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Kränkelnde Demokratie

Joscha Schmierer
 

Es herrscht leichte Panik: Die neuen Staatsfeinde, Die Republik dankt ab, Sind wir noch zu retten? Jan Roß, früher beim Feuilleton der FAZ, jetzt bei der Berliner Zeitung öfter mit politischen Themen befaßt, Konrad Adam, immer noch beim Feuilleton der FAZ, und Heribert Prantl, Chef des Ressorts Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung, wollen mit ihren Büchern Alarm schlagen.

"Was für eine Republik wollen Schröder, Henkel, Westerwelle und Co.?" fragt Jan Roß im Untertitel. Indiz für den neuen Zeitgeist ist ihm der Erfolg von Focus, in dem er "ein typisches Produkt der bundesdeutschen Angestelltenkultur" sieht, "auf hunderterlei Weise von ebenjenem Sozialstaat gemästet, dessen Verfettung er lauthals beklagt, ein Maulheld der Freiheit, des Risikos und des Abenteuers. Die Focus-Ideologie ist ein kleinbürgerlicher Gratisradikalismus." Im Vergleich mit dem Spiegel, der "unverdrossen das Image der Gegenmacht, der Antiautorität" pflege, habe Focus zwar durchaus auch etwas gegen den Staat, aber Staat heiße "hier nicht Herrschaft, sondern Bürokratie". Kriterium der Kritik sei ausschließlich die Effizienz. "Die Staatskritik des Focus ist, mit einem Wort, rein ökonomisch." Wohl fordere das Magazin die Befreiung des Bürgers: "Aber als Gegensatz zum Untertan ist hier nicht der Bürger als politischer Souverän gedacht, sondern der ,König Kunde'." Der "neue Weniger-Staat-Populismus" sei eine "klassenlose Discountvariante des Liberalismus".

Die Polemik von Jan Roß speist sich aus seinem Unbehagen über die unkeusche Vermengung von Politik und Wirtschaft, Staat und Markt in der "Standort"-Debatte: "In der Auseinandersetzung um den Staat steckt das Potential eines neuen Klassenkampfes" in einer Gesellschaft, die sich in "Liberalisierungsgewinnler und Liberalisierungsgeschädigte" spaltet. Und bei dieser Aussicht könnte der allseits geschmähte Staat gerade in seiner ursprünglichen Funktion als Befrieder des Bürgerkriegs, als Unterdrücker des Krieges aller gegen alle, als Leviathan also, wieder gebraucht werden: "Die Zeit des Staates ist nicht vorbei; und vielleicht wird man ihn sogar mehr brauchen, als uns lieb sein kann."

Roß erkennt bei Schäuble Sensibilität für das Staatsproblem und bei den Grünen eine für das Wachstumsproblem. In solchen Formen des Antiökonomismus stecke die Möglichkeit eines Bündnisses gegen die überall ins Kraut schießenden "Staatsfeinde", die den Staat nur noch als Dienstleistungsunternehmen gelten lassen wollen.

Konrad Adam sieht "Die Deutschen vor der europäischen Versuchung". Die Übereinstimmung zwischen Roß und Adam ist in einer Auffassung zu finden, die Roß in seinen Frankfurter Zeiten von Adam gelernt haben könnte: "Die staatliche Organisation ist in der Geschichte das Mittel gewesen, mit dem die Menschheit das Problem der Knappheit bewältigt hat, der Knappheit materieller Güter, aber auch sozialer Chancen: Nicht jeder kann alles haben, er kann aber auch nicht alles sein, nicht jeder kann befehlen, viele haben zu gehorchen."

Das Problem der Knappheit nicht angemessen zu behandeln, ist auch der Hauptvorwurf von Adam an die politische Klasse. Seine Polemik ist breitflächiger, auch widersprüchlicher. Zuletzt spitzt sie sich auf die EU zu, die Adam als Zielpunkt aller Republikflucht erscheint. In ihr sieht er einen neuen "Ständestaat" keimen, "langweilig, pünktlich, kleinlich und genau. Und frei vom Geist der bürgerlichen Freiheit". Und natürlich verstärkt sie den "Primat des Wirtschaftlichen". Ausdrücklicher als bei Jan Roß liegt für Adam die Rettung in der Stärkung des Nationalstaates gegenüber der "asiatischen Kapitale", als die ihm Brüssel erscheint.

