines Schlußplädoyers eine Formulierung Alice Schwarzers aufgegriffen, das Fuldaer Verfahren gegen Frau Weimar sei Ausdruck eines Geschlechterkrieges gewesen, und er hatte, zu Recht, darauf hingewiesen, daß davon in dem Gießener Wiederaufnahmeverfahren nicht die Rede sein könne. Bedauerlich ist, daß er ihn nun mit seinen abfälligen Kommentaren selbst wieder einführte.

Andererseits ist die Empfindlichkeit und Gereiztheit, wohl auch die große Enttäuschung, die darin zum Ausdruck kommt, gut zu verstehen. Denn der Freispruch für die geschiedene Frau Weimar stellt unausweichlich die Frage in den Raum: Was ist denn nun mit Herrn Weimar? Um die Vermeidung dieser Frage hatte der Vertreter von Reinhard Weimar zehn Monate lang gekämpft.

Das Gießener Wiederaufnahmeverfahren hat, wie in der mündlichen Urteilsbegründung deutlich wurde, zur Aufklärung des Geschehens am 3. und 4. August 1986 wenig bis nichts beitragen können. - Was aber in Gießen einiges an Kontur gewann, war, wie es seinerzeit zu dem hatte kommen können, was dann als "Geschlechterkrieg" bezeichnet wurde, und wie es möglich war, daß das Fuldaer Gericht unter der Führung eines stark dominierenden Vorsitzenden sich den auch schon damals offenkundigen Zweifeln verschloß und auf schuldig befand.

Das Ungewöhnliche an diesem Fall Weimar - und was ihn von anderen Fällen von Kindestötung unterscheidet - war und ist das Verheimlichen und Verleugnen der Tat, ist ihre Verschleierung. Die Ermittler bekamen im August 86, als die Kinder "vermißt" gemeldet wurden, etwas anderes als das tatsächliche Geschehen vorgesetzt. Ihre Wahrnehmung wurde getrübt und vom eigentlichen Geschehen abgelenkt, woraus zunächst einmal Hilflosigkeit entsprang. Denn das, was tatsächlich geschehen ist, was getan, das heißt, was verbrochen wurde, ist trotz des Verheimlichens anwesend, teilt sich mit in Gesten und Verhaltensweisen, in der Atmosphäre, bleibt aber, da es im Gegensatz zu den verbal geäußerten Informationen steht, undeutlich und verschwommen. Diese Ungewißheit und das Hinundhergerissensein zwischen Mitteilungen einerseits und dem eigenen Empfinden andererseits schafft gerade in einem Fall, in dem es um das Leben von Kindern und die Existenz einer Familie geht, unerträgliche Spannungen. Und wo Eindeutigkeiten und Gewißheiten nicht zu haben sind, wachsen die Vorstellungen.

Die Vorstellung damals, in den ersten Tagen des "Vermissens", war: Ein Elternteil, Vater oder Mutter, habe die Kinder im Vorgriff auf eine Scheidung "in Sicherheit" gebracht (ihre Entsprechung hatte diese Vorstellung in dem von Herrn Weimar gesprochenen oder von Frau Weimar erfundenen Satz: "Jetzt kriegt keiner von uns die Kinder.").

Es konzentrierten sich damals die Überlegungen der Beamten sehr schnell auf Frau Weimar, denn diese fiel schon am ersten Tag des "Verschwindens" durch ihr Verhalten auf. Sie suchte nicht nach den Kindern, sondern "saß teilnahmslos auf der Treppe und rauchte. Aber ihr normales Verhalten war mir nicht bekannt", so einer der Beamten. Oder: "Er legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter, sie schob sie weg", so ein anderer. Man erfuhr zu dieser Zeit, im Verlauf eines heftigen Streites zwischen mütterlicher und väterlicher Verwandtschaft, "von den Amerikanern", von der Existenz des Liebhabers der Frau Weimar, des Kevin Pratt, und von der des amerikanischen Ehemannes der jüngeren Schwester. Man erfuhr damit auch, in welch desolater Situation sich Reinhard Weimar als betrogener Ehemann damals befand ("man hatte ihm vors Schienbein getreten"). Was später als "Geschlechterkrieg" firmierte, präsentierte sich damals also noch als Ehekrieg, und den Äußerungen der Kripobeamten - sowohl in Fulda wie auch in Gießen - war zu entnehmen, welcher Partei sie in diesem Krieg spontan zuneigten: "Der (Mann) hat mir einfach leid getan, von Anfang an."

