Grüner Eignungstest

Hermann-Josef Tenhagen
 

Haben die Grünen über das große rot-grüne Reformprojekt nachgedacht? In den vergangenen vier Jahren? Oder auch nur seit dem vergeigten Parteitag in Magdeburg? In den Wochen vor und nach der verheerenden Wahlniederlage in Sachsen-Anhalt sieht es nicht so aus. Das öffentliche Räsonieren über die wünschenswerte Zukunft, einst eine Stärke der Partei, ist ihr gänzlich abhanden gekommen.

Offenkundig wurde die Denkblockade der Bündnisgrünen für viele erstmals im März beim Parteitag in Magdeburg. Doch die Wurzeln des Versagens liegen viel tiefer. Sie gründen in der Entscheidung der Partei, vor allem aber ihrer Bundestagsfraktion, im wesentlichen fachkompetent werden zu wollen. Die Fraktion holte die Detailarbeit nach, die in den vier mageren Jahren zwischen 1990 und 1994 im Bundestag nicht geleistet werden konnte. Die grünen ParlamentarierInnen in Bund und Ländern wurden so zu Politik-ExpertInnen, doch die politische Vernetzung des Gelernten und die Vermittlung an die Wählerinnen und Wähler blieben auf der Strecke.

Früher haben sich die Bündnisgrünen in Grundsatzdebatten verloren, heute ersaufen sie im Expertenwissen. Und in den Fraktionen der ExpertInnenfraktion wurschtelte jeder und jede für sich selbst dahin, im wesentlichen ohne Blick über den Tellerrand oder auch nur ins benachbarte Büro. Als Experte war jeder Abgeordnete sein eigener König, niemand redete in die Arbeit hinein. Die große alte ökologische Botschaft der Grünen allerdings wurde den meisten dieser Expertinnen und Experten dabei zum bloßen Glaubenssatz ohne Bedeutung für ihre konkrete Arbeit.

Lange Zeit hatte die Partei damit keine Probleme. Man war ermüdet von den Grundsatzdebatten der vergangenen Jahre. Jetzt konnte jede Expertin und jeder Experte erst mal für sich selbst und in den häufig freundlich gesonnenen Medien glänzen, ohne daß die Frage nach der gemeinsamen Botschaft für die Bürgerinnen und Bürger gestellt wurde. Und die Wähler goutierten die Farbe Grün recht unabhängig von der großen Antwort auf die Fragen der Zeit.

Die Abgeordnete Andrea Fischer gilt so inzwischen bundesweit als die Expertin für die Reform des Rentensystems, Oswald Metzger als der Haushaltsexperte und Christine Scheel als die Finanzfachfrau, die man fragen muß. Mit Matthias Berninger verfügt die Bundestagsfraktion sogar über einen Bildungspolitiker, dem man die Nähe zum Objekt auch abnimmt. Sogar der Obergrüne Joschka Fischer stieg in die Riege der ExpertInnen ein. Statt als Fraktionschef vor allem seine Fähigkeiten als Generalist zu nutzen und die programmatischen Fäden zusammenzuhalten, hat Fischer sich bücherschreibend als Schattenaußenminister profiliert.

Im von der Partei selbst zum entscheidenden Jahr für das rot-grüne Reformprojekt ausgerufenen Wahljahr 1998 stellten die Wähler dann - gänzlich unvermutet - die Frage nach der großen grünen Botschaft. Wer, wie die Grünen es frech verkündet hatten, als Lieferant des rot-grünen Reformkonzepts antreten wollte und dem SPD-Spitzenkandidaten Gerhard Schröder die Rolle des vorzüglichen Verkäufers zugedacht hatte, muß Antworten auf die Fragen von fünf Millionen Arbeitslosen geben, verlangten die Wähler - auch und gerade im Osten.

Die Frage nach dieser Essenz der eigenen Botschaft wurde von den Bündnisgrünen vor dem Wahlsonntag von Magdeburg nicht kohärent beantwortet. Ich behaupte: Sie konnte und kann nicht beantwortet werden. Vor allem, weil niemand in der Partei oder der Bundestagsfraktion sich bis zum Beginn des Wahlkampfes die Mühe gemacht hatte, die Kompetenz der vielen grünen ExpertInnen zu einer solchen gemeinsamen grünen Modernisierungsbotschaft zu verdichten.

Weil sie diesen Mangel immerhin erkannt hatten, hatten die Strategen um Joschka Fischer noch auf dem Magdeburger Parteitag das Spiel mit der Bande versucht. In der Außenpolitik, Fischers neuem Steckenpferd, sollte die Partei auf Realo-Kurs getrimmt werden, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Um ein bißchen radikales Profil zu bewahren, wurde gleichzeitig die Formel von den fünf Mark für den Liter Benzin wiederbelebt. Damit könne sich die Partei gleichzeitig mit und gegen den Automann Schröder profilieren, so das Kalkül. Außerdem würde die Konkurrenz es nicht wagen, die Grünen auf ihrem ureigensten Feld, der Umweltpolitik, frontal anzugehen. Schließlich hatte sogar der umweltpolitische Beirat der Regierung Kohl schon mal die fünf Mark gefordert. Außenpolitischer Realismus à la Fischer mit einem Öko-Signal und einer funktionierenden Parteispitze, das sollte trotz der fünf Millionen Arbeitslosen reichen, hofften die Bündnisgrünen insgeheim.