Heribert Prantls Kritik an den herrschenden Zuständen kommt aus einer anderen, eindeutig linken Ecke. Prantl geht es in erster Linie um die Verteidigung der individuellen Bürger- und Menschenrechte, während die beiden eher konservativen Polemiker vor allem den staatlichen Rahmen gefährdet sehen. In seiner Kritik an der europäischen Einigung bewegt sich Prantl aber auf der gleichen Ebene wie Adam: "Was kommt also heraus, wenn sich fünfzehn Demokratien zusammentun? Ginge es zu wie in der Mathematik, dann müßte ein ordentlicher europäischer Rechtsstaat herauskommen. Doch Europa funktioniert nicht nach den Gesetzen von Adam Riese. Seltsamerweise ergibt die Addition von Rechtsstaat und Rechtsstaat nicht mehr, sondern erheblich weniger Rechtsstaat. Wäre ein einzelner Staat so verfaßt, wie dies für die EU im Amsterdamer Vertrag beschrieben ist - man würde mit den Fingern auf ihn zeigen (und ihm dann, sollte er beitreten wollen, die Aufnahme in die EU verweigern)."

Im einzelnen kann man viele Kritikpunkte der drei Bücher unterstreichen. Aber die Autoren tun so, als wären Demokratie und Republik auf dem Kontinent überkommene Formen und bräche die Wirtschaft nun erst über sie herein. Als wäre auf dem Kontinent Staatsbildung und die Ausbildung von Demokratie und Republik mehr oder weniger das gleiche. Wer aber nicht blind für historische Tatsachen ist, kann nicht übersehen, daß einigermaßen gesicherte Demokratien und Republiken auf dem Kontinent etwas Neues sind, und daß ihr Aufbau mit der europäischen Integration Hand in Hand geht. Wenn Gerhard Schröder vom Euro als einer kränkelnden Frühgeburt sprach, so muß man die kontinentaleuropäischen Demokratien und Republiken als Spätgeburten bezeichnen. Eben deshalb kränkeln sie.

Der Grund ist einfach: Die Staatsbildung in Kontinentaleuropa ist antidemokratisch, antirepublikanisch und monarchisch-absolutistisch, auf Konzentration aller inneren Ressourcen zum Zweck der äußeren Expansion angelegt. Demokratie und Republik haben auf dem Kontinent nur in einer Befriedung des Staatensystems eine dauerhafte Chance, und die Union der europäischen Staaten ist der erste gemeinsame und allgemeine Versuch einer solchen Befriedung. Sie ist keine (womöglich verlustreiche) Dreingabe, sondern die Voraussetzung von Demokratie und Republik auf dem Kontinent. Eben darin liegt der fundamentale Unterschied zu den "angelsächsischen Demokratien", deren Staatsbildung weder ein völliger Bruch mit der Kommune war, einer gemeineuropäischen Erfindung, noch einen zwischenstaatlichen Vernichtungskampf eröffnete. Die pathetische Berufung auf die nationale Republik gegenüber einer europäischen Bürokratie bedeutet auf dem Kontinent nur, daß man nichts begriffen hat. Auch die Polemik gegen den Primat des Wirtschaftlichen fällt etwas schwerer, sobald man sich erinnert, daß der Primat der (etatistischen) Politik auf dem Kontinent eine Dynamik der großen Kriege in Gang setzte.

