Können die französischen Intellektuellen dem Marxismus entkommen?

Dick Howard
 

Obwohl die französischen Intellektuellen Marx nicht unbedingt gründlich gelesen haben, bleiben viele von ihnen dem Marxismus eng verhaftet. Ein amerikanischer Philosoph, seit Jahrzehnten mit dem intellektuellen Leben Frankreichs vertraut, fragt nach den Gründen.

Obwohl meine Überschrift1 eine Frage stellt und meine Analyse deskriptiv sein wird, so ist die Schlußfolgerung, die ich ziehen werde, doch normativ. Ich möchte ein Argument unterbreiten, das historisch, soziologisch und philosophisch die Anziehungskraft des Marxismus in Frankreich erklärt; die Art der intellektuellen Optionen, die in der Wahl derjenigen eingeschlossen sind, die ich mit einem groben Pinsel - Marx' eigener Beschreibung im Kommunistischen Manifest folgend - als "Kommunisten" malen möchte, mitsamt den Stärken und Schwächen dieser Position. Schließlich möchte ich noch einige Indizien für das Aufkommen eines anderen intellektuellen Stils liefern - eines Stils, den ich attraktiver finde und an anderer Stelle als "Politik der Urteilskraft" bezeichnet habe.2 (Bis zu welchem Grad diese neue Figur mit politischem Stil und Substanz der neuen Regierung Jospin korrespondiert, ist eine Frage, die ich einer anderen Diskussion überlasse.)

Dem Titel entsprechend werde ich meine Argumente in der Form von 11 Thesen präsentieren. Die Parodie auf Marx ist natürlich absichtsvoll. Nicht intendiert, aber unvermeidbar, ist die Technik, die von den Intellektuellen alten Stils so gut beherrscht wird: das Amalgam. Ich male ein Gruppenbild und beziehe mich nicht auf spezifische Fälle, die mehr oder weniger dem Bild entsprechen mögen, welches ich hier entwerfe (z.B. hat Pierre Bourdieu jüngst den Ernst-Bloch-Preis erhalten - eine Ironie, die keines weiteren Kommentars bedarf).

1. Französische und amerikanische Intellektuelle verkörpern zwei unterschiedliche Stile: der eine politisch, der andere moralisch. In den Vereinigten Staaten wie in Frankreich ist der Intellektuelle ein Spezialist des Universellen - im doppelten Sinne: (a) er ist um alles besorgt, und (b) er beansprucht universale Gültigkeit für seine Argumente. Aber in den USA tendiert der Intellektuelle dazu, ein Moralist zu sein (und kein Technokrat oder Pragmatist, wie manchmal behauptet wird: denn in dem Fall wäre Kriterium [b] - Universalität - nicht erfüllt). Dazu kommt, daß in den USA der Intellektuelle dazu neigt, sich nicht nur gegenüber den herrschenden Mächten, sondern auch gegenüber der Öffentlichkeit, von der er unmittelbares Verständnis oder sofortige Unterstützung nicht erwartet, in Opposition zu setzen. (Von daher mag der Intellektuelle als elitär gelten und mag vielleicht auch tatsächlich - bewußt oder unbewußt - elitär sein. Gleichzeitig jedoch tendiert der amerikanische Intellektuelle auch dazu, Populist zu sein, da er glaubt, daß die Leute im Grunde moralisch sind und an ihre "bessere Seite" appelliert werden kann. Aber Populismus stellt noch keine Politik dar; es ist Moralismus, verkleidet als Politik.) Daher folgt, daß der amerikanische Intellektuelle, selbst wenn er sich in "politische" Dinge einmischt, in der Regel kein politischer Akteur ist und nichts zum Verständnis von Politik beitragen kann.

Im Unterschied dazu ist der französische Intellektuelle ein politisches Wesen. Selbst seine moralischen Interventionen leisten ihren Beitrag, das Politische zu definieren. Außerdem kann der französische Intellektuelle auf der Rechten ebenso wie auf der Linken angesiedelt sein, während der amerikanische Intellektuelle sich schon immer eher auf dem linken Flügel des politischen Spektrums bewegt (oder, wenn auf dem rechten, dann besteht er auf "Werten", die den "Interessen" entgegengestellt sein müssen, wie zeitgenössische Debatten zeigen). Dieser letztgenannte Aspekt ist der Beziehung der Intellektuellen zu den verschiedenen revolutionären Traditionen geschuldet, die der politischen Kultur der beiden Länder zugrunde liegen. Allerdings wurde der amerikanische Intellektuelle nur selten vom Marxismus angezogen, der bis vor kurzem eine feste Größe in der französischen Politik darstellte.