Als Kevin Pratt jetzt in Gießen an einem der letzten Verhandlungstage vernommen wurde, beschrieb er, wie er in den Wochen vor der Ermordung der Kinder dort im Hause Weimar "dem Reinhard" begegnet war, wie dieser "plötzlich hereingekommen" sei und zu schimpfen und streiten angefangen und gedroht habe, gewalttätig zu werden. Kevin Pratt beschrieb auch, und das sehr anschaulich, wie er diesen Eindringling verscheuchte.

Im Tenor seiner Schilderung kam zum Ausdruck, daß es diesem Zeugen auch mit zehn Jahren Abstand noch nicht aufgefallen war, daß er den Ehemann und Vater der Kinder seiner Freundin in seinem eigenen Hause nicht nur demütigte, sondern ihm auch noch bewies, wer hier der Stärkere war. Seinen Schilderungen waren nicht die geringsten Skrupel zu entnehmen, daß er diesem nicht sehr umgänglichen Mann und Vater nicht nur die Frau, sondern auch noch die Kinder abspenstig machte und sich dabei wie der bessere (Zweit-)Vater fühlte.

Bei diesen ausführlichen Schilderungen des Kevin Pratt konnte man ein Gespür dafür bekommen, was sich in diesem Hause zusammengebraut hatte, und man konnte auch ein Gespür dafür bekommen, was sich damals den ermittelnden Kripobeamten über die dort herrschenden Verhältnisse mitgeteilt haben muß, als sie diesen Zustand durchschauten. Der Schutzreflex dem Manne gegenüber, der da durch die Reihen der Kripobeamten ging, ist gut nachvollziehbar. Problematisch war und ist, daß in diesen Schutzreflex die Frage der Täterschaft miteinbezogen wurde, daß man nicht trennen konnte zwischen den unangenehmen und rücksichtslosen Verhaltensweisen des Liebespaares dem Manne gegenüber und der Frage nach der Täterschaft. Statt dessen entstand da eine geradezu unauflösbare Verbindung zwischen beidem. Weil man nicht wollte, daß einem Mann solche Demütigungen angetan werden, wollte man auch nicht, daß er der Täter ist. Und als er dann schließlich in seiner Vernehmung Angaben machte, "die man so nicht erwartet hatte", als er nämlich sagte, er könne sich nicht erinnern, "die Kinder totgemacht zu haben", und für das Wegbringen käme er eher nicht in Frage, brach man die Vernehmung ab.

Zu diesem Schutzreflex dem Manne gegenüber paßt dann auch gut, daß bei der Untersuchung der Kleiderstücke beider Eheleute eine sehr befremdlich wirkende Auswahl getroffen wurde: mehr als zwanzig Teile von ihr und nur drei Teile von ihm, und diese letzteren waren untersuchungstechnisch dann auch noch weitgehend unbrauchbar. Wie sollte unter solchen Voraussetzungen eine überzeugende und gerechte Aufklärung des Falles noch möglich sein?

Nun hätte man aber vermuten können, daß das Gericht damals in Fulda, das immerhin mehr als vierzig Prozeßtage lang verhandelte, dieses Manko erkennt und anerkennt und die entsprechenden Konsequenzen zieht. Statt dessen klinkte es sich in den Schutzreflex dem Manne gegenüber ein und setzte die Verbindung dessen, was unbedingt getrennt gehört hätte, fort. Den Ehemann und Vater stützte es in seinem Selbstverständnis, ein guter Vater gewesen zu sein, indem es ihm Sätze in den Mund schob wie: "Herr Weimar will sagen, er habe den Kinderwagen ab und zu mit Interesse geschoben"; und es vertrat auch noch den Verdacht des Mannes, seine Frau habe ihn mit Tabletten vergiften wollen, in dem es die Frau blauäugig fragte: Was hätte ihr Mann denn für einen Grund haben sollen, frühmorgens Beruhigungstabletten einzunehmen?