Nach den allzu flotten Polemiken tut es gut, Warnfried Dettlings Wirtschaftskummerland? Wege aus der Globalisierungsfalle zu lesen. Dettling versteht fachlich die Probleme des Sozialstaates, die andere nur politisch beklagen. Aber er behandelt sie unter dem Primat der Demokratie - nicht einfach der Politik -, das heißt, ihn interessieren in erster Linie die Bedingungen der Teilhabe aller am Gemeinwesen, also der Bürgerschaft. Es macht allerdings historisch und prinzipiell einen Unterschied, ob man von der Demokratie, also dem "angelsächsischen" Weg, ausgeht oder vom "Sozialstaat", also von Bismarck. Warnfried Dettling versucht, diese Alternative zu meiden. Oft sind angelsächsische Autoren seine Gewährsleute, letzten Endes aber fragt er sich, wie die Bismarcksche Reformkonstellation wiederherzustellen sei. Aufklärend wirkt sein Gespür dafür, wie in angelsächsischer Demokratie und im kontinentalen (speziell im deutschen) Sozialstaat gemeinsame, aber gespaltene Traditionen weiterwirken. Der übertrieben didaktische Aufbau des Buches fördert das Reinschnuppern, erschwert aber die Lektüre. Hier suhlt keiner in den staatlichen Gebrechen, sondern streitet einer um die Heilmittel für die Republik.

Jan Roß, Die neuen Staatsfeinde. Was für eine Republik wollen Schröder, Henkel, Westerwelle und Co., Berlin (Fest Verlag) 1998 (165 S., 36,00 DM)
Konrad Adam, Die Republik dankt ab. Die Deutschen vor der europäischen Versuchung, Berlin (Fest Verlag) 1998 (240 S., 39,80 DM)
Heribert Prantl, Sind wir noch zu retten? Anstiftung zum Widerstand gegen eine gefährliche Politik, München (Hanser Verlag) 1998 (281 S., 29,80 DM)
Warnfried Dettling, Wirtschaftskummerland? Wege aus der Globalisierungsfalle, München (Kindler Verlag) 1998 (335 S., 39,90 DM)

Vorzeit der Bundesrepublik

In den Anfängen der Weimarer Republik, 1920, reiste der portugiesische Schriftsteller Aquilinio Ribeiro wegen der Regelung von Erbschaftsangelegenheiten - er war mit einer Deutschen verheiratet - nach Mecklenburg. 1935 erschienen seine damaligen Aufzeichnungen als Buch. In einer Widmung bezeichnete der Verfasser die Veröffentlichung als einen Versuch, "das ungeheuerliche Phänomen Hitler-Deutschlands" zu erklären: "Die Deutschen stehen wieder aufrecht vor den Altären blutrünstiger Gottheiten."

Nach dem Eintritt der USA in den II. Weltkrieg verfaßte der deutsche Emigrant Herbert Marcuse eine Reihe von "Feindanalysen" für den US-Geheimdienst. Im Juni 1942 schreibt er über Die neue deutsche Mentalität: "Die heutzutage in Deutschland herrschende Haltung der Sachlichkeit, die jeder Bewertung zugrundeliegt, läßt Hitler immer noch in milderem Lichte erscheinen als die Weimarer Republik. Die deutsche Bevölkerung betrachtet mehrheitlich Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte dort, wo diese Ideen sich nicht in materieller Sicherheit und einem angemessenen Lebensstandard niederschlagen, als reine Ideologie."

Der portugiesische Schriftsteller hatte am 7. Oktober 1920 nach einschlägigen persönlichen Erfahrungen notiert: "Wollt ihr heutzutage einen Deutschen für euch einnehmen oder eine Deutsche verführen? Bietet ihnen etwas zu essen an." In Berlin war ihm noch etwas anderes aufgefallen: "Vom Krieg höre ich die Deutschen nicht reden. Warum schweigen sie? Sie schweigen, nicht weil die Erinnerung der bitteren und heldenhaften Tage sie dazu bringt, sondern, so scheint es mir, weil es bedeutet, an die offene Wunde und an die zerfallene Festung der Hoffnung zu rühren. Paris ist im Gegensatz dazu noch voll von Krieg. Es wimmelt von Trophäen, die Souvenir-Industrie der Schützengräben und der Schlachtfelder überschwemmt die Schaufenster und Märkte, und der Ton der französischen Stimmen sent encore le roulement des tambours, sowohl in Cafés als auch in Akademien."