2. Historische Veränderungen könnten den französischen Intellektuellen obsolet gemacht haben. Man kann feststellen, daß mit der verspäteten Entdeckung des Totalitarismus die Situation und das Selbstverständnis der französischen Intellektuellen sich geändert haben. Dies hätte mehr Bedeutung, wenn der Marxismus die zentrale Rolle gespielt hätte, die viele ihm zugeschrieben haben. Aber es könnte auch behauptet werden, daß die Kritik des Totalitarismus die zunehmende Rolle der Ethik im politischen Leben Frankreichs erklärt, sowohl innen- als auch außenpolitisch. Gleichermaßen könnte dies auch das gestiegene Interesse an und die vermehrte Rezeption von philosophisch-moralischen Beiträgen aus den USA verständlich machen. Was diese Entwicklung für den zukünftigen Status von Intellektuellen in der neuen, globalen Weltordnung bedeuten könnte, lasse ich hier beiseite. Eine andere Hypothese sollte jedoch erwogen werden. Vielleicht resultiert die veränderte Natur und Rolle des französischen Intellektuellen aus der Globalisierung, die nationale Grenzen zunehmend irrelevant gemacht hat für das "globale Dorf". Diese Hypothese könnte erklären, warum Frankreich im letzten Jahrzehnt hauptsächlich eher "provinzielle" intellektuelle Arbeit geleistet hat.

3. Der französische Intellektuelle ist kein Marxist, die französische Kultur hingegen ist marxistisch. Amerikaner, besonders die der 68er Generation, glauben oft, französische Intellektuelle bewegten sich innerhalb des marxschen Erbes und entwickelten es weiter. Tatsächlich aber fallen einem kaum wichtige französische Beiträge zum Marxismus ein - vielleicht aufgrund des Konformitätsdrucks, der von der Kommunistischen Partei ausgeübt wurde und etwa Henri Lefèbvre aus ihren Reihen getrieben hat. Der eine systematische Versuch, die philosophischen Grundlagen des Marxismus zu festigen, Sartres Critique de la raison dialectique, hatte wenig Einfluß (trotz des unter dem Pseudonym "Epistemon" unternommenen Versuchs zu zeigen, daß der Mai 68 ihre Umsetzung in die Praxis war [in Ces idées qui ébranlèrent la France]). Die andere ernsthafte philosophische Auseinandersetzung - in den Seiten der damals wenig bekannten und noch weniger gelesenen Zeitschrift Socialisme ou Barbarie - führte ihre führenden Köpfe, Cornelius Castoriadis und Claude Lefort, zu einer strengen Kritik der Marxschen Prämissen und schließlich zur Ausarbeitung ihrer eigenen politischen Theorien, die sich vor allem mit der Radikalität der demokratischen Forderungen befassen, die Marx übersah. Die systematischste Studie über Marx - ungeachtet des kurzen "Althusserischen Moments" - bleibt La pensée de Karl Marx des Jesuiten Jean-Yves Calvez, 1957 in erster Auflage erschienen. Dies ist nicht einfach eine Ironie der Geschichte; es verweist auf die Art, in der Marx bei den französischen Intellektuellen präsent ist.

Wenn marxsche Theorie im philosophischen Leben Frankreichs keine große Rolle spielt, so spielt sie doch (selbst heute noch) eine zentrale Rolle in der intellektuellen Kultur. Konzepte wie Klassenkampf, bürgerliche Herrschaft oder kapitalistische Ausbeutung bleiben derart unbestrittene Grundannahmen, daß es den Amerikaner verblüfft. Dies erklärt den französischen Spott (und den spöttischen Horror) über "political correctness": man ist überzeugt, härtere Nüsse knacken zu müssen. So mag sich auch erklären, warum der französische Feminismus vergleichsweise unterentwickelt bleibt. Eher positiv gewendet, ließe sich daraus freilich zugleich die Fähigkeit der französischen Intellektuellen erklären, öffentliches Gehör für ihre Kritik zu finden: Wenn nicht die Marxsche Theorie, so sind doch die Grundannahmen des Marxismus tief in den Boden der französischen Kultur eingedrungen.

