Editorial

Joscha Schmierer
 

Selbst konservative Politiker zitieren heute gern die ersten Seiten des Kommunistischen Manifestes und Karl Marx als Propheten der Globalisierung, aber niemand, auch nicht Fidel Castro, sagt heute noch, was er treibe, sei ein Schritt, die ganze Welt umzuwälzen. Der Widerspruch ist schlagend: Was Marx als Trend erkannte, trat weitgehend ein und bleibt vorherrschend - was er sich an Ereignissen versprach, den Trend zu brechen beziehungsweise zu "toppen", blieb aus. Ja, man kann sagen, daß revolutionäre Ereignisse, sofern sie überhaupt stattfanden - Beispiel Russische Revolution - den Trend letzten Endes nur bestätigten. Rußland ist heute mehr Teil des internationalen Kapitalismus, als es unter der Zarenherrschaft je hätte werden können. Entsprechendes gilt von China. "Globalisierung" und "Weltrevolution" sind nicht zwei Seiten einer Entwicklung. Die Globalisierung scheint die Bedingungen des revolutionären Bruchs eher zu untergraben. Der Trend herrscht, und er verdaut jedes Ereignis. Manche sehen deshalb in der Globalisierung die einzige und alleinige Revolution - als subjektlosen Prozeß.

Zur Zeit häufen sich - dem mechanischen Rhythmus des Zehnjahreszyklus folgend - die Artikel und Features über die "68er". Oft sind sie von Leuten geschrieben oder gemacht, die mit der Regierung Kohl herangewachsen sind. Sie kennen Trends (akademisch: Strukturen), politische Ereignisse sind ihnen fremd. Selbst 1989, das die imperialen Jahrhunderte Europas beendete, wird nicht als Ausbruch, sondern als Anpassung verstanden, also als Nichtereignis.

In den 80er und 90er Jahren hat ein vollständiger Perspektivenwechsel stattgefunden. Die Rebellion der sechziger Jahre traf auf eine Generation, die ihrerseits durch Ereignisse geprägt war, durch zwei oder wenigstens durch einen Weltkrieg, durch den (verdrängten) Völkermord und durch die letzt Endes triumphale Selbstbehauptung gegenüber dem sowjetischen Imperium, wofür ja ebenfalls Ereignisse stehen: die Währungreform, die Durchbrechung der Berlin-Blockade, die Gründung der Bundesrepublik, die Berliner Mauer und Kennedys Deutschland- und Berlin-Besuch danach. Der Zusammenstoß der Generationen war dramatisch, obwohl es natürlich auch damals schon Strukturen und Trends gab, die allem zugrunde lagen.

Franz Walter, ein Göttinger Politologe von 42 Jahren, hat in der Woche einen Jubiläumsartikel veröffentlicht. Er sagt gleich: "Ich mag sie nicht, die 68er." Sein gutes Recht. Dann verlegt er sich auf den Nachweis, daß sie entgegen ihrer Selbstbeweihräucherung der Republik nichts gebracht, sondern deren Liberalisierung eher behindert hätten: "Die Apo war (...) Auswurf der Modernisierung, nicht ihr Auslöser." Alles, was die 68er für sich als Errungenschaft beanspruchten, sei in Wirklichkeit lange vor 68 bereits strukturell angelegt, also trendy gewesen. "Moderner, urbaner und liberaler wurde die Republik jedenfalls längst vor 1968." Daß die Landwirtschaft schon zuvor an Bedeutung verloren hatte, Bauern- und Handwerker-Kinder, sogar Arbeiterkinder nicht erst danach auf das Gymnasium kamen, wer will dem widersprechen? "Das ,Yeah, Yeah, Yeah` der Beatles tönte bereits ein halbes Jahrzehnt vor 1968 aus den Radiogeräten der jungen Deutschen, die im gleichen Jahr ebenfalls für den jungen amerikanischen Reformpräsidenten Kennedy schwärmten." Alles wahr. Nur, wer waren diese "jungen Deutschen" anders als die späteren "68er"? Es ist die Absicht Walters, die Geschichte der Bundesrepublik zu entdramatisieren. Alles soll immer gewesen sein, wie es jetzt ist.

Man kann ja ein Gedankenexperiment machen: Strukturell mag die Entwicklung der Bundesrepublik wahrscheinlich auch ohne "68" ähnlich verlaufen sein, wie sie verlief. Aber kann man die politische Geschichte der Bundesrepublik und die politischen Biographien, die Mentalitätsgeschichte ohne dieses Ereignis verstehen? Historische Ereignisse gehen in Strukturen nicht auf, lassen sich aus ihnen nicht vollständig erklären, weder in ihren Ursachen noch in ihren Folgen. Der Trend mag durch das Ereignis unverändert bleiben. Nur denkt man mit dem Ereignis auch die Menschen weg, die zwar nicht "die" Geschichte, sie aber über Ereignisse - und nur über sie - zu ihrer eigenen machen. In Strukturen und Trends mögen Individuen heranwachsen, aber nur über Ereignisse bilden sich Bürgerinnen und Bürger, konstituiert sich eine Republik. Ereignisse können ideologisiert werden, und 68 ist zweifellos ideologisiert worden, indem wir es wegen der Gleichzeitigkeit des Geschehens in Vietnam, in China, in der CSSR und Polen, in den USA und in Westeuropa zur Eröffnung einer neuen Etappe der Weltrevolution und epochemachend stilisierten. Das Scheitern imperialer Politik, das sich hier abzeichnete, leitete aber die "Globalisierung" und nicht die Weltrevolution ein. Alle bisherigen Revolutionen haben sich gegen Absolutismus und Imperialismus gerichtet, noch nie hat es eine gegen den entwickelten Kapitalismus gegeben. Die Welt des Kapitalismus scheint keine Transzendenz, nur Immanenz zu kennen. Vielleicht ist sie eine Welt ohne Ereignis, weshalb man ständig Erlebnisse suchen muß. Selbst der Sturz von Diktatoren wie Mo-butu oder Suharto scheint nur im Trend zu liegen und nichts Besonderes zu sein.

68 war eine Überraschung - nicht zuletzt für die Beteiligten. Deshalb wirkt es inzwischen fremd. Aber vor Überraschungen ist man nie sicher.