Die "Sachlichkeit", die Marcuse 1942 als Kitt zwischen den Nazis und der deutschen Bevölkerung zu erkennen glaubt, scheint ihre Wurzeln in der Niederlage von 1918 zu haben. Schicksal. Das Ressentiment, das Hitler an die Macht brachte, entsprang weniger der Niederlage als dem Frieden, den die Sieger diktierten. Ungerechtigkeit. Ribeiro notierte 1920: "Ich weiß nicht, aber langsam glaube ich, daß aus dem in Versailles schändlich zusammengepfuschten Frieden ein Deutschland hervorgeht, das mit allen Instinkten einer verfolgten Bestie bereit ist, im richtigen Moment einen gewaltigen Sprung zu tun..." Aus der Niederlage gewonnene "Sachlichkeit" und auf die "Ungerechtigkeit" des Friedens antwortenders Ressentiment bewirkten jene "Rationalisierung des Irrationalen (bei der letzteres seine Macht behält, sie jedoch in den Rationalisierungsprozeß einfließt)", die Marcuse 1942 beobachtete. Dieses "fortwährende Wechselspiel zwischen Mythologie und Technologie, Natur und Mechanisierung, Metaphysik und Sachlichkeit, Seele und Effizienz" bildet für ihn das "eigentliche Zentrum der nationalsozialistischen Mentalität".

Marcuse verstand den Nazismus als Versuch, "die Nation zu einem gnadenlos auf Expansion ausgerichteten Industrieunternehmen umzubauen", zu welchem Zweck er die "mythologische Schicht des deutschen Geistes" mobilisierte."

Ribeiro notierte 1920 in Hameln: "Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Franzosen die Henker; in diesem 20. Jahrhundert sind es die Deutschen. Ein angeborenes Verhängnis scheint die Geschichte Europas dem Wechselspiel der Alternativen auszusetzen: Siegfried oder Roland, mal oben, mal unten."

Marcuse meinte 1942, daß das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in das Nazi-Regime "nicht durch die Grenzen ihrer körperlichen und moralischen Belastbarkeit markiert" sei, sondern so lange währe, "wie das Regime die effiziente Fortführung des Systems totaler Reglementierung gewährleisten kann. Aber auch damit ist die Bruchstelle noch nicht hinreichend definiert. Wir müssen eine wichtige Bedingung hinzufügen: Der Zusammenbruch des Regimes muß mit der realen Möglichkeit einhergehen, ein demokratisches Regime zu errichten, das Vollbeschäftigung und materielle Sicherheit zu garantieren in der Lage ist." Die Erziehung durch den Nationalsozialismus habe ihre Früchte getragen.

Die beiden Bücher stoßen einen mit der Nase auf die beiden Bedingungen deutscher und kontinentaler Demokratie. Solange Siegfried und Roland darum kämpften, wer oben liegt, blieben Demokratie und Republik abhängig von der äußeren Situation. Ohne kontinentale Friedensordnung keine Demokratie auf dem Kontinent. Aber auch keine Demokratie ohne soziale Sicherheit im Inneren. Wenn erst mal die Gefährdung der sozialen Sicherheit der Union angerechnet wird, geht es mit der Freiheit auf dem Kontinent zu Ende.

Aquilinio Ribeiro, Deutschland 1920. Eine Reise von Portugal nach Berlin und Mecklenburg. Aus dem Portugiesischen, mit einem Vorwort und Anmerkungen versehen von Peter Hanenberg, Bremen (Atlantik Verlag) 1998 (192 S., 34,00 DM)

Herbert Marcuse, Feindanalysen. Über die Deutschen, hrsg. von Peter-Erwin Jansen und mit einer Einleitung von Detlev Clausen, Lüneburg (zu Klampen Verlag) 1998 (149 S., 24,00 DM)