4. Der französische Intellektuelle illustriert Marxens Voraussetzungen. Die Metapher des "französischen Kulturbodens" spielt auf die Stelle an, wo der junge Marx, nachdem er die revolutionäre Natur des Proletariats entdeckt hatte (in "Zur Kritik von Hegels Rechtsphilosophie. Einführung"), darauf bestand, daß es des Blitzes des Gedankens bedürfe, der in den naiven Volksboden einschlage, um die Befreiung der Menschheit zu verwirklichen. Dieser Gedankenblitz, so Marx im Kommunistischen Manifest, würde von dem "Kommunisten" ausgehen, der mit dem Verständnis des notwendigen Verlaufes der Geschichte gewappnet ist. Dieser "Kommunist", hat Claude Lefort argumentiert, stellt eine neue "Gestalt" in der Politikgeschichte dar, eine Figur, die sich paradoxerweise gleichzeitig innerhalb der Geschichte befindet und doch in der Lage ist, über sie hinauszugehen und Rechenschaft abzulegen über ihren unaufhaltsamen Fortschritt. Der "Kommunist" geht davon aus, daß der Boden, der das potentielle revolutionäre Subjekt hervorbringt, ständig vorhanden ist, ein Aschenputtel (wie Marx es ausdrückt), das lediglich des Funkens an Bewußtsein bedarf, damit es aufgeweckt wird. Amerikanische Intellektuelle haben seit den sechziger Jahren versucht, von diesen Voraussetzungen aus zu operieren; zuerst indem sie eine vergessene Tradition des Klassenkampfes wiederzubeleben suchten, dann indem sie sich der Geschichte von Ethnien zugewandt haben, um ein breiteres Terrain abzustecken, schließlich indem sie ihre Reichweite auf das Feld der "Kultur" ausgeweitet haben. Das einzige Ergebnis war allerdings die Entwicklung akademischer Spezialfächer (z.B. cultural studies), die kaum ein Echo in der breiteren Öffentlichkeit hervorgerufen haben. Während einige französische Intellektuelle von ähnlichen Voraussetzungen ausgehen (etwa Bourdieu), gilt dies nicht für die Mehrheit. Und doch finden ihre Interventionen so viel Gehör, daß es die Amerikaner wieder einmal eifersüchtig macht - und neugierig, warum das so ist.

In diesem Zusammenhang ist es nützlich, den französischen Intellektuellen in Erinnerung zu rufen, welcher in den sechziger Jahren, während er gläubiges Mitglied der Kommunistischen Partei blieb, eine philosophische Reflexion über Marx aufnahm: Louis Althusser. Althussers grundlegende Intuition beruhte vor allem auf seiner Betonung des "epistemologischen Bruchs", der den "Humanismus" des jungen Marx vom "wissenschaftlichen" Entdecker eines "neuen Kontinents" in der ökonomischen Theorie seiner reifen Jahre trenne. Althussers Beitrag war Teil einer allgemeinen Bewegung, durch welche der Strukturalismus, die Analyse von subjektlosen Prozessen, das französische intellektuelle Leben erobert hat. Diese Bewegung stellte ihrerseits einen paradoxen "Prozeß" der Selbstverleugnung dar, bei dem der Intellektuelle auf einen Schlag die Rolle der bewußten sozialen Intervention verwarf und - zur selben Zeit und auf derselben Grundlage - eben diese Rolle ungeheuer aufblähte. Wie im Falle des Marxschen "Kommunisten" war der Intellektuelle gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Geschichte. Scheinbar bescheiden wies er die "bourgeoise" Subjektivität zurück. In Wirklichkeit erlag er aber der größten Hybris: dem Anspruch, die historische Notwendigkeit zu kennen. Diese Haltung hatte zweifellos etwas Anziehendes an sich; ein amerikanischer Möchtegern-Intellektueller konnte zur Zeit des Vietnamkrieges, frisch aus der durch "Teach-ins" gekennzeichneten Campus-Atmosphäre kommend, auf eine Anti-Kriegs-Demonstration in Paris gehen, den rhetorisch brillanten Entlarvungen applaudieren und den Sprecher ebenfalls applaudieren sehen - nicht aufgrund seiner Ablehnung "bourgeoiser" Subjektivität oder Selbstsucht, sondern weil er lediglich das gesagt hatte, was der Weltgeist sowieso schon wußte. Es ist schwer, sich die politische Form des "Teach-ins" in Frankreich vorzustellen - zumindest in den Tagen, als der Intellektuelle und der "Kommunist" ihre Vorurteile geteilt haben. Tatsächlich wandten sich Althussers junge Schüler lieber dem politischen Voluntarismus des Maoismus zu.