Der Fuldaer Vorsitzende wurde auch in Gießen gehört, so daß Gelegenheit bestand, ihn außerhalb des Fuldaer Verfahrens in Aktion zu erleben. Es ging um die Frage, was mit den Tonbändern von den überwachten Telefongesprächen geschehen sei. "Mit spitzen Fingern" habe er die "Dinger" angefaßt, sie seien ihm widerlich gewesen, meinte der Zeuge. Daran, was mit ihnen geschehen war, und daß er selbst über ihren Verbleib Anordnungen gegeben hatte, erinnerte er sich zu seinem großen Erstaunen nicht. Als der psychiatrische Sachverständige, dessen Gutachten über Frau Weimar er seinerzeit nur wenig Beachtung geschenkt hatte, ihn dann darauf hinwies, daß es sich bei diesem Nichterinnern um das handelt, was man affektives Vergessen nenne, antwortete er: "Das ist das erste Mal, daß mir jemand affektives Vergessen nachweist."

Es ist beachtlich, wie dieser Mann aus einer freundlich-ironischen Bemerkung, die bei ihm vermutlich als Retourkutsche für seine damalige Ignoranz ankam, einen Nachweis macht. Und statt nun einmal dabei stehenzubleiben und dieses "affektive Vergessen" auf sich wirken zu lassen, gab er den Nachweis nach kurzem Überlegen an den Gutachter zurück: "Und was ist mit Ihnen, Sie haben es (die "Dinger") doch auch vergessen."

Der Zeuge, der die fünfzig weit überschritten und Jahrzehnte Berufserfahrung auf dem Buckel hat, hinterließ, bei näherer Betrachtung, den Eindruck, daß er mit seinen affektiven Reaktionen nicht sonderlich vertraut ist, es erst eines "Nachweises" bedarf, um sie überhaupt ins Kalkül zu ziehen. Und aus diesem Eindruck entwickelte sich die Frage, ob von einem solchen Menschen denn zu erwarten gewesen wäre, daß er die affektiven Reaktionen anderer, nämlich den Schutzreflex der Kripobeamten dem Reinhard Weimar gegenüber, überhaupt hat erkennen können, um sie anschließend von der Frage nach der Täterschaft zu trennen.

Andererseits enthält das Wort "nachweisen" auch eine Relativierung, es trennt nämlich die Selbsterkenntnis von der Erkenntnis anderer über einen, läßt aber gleichzeitig offen, ob die Selbsterkenntnis dem Nachweis vorausgegangen ist oder nicht.

Es ist Sache der Verteidigung, einem Gericht das Schlupfloch, das sich zwischen möglicher Selbsterkenntnis und dem Eingeständnis dieser Erkenntnis auftut, zu verstopfen und es zu veranlassen, Farbe zu bekennen, das heißt Konsequenzen zu ziehen. In Fulda hatte der Vorsitzende den Eindruck hinterlassen, daß ihm eine Verteidigung, die ihn zu diesem Eingeständnis gezwungen hätte, durchaus willkommen gewesen wäre. Dazu war die damalige Verteidigung aber nicht imstande. Die Kapazität dieses Mannes blieb gewissermaßen unausgelastet und seine Gebundenheit in die Einheit von Schutzreflex und Täterschaft (die man auch Befangenheit nennen könnte) ungebrochen.