Seit dem Parteitag in Magdeburg ist klar, solche taktischen Spielchen reichen nicht. Der Parteitag verweigerte Schattenaußenminister Fischer die Gefolgschaft. Bosnieneinsätze der Bundeswehr und die Osterweiterung der Nato fanden keine Duldung bei den in die Strategie nicht eingeweihten Delegierten. Die Partei stand plötzlich da mit einem vergleichsweise radikalen außenpolitischen Programm, für das der Frontmann nicht einsteht, und einem radikalen Öko-Symbol von fünf Mark, das in- und außerhalb der Partei nicht nur als Symbol gegen Schröder, sondern auch als programmatische Leitlinie verstanden wird. Auf die Krise des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes fand der Parteitag derweil keine griffige Antwort. Keine Antwort auf Existenzfragen, radikale Öko-Symbolik und ein zerzauster Führungsmann. Die Wähler in Sachsen-Anhalt quittierten das mit dem Wahlzettel: drei Prozent.

Der Partei bleibt jetzt nur, von der Kakophonie der Visionen zum ganz Handwerklichen zu kommen. Der große Wurf ist nicht gelungen, aber viele kleine Schritte können gegangen werden. Oder auch: Ein Benzinpreis von fünf Mark ist nicht die ökologische Steuerreform, zu der gehört, eine Verbilligung der Lohnnebenkosten, neue Jobs in der Altbausanierung, Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr, Innovation bei den Autokonzernen, und erst dann wird ein Benzinpreis von fünf Mark erreicht werden.

Gleichzeitig würde die Partei mit dem handwerklichen Kurs auf das setzen, was sie tatsächlich in den vergangenen vier Jahren kultiviert hat: Expertenwissen über die kleinen Schritte zur Rentenreform, zur Finanzreform, zur Bildungsreform und natürlich vor allem zur ökologischen Steuerreform. All diese Reformvorhaben haben nämlich eins gemeinsam. Die kleinen Schritte, die die Bündnisgrünen hier benennen können, sind auch die Antworten vieler unabhängiger Experten auf das von Regierung und Industrie hinterlassene Reformvakuum in Deutschland.

Diese kleinen Antworten auf die vielen Fragen ließen sich im bündnisgrünen Wahlprogramm für die kommende Legislaturperiode handlich zusammenschreiben. Sie hätten den Charme, daß sie deutlich am Bestehenden anknüpfen, daß sie die Bürgerinnen und Bürger abholen, wo sie heute stehen, und daß die Partei so auf die Arbeit der vielen grünen ExpertInnen in den vergangenen Jahren Bezug nehmen kann.

Man hätte in einem solchen Wahlprogramm sogar wieder mit Zahlenangaben operieren können. Zwanzig Pfennig mehr Mineralölsteuer, und man kann die KFZ-Steuer abschaffen. Das wollten auch viele Vernünftige in Union und SPD. Die Expertinnen und Experten brauchen diese Zahlenangaben, auch um ihr Expertenwissen zu untermauern. Motto: Alles ist durchgerechnet.

Gleichzeitig hätte die Partei unter Hinweis auf den Charakter eines Wahlprogramms für eine rot-grüne Koalition auf wirkliche Zahlenvorgaben verzichten können. Schließlich wird man sich in der harten Realität nach der Wahl erst einmal mit der Sozialdemokratie einigen müssen. Gerade der jetzigen Bundestagsfraktion käme ein solcher Strategiewechsel entgegen. Schließlich haben sich die Bündnisgrünen mit ihrer Detailversessenheit in Bonn zu den kenntnisreichsten Kritikern der stillstehenden Regierungspolitik entwickelt, zu den Leuten, die wissen, an welcher Stellschraube gedreht werden muß. Aus der Schwäche, kein gemeinsames Programm entwickelt zu haben, würde mit einem solchen Ansatz unter der Hand vielleicht doch noch eine Stärke: Bei allen bis zum September noch möglichen Wahlkampfthemen ist der grüne Igel schon da.

Einen nicht zu verschweigenden Nachteil hat diese Strategie allerdings auch. Die Grünen sind dann nicht mehr Lieferanten des großen Reformkonzepts. Es ist letzlich nicht mehr ihre große Botschaft, um die es geht. Sie bieten statt dessen die bunte Palette der grünen Polit-HandwerkerInnen auf. Die offene Stelle des rot-grünen Visionärs wird mit einem traditionellen sozialdemokratischen Modernisierer besetzt. Einer hat sich schon beworben: Gerhard Schröder.