5. Die französische intellektuelle Tradition ist breiter als ihre "kommunistische" Deformation. Die Hybris des "Kommunisten" beinhaltet die Verleugnung persönlicher Verantwortung (was die politische Unlauterkeit und die Prinzipienlosigkeit erklärt, welche diese Tradition prägen). Aber die französische intellektuelle Tradition - mindestens bis auf Voltaires "Ecrasez l'infâme" zurückgehend, im neunzehnten Jahrhundert ihre gefeiertste Fortsetzung in Zolas "J'accuse" findend und im zwanzigsten Jahrhundert aufgenommen von Péguy, Simone Weil und zeitweise sogar Sartre - hatte eine moralische Verantwortung akzeptiert. Die typische Form intellektueller Einmischung war nicht die wissenschaftliche Analyse, sondern die Erklärung, das Pamphlet; sie war eher literarisch (oder "moralistisch") denn technisch oder pragmatisch. Jedoch könnte dieser Zweig der intellektuellen Tradition Frankreichs beschuldigt werden, zu moralisch oder nicht ausreichend verantwortungsbewußt gewesen zu sein. Daher hat Toqueville bekanntlich die "philosophes" dafür kritisiert, die praktischen Imperative des Regierens vernachlässigt und damit eine Revolution zustande gebracht zu haben, die zu beenden ihr eigener Moralismus unmöglich machte. In ähnlicher Form hat Reinhard Koselleck in Kritik und Krise zu zeigen versucht, daß die Rolle des Intellektuellen bei der Formung der öffentlichen Meinung vor der französischen Revolution auf einem Moralismus basierte, welcher implizit der Ausdruck eines politischen Programms war, das sich entweder nicht traute, in eigenem (politischem) Namen zu sprechen, oder aber sich seiner eigenen politischen Prämissen nicht bewußt war. Das Ergebnis war, daß die politische Ordnung es nicht bekämpfen konnte und es, als es an die Macht kam, unfähig war, sich selbst eine stabile institutionelle Form zu geben. Im gegenwärtigen Kontext jedenfalls ist bedeutend, daß die moralische Intervention des französischen Intellektuellen trotz der Schärfe der Kritik ein öffentliches Echo fand, wie es bei ähnlichen Aktionen des amerikanischen Intellektuellen ausbleibt (oder nur ausnahmsweise erfolgt). In Frankreich ist eine intellektuelle Tradition, die in seinem "Boden" verwurzelt ist. Die Frage bleibt: warum?

6. Der französische Intellektuelle ist ein soziales Konstrukt. Der Intellektuelle taucht als sozialer Typus erst auf, wenn eine Öffentlichkeit existiert, die für seine Worte empfänglich ist. Emile Durkheims bemerkenswerter Aufsatz "Individualismus und die Intellektuellen"3 illustriert diesen Punkt. Die Dreyfusards wurden beschuldigt, die Autorität (der Armee) in Frage zu stellen; ihr Insistieren auf der alleinigen Autorität der Vernunft, so wurde behauptet, stelle eine Bedrohung der sozialen Harmonie in Frankreich dar. Darauf erwiderte Durkheim, daß die Wurzeln dieser Haltung bei Rousseau und Kant zu finden seien und durch die Menschenrechtserklärung und den moralischen Katechismus der Dritten Republik begründet seien. Individualismus ist, laut Durkheim, die Religion des Menschen "im ritualen Sinne des Wortes"; er ist heilig und muß in derselben Weise verteidigt werden, wie Gläubige auf die Profanierung eines Idols reagieren. Solch ein Individualismus stellt zugegebenermaßen "la personne humaine" über den Staat und erlaubt keinen Kompromiß. Doch heißt dies nicht, daß die Rechte der Gemeinschaft ignoriert werden; der Kantianismus, so bemerkt er, produzierte Fichte, der bereits "ziemlich durchdrungen von Sozialismus" war, und Hegel, der wiederum Marx hervorbrachte. Und natürlich wurde Rousseaus Individualismus ergänzt durch "seine autoritäre Konzeption der Gesellschaft" und führte zur französischen Revolution, welche "vor allem ein großer Augenblick nationaler Konzentration war". Für den Philosophen der "sozialen Tatsache" sind die Momente des Individualismus und der gesellschaftlichen Solidarität selbstverständlich sich gegenseitig verstärkende Pole; der Theoretiker der gesellschaftlichen Arbeitsteilung warnt davor, daß jeder Versuch, die Entwicklung des Individualismus aufzuhalten, nur in Konformismus münden könne. Die Einmischung der Intellektuellen in die Dreyfus-Affäre wird nicht mit der Sympathie für das Opfer erklärt noch mit der Furcht, daß man selbst ähnlich ungerecht behandelt werden könnte. Den Spieß seiner traditionalistischen und nationalistischen Widersacher umdrehend, insistiert Durkheim darauf, daß, wenn solche Verstöße gegen das Individuum ungestraft blieben, die schiere Existenz der Nation gefährdet sei. Da die Religion der Menschenrechte im modernen Frankreich die Nation zusammenhält, stellt ihre Verletzung eine Bedrohung für die Gemeinschaft dar und ist ihre Verteidigung eine Verteidigung der Bindungen der französischen Gesellschaft, die auf die Ideen, die 1789 in die Welt kamen, gegründet ist. In diesem Punkt kann es keinen Kompromiß geben.