Hier genau liegt der Unterschied zum Gießener Verfahren. Auch der Gießener Vorsitzende ließ zu Anfang die Neigung erkennen, den bequemen Weg über den Fuldaer Trampelpfad zu gehen und die Einheit von Schutzreflex und Täterschaft unangetastet zu lassen. Der Verteidigung ist es aber, dank ihrer großen, bisweilen auch unerträglich wirkenden Penetranz und dem heftigen Ringen mit den Kontrahenten aus Staatsanwaltschaft und Nebenklage gelungen, das reflexhafte Schutzverhalten gegenüber dem Mann von der Entwicklung der objektiven Beweiskette zu trennen oder die Verwobenheit dieser beiden Stränge deutlich zu machen. Das Fuldaer Urteil wurde von den darin enthaltenen Vorstellungen, insbesondere von den Exkulpationen des Mannes, befreit. Was bleibt, ist eine nur selten unterbrochene Aneinanderreihung von Fragezeichen und ein nicht aufzulösender Widerspruch zwischen Nachtversion und den Angaben von Zeugen, die die Kinder am Vormittag des 4. August noch gesehen haben.

Die Gießener Urteilsbegründung zeugt von starkem Realitätssinn, das Nichtgewußte und Unbewiesene wird nicht mit Vorstellungen, sondern mit Verneinungen gefüllt: Wir haben keinen sicheren Nachweis dafür, wann die Kinder getötet wurden, ob das in der Nacht oder am Tag passiert ist... es ist nicht auszuschließen, daß Frau Weimar die Kinder getötet hat, aber in der kurzen Zeit am Vormittag... beim Anruf (von Frau Weimar) bei ihrer Mutter ging Reinhard Weimar auf die Toilette... wir sind sicher, daß Frau Weimar gegen 11 Uhr losgefahren ist... die Kinder wurden nach ihrem Tod im PKW der Familie transportiert... das Fahrzeug hat am Morgen des 4. alleine Frau Weimar gefahren, Herr Weimar hielt sich zu Hause auf... schwerwiegende Zweifel, daß Frau Weimar nach ihrer Rückkehr (in der Nacht) noch engen Kontakt mit den Kindern und ihrer Kleidung hatte... auch der Fingernagelschmutz bringt nichts, was für einen direkten Kontakt... es ist auch denkbar, daß sie nicht die ganze Wahrheit über die Nacht gesagt hat... das unklare Motiv ist geeignet, die Beweislage noch kritischer zu beurteilen... das psychologische Gutachten... spricht... von einem möglichen Solidarisierungseffekt dem Manne gegenüber und starken Schuldgefühlen... die glaubhaften Aussagen zweier Zeugen reichen nicht aus, um eine Verurteilung darauf zu stützen.

Zuvor war in den Schlußplädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung noch einmal die Relativierbarkeit der Angaben in den Vernehmungsprotokollen vom August 86 deutlich geworden und wie sie, je nach Interpret, in die belastende oder entlastende Richtung ausgelegt werden können. Wo die Staatsanwaltschaft es als erwiesen ansieht, daß Schwester und Schwager in der Nacht gegen halb drei das kleinere Kind laut weinen gehört haben, kann die Verteidigung den gleichen Vorgang unter Zitierung der gleichen Zeugen eine Stunde früher legen, um so das Argument, der Mann habe in der Nacht nicht genügend Zeit für die Tat gehabt, zu relativieren.

Auch nahm die Verteidigung ihren Dauerkonflikt mit der Nebenklage noch einmal auf und ließ deutlich werden, daß die Zulassung einer Nebenklage in einem solchen Fall, in dem die Täterfrage auf nur zwei Personen zugespitzt ist, nämlich die Angeklagte und den Nebenkläger, sich am Rande des Mißbräuchlichen bewegt.

Andererseits hat die Verteidigung allen Grund, dem Nebenklägervertreter dankbar zu sein, denn beide Seiten wären ohne die jeweils andere sicher nicht zu solchen Hochformen aufgelaufen.

Im Zweifel für die Angeklagte. Mehr, zum Beispiel die Wahrheit, war angesichts der frühzeitig verhunzten Beweisführung in diesem Fall nicht mehr zu erwarten. So ist der Friede, das Ziel des Rechts, zwar nicht erreicht, aber immerhin ist nach Kräften gekämpft worden, so daß der Zweifel den ihm gebührenden Platz bekommen hat.