Durkheim schließt seinen Essay mit einem Ton entschiedener Militanz, dessen offensichtliche Ähnlichkeit mit der des "Kommunisten" bemerkenswert ist. Der im achtzehnten Jahrhundert eingeführte Individualismus muß erweitert werden. An seinem Anfang war er lediglich negativ, eine Befreiung von politischen Fesseln. Diese Emanzipation brachte die Freiheit des Denkens, des Schreibens und des Wählens mit sich; aber solche politische Freiheit ist ein Mittel, kein Selbstzweck, und sein Wert hängt davon ab, wie es genutzt wird. Seine Generation, so Durkheim weiter, hatte zwanzig Jahre zuvor mit der Gründung der Dritten Republik die Barrieren wieder fallen sehen, hat aber nicht gewußt, wie sie ihre Freiheit nutzen konnte. Sie nutzte sie also gegen sich selbst, einer gegen den anderen. Nun möchte der Intellektuelle als Soziologe seine Freiheit nutzen, um das Funktionieren der sozialen Maschine, die "immer noch grob mit den Individuen umgeht", reibungslos zu machen, und um daran zu arbeiten, das Prinzip "jedem nach seiner Arbeit" zu realisieren. Dies würde den Individualismus vollenden, das wirtschaftliche Leben organisieren und größere Gerechtigkeit in die Vertragsverhältnisse einführen. Die gegenwärtige Krise, folgert Durkheim, hat "uns den Geschmack am Handeln zurückgegeben". Unsere Feinde sind stark, weil wir schwach sind; aber sie sind nur "Männer der Feder, verführt durch ein interessantes Thema", und dies wird ihnen nicht erlauben, die Massen zurückzuhalten, "wenn wir wissen, wie wir zu handeln haben". Der Essay führt nicht weiter aus, "wie wir zu handeln haben", obwohl man davon ausgehen kann, daß Durkheim dachte, daß seine neue Sozialwissenschaft den nötigen Rat liefern würde. Bevor wir allerdings fragen, "wie wir zu handeln haben", sollte eine andere Beobachtung Durkheims hervorgehoben werden: sein Insistieren darauf, daß der Individualismus - und somit die Freiheit, von welcher der Intellektuelle Gebrauch macht und die er weiterentwickeln möchte - in der französischen Revolution wurzelt.

7. Die Einzigartigkeit der französischen Revolution liegt in ihrer Unvollständigkeit. François Furets abschließende Reflexionen über die Einzigartigkeit der französischen Revolution (in L'idée française de la révolution4) weisen darauf hin, daß der Gang der Revolution diese zwang, sich mit einer Frage auseinanderzusetzen, vor die weder die "Glorious Revolution" in England noch ihre amerikanische Nachfolgerin gestellt waren: die religiöse Frage. Unfähig, eine politische Lösung zu liefern, machten die Franzosen die Politik selbst zu einer Religion. Furets Argument liefert eine pessimistische politische Ergänzung zu Durkheims soziologischem Optimismus bezüglich der Religion der Menschenrechte. Der "areligiöse Charakter" der französischen Revolution beruht auf der Tatsache, daß "das Versprechen einer guten Gesellschaft nicht länger in heiligen Schriften geschrieben steht, wie im englischen Fall, oder auf einer Harmonie des Politischen und des Religiösen beruht, wie im amerikanischen Fall, sondern allein von der Entwicklung der Geschichte abhängt". Die philosophes waren die radikalsten antireligiösen Teilnehmer der europäischen Aufklärung; die Revolution setzte ihre Arbeit fort, indem sie mit der katholischen Kirche den Stützpfeiler des ancien régime zerstörte. Aber damit, so Furet weiter, war sie gezwungen, sich "zum ersten Mal mit dem Dilemma des modernen Liberalismus in vollem Umfang" auseinanderzusetzen: "Das politische und soziale Leben enthält keinen von der Bürgerschaft geteilten gemeinsamen Glauben mehr, da jeder Bürger Herr dessen ist, was nur noch als seine ,Meinung` gelten kann. Keine Revolution vor der französischen hatte mit dem kollektiven geistigen Defizit zu tun gehabt, welches das gemeinsame Schicksal moderner Gesellschaften werden sollte" (S. 28). Anstatt den Empfehlungen des Soziologen zu folgen, stützt der Autor von Le passé d'une illusion seine Analyse unseres Jahrhunderts auf sein Lebenswerk über das politische Wesen und Erbe der französischen Revolution: "Unter diesem Gesichtspunkt sind der Deismus Voltaires, der parlamentarische Jansenismus, der savoyardsche Vicar Rousseaus, die Naturreligion der Physiokraten und die Esoterik der Freimaurer alle aus einem Stück: Sie weihen die politischen Erwartungen mehr, als daß sie kollektive Überzeugungen formen würden". Tatsächlich kehrt Furet in der Zusammenfassung seines Essays implizit zurück zu seiner eigenen Vergangenheit, indem er die Marxsche Kritik der französischen "illusion du politique" anerkennt.

8. Die Verleugnung der Einzigartigkeit der französischen Revolution führt zum Aufkommen des "Kommunisten" als Intellektuellem. Furets Analyse der französischen Revolution zeigt, daß sie zum Scheitern verurteilt war. Gleichzeitig wurden ihr Fehlschlag und der Versuch, ihr Versprechen einzulösen, die Quelle ihrer einzigartigen historischen Wirkung, zur Basis der "französischen Ausnahme". Dies schuf eine einzigartige Bedingung für den kritischen Intellektuellen; tatsächlich machte sie den Intellektuellen - später auch die Intellektuelle - zum Teil der Struktur der modernen französischen Geschichte. Wenn die gegenwärtigen Bedingungen nicht der Universalität der republikanischen Vision entsprechen, wird Kritik in der Tat zur republikanischen Pflicht und steht der Kritiker nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern beansprucht nur das zum Ausdruck zu bringen, was eigentlich und implizit bereits in der Struktur dieser historischen Gesellschaft angelegt ist. Die schmerzvolle ethische Entscheidung, für das Recht und die Rechte selbst gegenüber der Mehrheit einzustehen, stellte für die Erben der französischen Revolution kein Problem dar. Nicht umsonst war Ethik (im Gegensatz zur republikanischen Moralität) in Frankreich nur wenig entwickelt. Obendrein war die Öffentlichkeit, an welche der Intellektuelle seine Kritik richtete, von derselben selbstkritischen Tradition geprägt und deshalb empfänglich für Kritik. (Man sollte diesbezüglich hinzufügen, daß die französische Revolution, genauer die religiöse Frage, die politische Meinung in Frankreich seither polarisiert hat. Auch die Bedingungen der Möglichkeit intellektueller Einmischung von Rechts erklären sich aus dieser einzigartigen Geschichte.)

Die Unfähigkeit, die vom kritischen Intellektuellen vorausgesetzte republikanische Moralität ethisch zu reflektieren, hat logisch und auch historisch zur Leugnung der Einzigartigkeit der französischen politischen Kultur sowie zur Entstehung des "Kommunisten" geführt. Logisch mußte die intellektuelle Kritik voraussetzen, daß das revolutionäre Projekt wirklich realisierbar war; ansonsten hätte die kritische Mission keinen Sinn gemacht, und es hätte kein Grund zur Annahme bestanden, daß die Botschaft von der öffentlichen Meinung gehört werden würde. Historisch ließ die Projektion des republikanischen Glaubens auf die Revolution von 1917 - trotz der "Deformationen", die manche nicht übersahen - diese als die Fortführung ihres republikanischen Projektes erscheinen. Es besteht hier kein Bedarf, die historische Basis, auf der dieser Glaube errichtet wurde, zu überprüfen - aber gerade weil er erbauend war, gerade weil er die religiöse Natur der französischen "illusion du politique" befriedigte, behielt er über die Vorstellungen von Generationen Macht. Vor 1945 konnten sowohl die Linke als auch die Rechte eine "bourgeoise" Republik kritisieren, die Frankreich während eines langen Krieges ausgeblutet hat und nicht die Kraft besaß, es an dessen Ende wieder aufzubauen. Nach 1945 unterstützten die Intellektuellen der Linken die Partei der Arbeiterklasse, welche das Etikett "le parti des fusillés" angenommen hatte, um ihrem Anspruch, die rechtmäßige Erbin der republikanischen Revolution zu sein, Nachdruck zu verleihen. Zwar machte antikolonialistische Agitation die geistigen Klimmzüge schwieriger, doch konnte man das französische Imperium, wie dasjenige Bonapartes, immer noch als einen Verrat am revolutionären Erbe kritisieren (obschon andere das Gegenteil behaupten und Napoleons Scheitern mit Stalins erfolgreicher Expansion des sowjetischen Imperiums vergleichen konnten). Als die Invasion Ungarns 1956 viele aus den Reihen der Partei getrieben und die "brüderliche Hilfe" für die Tschechoslowakei 1968 das in noch größerem Ausmaß getan hat, hielten sich die meisten weiterhin für einen Teil des ursprünglichen Projekts, manchmal umgetauft in "Eurokommunismus" oder "Dritter Weg".

9. Der "Service Public" ist Ausdruck der Einzigartigkeit der französischen Revolution. Am Ende seines Essays argumentiert Furet, daß die Dritte Republik "ein Ende der Revolution" suchen würde, "markiert durch oder zumindest versprochen von einer neuen sakralen Macht - aber einer Laienmacht, da der Lehrer den Priester ersetzt hat". Dieser Wechsel zeigt außerdem an, daß sich die Figur des Intellektuellen ändert. Wie wird aus dem Grundschullehrer eine Art Intellektueller? Seine - und interessanterweise im Vergleich mit den USA erst später auch ihre - Pflicht bestand darin, die zivilisierende Mission der Republik auf das Land zu tragen und dadurch die Botschaft zu universalisieren. Toqueville folgend, betont Furet das religiöse Element, das die säkulare Politik motiviert hat: "Es ist der Universalismus der ,Zivilisation', der Fortschrittsglaube, die Befreiung der Menschheit". Diese säkulare Dreieinigkeit lebt heute fort, belebt Befürchtungen, daß Maastricht sie zerstören wird, und bringt die Massen auf die Straße, um gegen den Vorschlag der Regierung Juppé zu protestieren, einen antiquierten und verschuldeten Sozialstaat zu reformieren. Ihre gegenwärtige politische Form ist in einem wichtigen Aufsatz von Paul Thibaud zusammengefaßt: "Der öffentliche Dienst in Frankreich ist eine Gesinnung oder sogar ein Glaube, der drei Haltungen oder Orientierungen vereint: den Geist der Aufklärung, welcher Techniker inspiriert, die den Fortschritt zu demonstrieren und ihn durch Innovationen zu den Menschen zu bringen suchen; das Verlangen der Politiker, die Instrumente zur Verfügung zu haben, die ihnen zu handeln erlauben, besonders durch Projekte der Urbanisierung und Modernisierung; und ein quasi-liberaler Modus des Arbeitens, der durch ein festes Procedere reguliert ist, das nicht abhängig ist von der Willkür kleinlicher Chefs, eine Illustration des Wertes von Autonomie, geschätzt vom homo republicanus, welcher den öffentlichen Dienst zum nationalen Ideal gemacht hat". Bemerkenswert in Thibauds Beschreibung ist die Ersetzung des dritten Terminus, die "Emanzipation der menschlichen Gattung", durch "einen quasi-liberalen Modus des Arbeitens", was die Transformation des homo republicanus in den modernen Individualisten ankündigt. Es ist deshalb keine Überraschung, daß Thibaud schließt, diese Synthese sei zu einem Ende gekommen, und sein Essay den Titel "Réapprendre à gouverner" trägt.5

10. Die Rolle des Intellektuellen als öffentlicher Diener ist problematisch. Die überkommene Idee des service public ist nicht inkompatibel mit der Eigenschöpfung des "Kommunisten" als Intellektuelle. Das zivilisatorische Geschenk, das denen überreicht wird, denen es vorenthalten wurde, wurde niemals in Frage gestellt; sein Wesen steht ganz außer Frage und ist Teil eines notwendigen Fortschritts, dessen Ursprünge in der antireligiösen Aufklärung liegen und dessen politische Realisierung 1789 begonnen hat. Dieses intellektuelle Projekt ist gewissermaßen auch ein "öffentlicher Dienst", dessen Boten bescheiden im Dienst der Öffentlichkeit stehen. Seine Feinde denunzierend, seine althergebrachten, aber nicht ausgearbeiteten Forderungen artikulierend, ablehnend, mit der Ungerechtigkeit Kompromisse zu schließen, mag diese Figur der "intellectuel pétitionnaire" genannt werden, der den Stimmenlosen Stimme verleiht. Es ist ein nobler Ruf, eine bewunderungswürdige Berufung, eine Form der weberschen Gesinnungsethik. Das Problem ist nicht so sehr die Ablehnung der Verantwortung - denn Weber wußte sehr wohl, daß Verantwortungsethik mit ihrer eigenen Einseitigkeit belastet ist. Bemerkenswert an dieser Figur des Intellektuellen ist, daß keine Verbindung besteht zwischen der intellektuellen Arbeit und der Arbeit des Intellektuellen. Die Wichtigkeit dieser Unterscheidung wird klar, wenn wir die zweite Interpretation des Intellektuellen als Diener der Öffentlichkeit betrachten. In diesem Falle nämlich ist die Globalisierung, angedeutet durch die kollektive Kategorie "öffentlich", in Frage gestellt.

Die Kritik des Totalitarismus, die das intellektuelle Leben in Frankreich mit der Veröffentlichung von Solschenizyns Archipel Gulag (im Jahre 1974) erfaßt hat, führte einige dazu, die Bedeutung der ethischen Reflexion wiederzuentdecken, die durch das politische Projekt der Republik vernachlässigt wurde (etwa die "neuen Philosophen" oder Glucksmann), und andere dazu, die problematische Natur der modernen Demokratie neu zu überdenken (etwa die Rocardianer oder die Zeitschrift Esprit). Beide Seiten konnten natürlich an die französische Revolution appellieren, deren Deklaration der Menschenrechte auch die Bürgerrechte postuliert hat. Die Signifikanz dieser neuen Orientierung liegt in ihrer philosophischen Fundierung. Zu den Klassikern zurückkehrend, wird Demokratie als ein "Regime" definiert, ein Ensemble von Beziehungen und eine Welt von Bedeutungen, die alle Aspekte des menschlichen Lebens, sowohl öffentlich als auch privat, umfaßt und der Kritik zugänglich macht. Die Grundlage der intellektuellen Kritik ist nicht länger eine das aufklärende und befreiende Wort erwartende Öffentlichkeit. Demokratische Politik, welche in der Tat auf der Ablehnung der Transzendenz beruht und dadurch eher befreit, ist weniger zur "Illusion" verurteilt als Furets Politik-als-säkulare-Religion. Das moderne Individuum, welches in Thibauds Analyse den homo republicanus ersetzt, erinnert an das in Durkheims Soziologie hervorgehobene kritische Individuum. Wenn der Intellektuelle dem Individuum "dienen" muß, dann kann er das nur durch die Stärkung der Individualität.

11. Die Intellektuellen haben versucht, die Welt zu verändern; es kommt aber darauf an, sie zu interpretieren. Der französische Intellektuelle alten Schlages, den wir am Anfang mit seinem, und nun auch ihrem, amerikanischen Vetter kontrastiert haben, wird so lange überleben, wie die "kommunistische" Interpretation des Erbes der französischen Revolution am Leben bleibt. Der Widerspruch, der in ihrem Fundament steckt, ist die "bescheidene" Annahme, daß sie lediglich zur Sprache oder zu Bewußtsein bringt, was bereits vorbereitet im Boden der Geschichte liegt. Dies bedeutet, daß ihr vorgebliches Ziel, die Welt zu ändern, sich selbst widerspricht, da es nur explizit macht, was implizit in der bestehenden Gesellschaft schon vorhanden ist. Ihre Politik ist eine Antipolitik, eine Verweigerung von Verantwortung und ein Ausdruck der Unfähigkeit, mit dem anderen Erbe der französischen Revolution zu leben: der Unbestimmtheit demokratischer Politik, welche beständig neu interpretiert werden muß und niemals ausgeräumt oder überwunden werden kann. Verantwortung ist heutzutage die grundlegende Kategorie für den Intellektuellen. Die Welt zu interpretieren heißt erst einmal, sie in Frage zu stellen, ihre Fixiertheit und Solidität zu bezweifeln, über die Unmittelbarkeit ihrer Erscheinungsformen hinauszugehen. Das schließt ein, die Möglichkeit von Fehlern zu akzeptieren und sogar ein "Recht" zu bejahen, Fehler zu machen. Sich anderen in öffentlicher Debatte zu stellen, gehört dazu. Dies war nicht die traditionelle Haltung des französischen Intellektuellen. Aber in der Welt der modernen, individualistischen Demokratie ist es die einzige Praxis, die dem Intellektuellen offen steht - dem kritischen Intellektuellen, der mit der Welt, wie sie ist, nicht zufrieden ist.

Ob die Globalisierung nationale Grenzen und Traditionen auf lange Sicht irrelevant machen wird oder nicht, mag eine empirische Frage sein. Der Prozeß allerdings wurde vor mehr als einem Jahrhundert von Marx analysiert. Er hat ihn als die Voraussetzung der französischen Revolution gesehen. Daß seine französischen Nachfolger fortfuhren, an ihrer ererbten nationalen Mission festzuhalten, zeigt nur, daß ihrem Marxismus der einfallsreiche Mut und die Urteilsfähigkeit gefehlt haben, die es immer noch lohnenswert machen, Marx zu lesen, auch wenn die Arbeit seiner französischen Adepten - wie auch Marx' eigene Deutsche Ideologie - stillschweigend der "nagenden Kritik der Mäuse" überlassen wird. Die Gewißheit, daß die Welt verändert werden muß, hat zur Unfähigkeit geführt, sie zu interpretieren. Das hat das hochgehaltene revolutionäre politische Projekt zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.

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@BODY O.E. = Die Grundlage dieses Artikels bildet eine Rede, die der Autor im Oktober 1997 am Dartmouth College gehalten hat. (Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Werner.)

1 Vgl. Dick Howard, Pour une politique du judgement. Critique du politique, Paris (Editions du Cerf) 1998.

2 Vgl. die Nachschrift zu meinem Artikel "The French Strikes of 1995"; in der Zeitschrift Government and Opposition, Frühjahr 1998, 1-22.

3 Zuerst erschienen 1889 in der Revue bleue.

4 Veröffentlicht in Le Débat, September-Oktober 1997.

5 Veröffentlicht in Esprit, August-September 1997, S. 131-151.